Julian Nagelsmann als neuer Bundestrainer: Der bevorstehende Wechsel des früheren FCB-Coaches zum DFB aus drei Perspektiven

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Julian Nagelsmann hätte es sich deutlich einfacher machen können, die am Freitag bei einer Pressekonferenz des DFB wohl verkündet werdende Übernahme der Nationalmannschaft ist sehr riskant. Aus Sicht des DFB ist Nagelsmann natürlich eine sehr gute Wahl, obgleich nicht die mutigste. Bisher würde es somit nur einen uneingeschränkten Gewinner des Dreieckgeschäfts geben.

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Julian Nagelsmann
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Julian Nagelsmann geht mit seinem Wechsel zum DFB All-in

Keine Frage: Trotz des abrupten und unschönen Endes beim FC Bayern München ist Julian Nagelsmann ein sehr begabter Trainer, der das DFB-Team vielleicht sogar besser machen kann, als es ist. Nagelsmann dürfte in den vergangenen Monaten zudem auch für sich analysiert haben, wieso seine Zeit beim FCB jäh endete und welche Stellschrauben er vielleicht auch bei sich (zurück)drehen kann, um bei seiner nächsten Mammutaufgabe die Erwartungen erfüllen zu können. Man muss Nagelsmann zudem zugutehalten, dass er sich den DFB und diese Mannschaft antut. Man hätte selbst jemandem mit einem solch ausgeprägten Selbstbewusstsein wie Nagelsmann nicht verdenken können, wenn er dankend abgesagt hätte.

Denn die Mission Heim-EM 2024 birgt für Nagelsmann und seinen künftigen Karriereverlauf mehr Risiken als Chancen. Er hätte es sich deutlich einfacher machen können: Die Gefahr, dass sich der Kurzzeitjob beim DFB als Himmelfahrtskommando herausstellt und im totalen Desaster endet, ist groß.

Das größte Risiko dabei trägt nicht der deutsche Fußball, sondern Nagelsmann selbst. Der DFB muss ohnehin grundlegend reformiert werden, es braucht neue, schlankere Strukturen, weniger Vereinsmeierei und machtpolitische Ränkespielchen, mehr Effizienz, eine andere Art der Ausbildung und vieles mehr. Das kann bis zur EM nicht bewerkstelligt werden, und das verlangt auch niemand von Nagelsmann. Er ist jetzt nicht mehr als ein Deluxe-Feuerwehrmann, der zwar ein paar Monate Zeit hat für seinen Einsatz, seine Spieler in dieser Zeit aber kaum sehen wird und nur sehr wenig mit ihnen arbeiten kann.

Nagelsmann geht mit dieser Entscheidung für den DFB, die am Freitag um 12 Uhr auf einer Pressekonferenz wohl verkündet wird, das größtmögliche Risiko ein, er geht All-In. Wenn das DFB-Intermezzo im Desaster endet, wird er erst mal ordentlich Scherben aufkehren müssen, es dürfte Zeit dauern, bis sich die echten Spitzenklubs danach nochmal melden werden, wenn sie es überhaupt nochmal tun werden. Vielleicht würde er danach noch einmal eine Chance bekommen bei Bayer Leverkusen für die Zeit nach Xabi Alonso, vielleicht würde sich auch eine Tür in der saudischen Geld-Wüste auftun, aber PSG, der FC Chelsea oder gar Real Madrid würden sich so schnell wohl nicht mehr melden.

Julian Nagelsmann muss Verhältnis zu Manuel Neuer und Thomas Müller kitten

Sicher, für Trainer auf Nagelsmanns Niveau ist jede Karriereentscheidung riskant, auch der FC Chelsea, mit dem er praktisch unmittelbar nach seiner Freistellung beim FC Bayern recht ausführlich verhandelte, hätte ihm beruflich das Genick brechen können. Und wer weiß, ob er bei Tottenham oder PSG ähnliche Anfangserfolge gefeiert hätte, wie derzeit Ange Postecoglou oder Luis Enrique. Aber als Vereinstrainer erhält man in der Regel immerhin ein paar Chancen, bis das endgültige Urteil über einen gefällt wird, als Vereinstrainer hat man mehr Zeit, um Dinge wirklich zu verändern.

Bei der Nationalmannschaft ist es jetzt angesichts der kurzen Zeit und der wenigen Spiele bis zur EM sicherlich auf der einen Seite ein Vorteil, dass er mit vielen DFB-Spielern schon zusammengearbeitet hat. Andererseits ist Nagelsmanns Verhältnis zu einigen Spielern des FC Bayern mindestens belastet. Mit Manuel Neuer, dessen Vertrauten und Torwarttrainer Toni Tapalovic er einst vor die Tür setzte, müsste sich Nagelsmann zumindest länger aussprechen, sollte der Kapitän wieder rechtzeitig fit werden; die Frage, ob ein einigermaßen fitter Neuer für die EM nominiert werden soll, erhält durch die Vorgeschichte so oder so nochmal eine extra Portion Brisanz. In abgeschwächter Form gilt das auch für Thomas Müller.

Andererseits hat Nagelsmann schon ganz zu Beginn seiner Karriere bewiesen, dass er allen Widrigkeiten und Wahrscheinlichkeiten trotzen kann. Als er 28-jährig einst die TSG Hoffenheim auf Platz 17 übernahm, befanden sich Mannschaft und Klub komplett mit dem Rücken zur Wand. Der damals jüngste Trainer einer Profimannschaft führte die TSG souverän zum Klassenerhalt - mit begeisterndem Fußball. Nagelsmann kann auch kurzfristig für Erfolg sorgen, auch in Leipzig und beim FC Bayern spielten seine Mannschaften unmittelbar nach seiner Übernahme wie im Rausch. Das alles spricht für ihn.

Julian Nagelsmann konnte nicht mehr lange warten

Nicht überbewerten sollte man die Tatsache, dass Nagelsmann für den DFB auf viel Geld verzichtet soll. Sicher, Nagelsmann verdient künftig wohl weniger als beim FC Bayern München, von dem er sieben Millionen Euro für einen der stressigsten Fulltimejobs im Fußballgeschäft überhaupt erhalten haben soll. Nagelsmann wird auch weniger als sein Vorgänger beim DFB und zuvor beim FC Bayern, Hansi Flick, bekommen. Flick war bis zu Roberto Mancinis Wechsel nach Saudi-Arabien vor wenigen Wochen mit seinen 6,5 Millionen Euro Jahresgehalt der bestverdienende Nationaltrainer der Welt (und ist weiterhin der am zweitbesten verdienende, Flicks Vertrag beim DFB ruht ja genauso wie Nagelsmanns Vertrag mit dem FC Bayern bisher nur ruhte). Doch Nagelsmann soll mit seinem kolportierten Monatsgehalt beim DFB in Höhe von 400.000 Euro künftig etwa immer noch mehr als Didier Deschamps verdienen - der Weltmeistertrainer von 2018 soll 3,5 Millionen Euro im Jahr bekommen.

Zudem: Nagelsmann hatte alles Recht der Welt, sich nach seiner unerwarteten Freistellung vom FC Bayern München im März nicht sofort ins nächste Abenteuer zu stürzen. Der baldige EM-Rettungsbeauftragte schaffte sich gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin einen Hundewelpen an, kaufte sich einen Wüstenexpeditionstauglichen Wohnwagen, betrieb etwas aktive Erholung und führte mindestens Sondierungsgespräche mit dem FC Chelsea, Paris Saint-Germain und Tottenham Hotspur.

Doch seien wir ehrlich: Nagelsmann hätte seinen Vertrag beim FC Bayern - selbst wenn er das mit seinem Ehrgeiz unter einen Hut bekommen hätte - nicht bis zum Ende absitzen können. Und damit meine ich nicht nur bei anderen Klubs oder Verbänden, sondern eben auch beim morgendlichen Gang zum Bäcker. Irgendwann wäre die Stimmung gekippt, irgendwann hätte er das Raffzahn-Image gehabt. Allzu lange hätte Nagelsmann nicht mehr warten können bis zur nächsten Herausforderung. Und vor allem: Worauf hätte er warten sollen? Auf ein Angebot vom BVB im Winter? Auf eines von Real Madrid für den kommenden Sommer? Während Xabi Alonso Woche für Woche in der Bundesliga Bewerbungsvideos für sich produziert?

Also lieber alles wagen, mit dem DFB-Team das Unmögliche möglich machen und danach die freie Wahl haben. Oder auch nicht.

Louis van Gaal
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Julian Nagelsmann wird wohl neuer Bundestrainer: Der DFB hätte noch mutiger sein können

Erstmal: Man muss dem DFB und seinen Verhandlern gratulieren, dass sie sich nach der Freistellung von Hansi Flick erstmal nur zu einer Neunmonatslösung durchgerungen haben - und diese auch durchsetzten. Jetzt erstmal nur einen Bundestrainer für die EM zu verpflichten und diesen nicht mit einem Vertrag bis 2026 oder noch länger auszustatten, war in der Theorie schon die dritte richtige Personalentscheidung beim DFB hintereinander nach der freilich drei Monate zu spät erfolgten Freistellung von Hansi Flick und der zwar kontroversen, aber erfrischend mutigen Berufung des Anti-Bierhoffs Andreas Rettig zum Geschäftsführer.

Der DFB und seine Entscheider haben sich in allen drei Fällen gegen eine bequemere, besitzstandswahrendere und DFB-typische Lösung entschieden: Flick blieb nicht im Amt, sein Nachfolger wurde nicht Rudi Völler oder Stefan Kuntz, Geschäftsführer wurde kein Mann von Karl-Heinz Rummenigges oder Oliver Mintzlaffs Gnaden.

Der DFB kann also auch anders, der DFB kann auch innovativ, der DFB kann auch mutig.

Zumindest ein bisschen. Denn wirklich ideal wurde keine der drei Baustellen gelöst. Richtig konsequent, richtig mutig wäre nämlich gewesen, Flick bereits im Juni freizustellen; dann wären auch die Erfolgsaussichten eines Projekttrainers für die Heim-EM wesentlich vielversprechender gewesen. Klar, mit drei Monaten mehr hätte sich der Trainer auch keinen Mittelstürmer von Weltformat und bessere Außenverteidiger backen können, aber es wäre mehr Zeit gewesen, um die richtigen Strategien und Taktiken für die vorhandenen Spieler zu finden und diese auch trainieren und einspielen zu lassen.

DFB: Wieso nicht eine Frau?

Richtig wegweisend und innovativ wäre gewesen, wenn die neue Geschäftsführung des größten Sportverbandes der Welt ab sofort von einer Frau bekleidet worden wäre und nicht von Andreas Rettig. Der ist zwar immerhin ein leidenschaftlicher und glaubwürdiger Kämpfer gegen jegliche Form der Diskriminierung, verfügt noch dazu über den richtigen Wertekompass, viel Humor und ist ein Versteher der Kurve. Aber er bleibt eben trotzdem ein Mann, der ein bisschen zu oft um des Anecken willens aneckt. Zur Wahrheit gehört hier freilich, dass der DFB ernsthaft mit der früheren Nationalspielerin und Weltfußballerin Nadine Kessler verhandelte und sie sich am Ende dazu entschied, bei der UEFA zu bleiben. Und doch hätte man dem DFB bei den Verhandlungen mit Kessler mehr Vehemenz und größeren Erfolg gewünscht.

Auch bei der Wahl des EM-Trainers wäre noch mehr Mut wünschenswert gewesen. Julian Nagelsmann zum Neunmonatsjob überredet zu haben, ist zweifellos ein Coup. Ein viel größerer wäre es aber gewesen, Louis van Gaal mit der Aufgabe zu betrauen.

Van Gaal könnte zwar der Trainer im Weltfußball sein, der den wenigsten Widerspruch duldet von Menschen, die seiner Meinung nach weniger Ahnung vom Fußball haben als Louis van Gaal. Also praktisch von allen. Erst recht duldet van Gaal keinerlei Einmischung in sportliche Angelegenheiten von Funktionären und Vorgesetzten. Frag nach bei Uli Hoeneß. Die DFB-Granden hätten sich in den neun Monaten bis zur EM also darauf einstellen müssen, sich einige Male mindestens auf die Zunge beißen und Ärger runterschlucken zu müssen. Aber im Gegenzug hätten sie nicht nur einen großartigen Trainer bekommen, der nebenbei noch amüsantere Pointen auf Lager hat als Julian Nagelsmann. Sondern eben auch einen Coach, der wie kein Zweiter die Aufmerksamkeit auf sich gezogen und damit den Druck von den Schultern einer extrem verunsicherten Mannschaft genommen hätte.

DFB: Diese Vorteile hätte Louis van Gaal gehabt

Wenn die DFB-Elf bei der Heim-EM überhaupt eine Chance haben möchte, dann muss sie sich natürlich als Mannschaft finden und ähnlich wie die siegreichen italienischen Mannschaften bei der WM 2006 und der EM 2021 eine gewisse Wagenburg-Mentalität, ein Gefühl des "wir gegen den Rest der Welt" entwickeln. Ein Trainer wie van Gaal, der zwar bis an die Schmerzgrenze eitel, aber nullkommanull gefallsüchtig ist und kein Problem damit hätte, die volle Verantwortung für ein etwaiges Scheitern zu übernehmen und gleichzeitig die Größe hätte, im Moment des Erfolgs auch andere glänzen zu lassen, wäre dafür ideal.

Dazu kommt: Van Gaal hat bewiesen, dass er zuvor erfolglose Nationalmannschaften bei Turnieren zum Erfolg führen kann, 2014 führte er die Niederlande, zuvor bei der EM 2012 unter Bert van Marwijk in der Vorrunde ausgeschieden, auf Platz drei bei der WM; in Katar schied die Elftal nach dem spektakulärsten und besten Spiel der gesamten WM im Viertelfinale im Elfmeterschießen gegen Argentinien aus.

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Der FC Bayern München wäre der einzige uneingeschränkte Gewinner des Dreieckgeschäfts

Sicher, der FC Bayern München leistet durchaus seinen Teil zu diesem Geschäft: Schon zum zweiten Mal hintereinander lässt der deutsche Rekordmeister wohl einen Trainer mit laufendem Vertrag ablösefrei zum DFB ziehen. Doch selbstlos wäre das im Fall von Julian Nagelsmann natürlich nicht: Zusammen mit Chelsea-Missverständnis Graham Potter gehörte Nagelsmann seit dem Frühjahr zu den teuersten angestellten, aber aktuell nicht arbeitenden Trainern im Weltfußball. Weil Nagelsmanns dann aufgelöster Vertrag noch bis 2026 gelaufen wäre, hätten ihm noch rund 20 Millionen Euro Gehalt zugestanden - oder eine nicht deutlich geringere Abfindung.

Dass der FCB nun wohl auf die vom kicker kolportierte Ablöseforderung in Höhe von zehn Millionen Euro verzichtet, die man von rivalisierenden Klubs verlangt hätte, mag man als großzügigen Beitrag für den deutschen Fußball bezeichnen können, ist aber in erster Linie natürlich wirtschaftlich vernünftig. Wer weiß schon, wann Nagelsmann sonst - und unter welchen Konditionen - von der Payroll gekommen wäre? Dass Bayern womöglich, wie Bild berichtet, sich doch auf eine Abschlagszahlung von 1 - 1,5 Millionen Euro für Nagelsmann eingelassen hat, ändert nichts an der Tatsache, dass der deutsche Rekordmeister immer noch viel Geld spart. Und natürlich erneut einen großen Beitrag für den deutschen Fußball geleistet haben wird.

Das wird den FC Bayern aller Voraussicht nach zum einzigen sicheren Gewinner dieses Dreiecksgeschäfts machen.

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