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NBA - Oral History über den kometenhaften Aufstieg von Jeremy Lin: Wie Linsanity die Welt eroberte

"Linsanity? Wovon redet ihr?" Kobe Bryant sollte es am eigenen Leib erfahren.
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Aus der Anonymität einer fast gescheiterten NBA-Karriere hat sich Jeremy Lin vor zehn Jahren kurzzeitig in den Basketball-Olymp katapultiert. Linsanity wurde quasi über Nacht zum weltweiten Phänomen. Bei SPOX erzählen ehemalige Teamkollegen, Coaches und Wegbegleiter, wie es dazu kam.

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Dieser Artikel erschien erstmals am 21. September 2022.

Linsanity - drei Wochen purer Wahnsinn, der nicht nur eine ganze Metropole, sondern eine ganze Nation, ja fast die ganze Sportwelt in ihren Bann riss. Anfang Februar 2012 war der Name Jeremy Lin wohl selbst den größten NBA-Nerds weitestgehend fremd. Das sollte sich schnell ändern.

Im Sturm eroberte der heute 34-Jährige die NBA, innerhalb weniger Tage wurde er zur neuen Sensation im Basketball-Universum. Nach ein paar Kurzeinsätzen zum Start in die Saison 2011/12, die sich an einer Hand abzählen ließen, explodierte Lin auf einmal im legendären Madison Square Garden.

Vom (fast) gescheiterten Talent zum Superstar, der allen Widrigkeiten trotzte, gegen Rassismus sowie Klischees ankämpfte und schließlich als erster US-amerikanischer NBA-Star mit taiwanesischer oder chinesischer Herkunft den Big Apple in einen Rausch versetzte - bevor seine Karriere doch wieder einen brutalen Knacks bekam.

Willkommen zu den vielleicht "magischsten" drei Wochen in der Geschichte der New York Knicks. Willkommen zur Oral History von Linsanity.

Im Februar 2012 steig Jeremy Lin vom unbekannten Knicks-Guard zum gefeierten Helden auf.
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Jeremy Lin: Die holprigen Anfänge eines späteren Superstars

Frank Chi (Regisseur der Linsanity-Doku "38 At The Garden", Veröffentlichung im Oktober): Ich bin ein riesiger Fan von College-Basketball, da hatte ich tatsächlich meine ersten Berührungspunkte mit Jeremy Lin. Ich bin in Connecticut aufgewachsen, UConn Basketball ist dort so etwas wie eine Religion. Jeremys Namen habe ich erstmals gehört, als UConn gegen Harvard gespielt hat, das muss in der Saison 2009/10 gewesen sein.

Landry Fields (ehemaliger Mitspieler von Lin bei den Knicks, heute GM der Hawks): Ich habe ihn schon vor unserer gemeinsamen Zeit in der NBA getroffen, als ich am College war. Ich habe für Stanford gespielt, er war bei Harvard. Bei einem Besuch in der Heimat - er wuchs nur einen Steinwurf von Stanford entfernt auf - hat er bei uns trainiert und ich dachte nur: "Warum wurde der Typ nicht von uns rekrutiert?" Das ist ein Teufelskerl.

Frank Chi: Als High Schooler schaffte er es ins All-State Team in Kalifornien, er gewann die California Division II Championship. Aber er musste DVDs mit seinen Highlights durch das ganze Land schicken, in der Hoffnung, dass überhaupt irgendein College auf ihn aufmerksam wird. Ein Angebot für ein Stipendium bekam er aber nicht. Das ist ein erster Hinweis auf die vielen Klischees, gegen die Jeremy ankämpfen musste. Das war wie eine Mauer aus Stereotypen.

Evan Jackson Leong (Regisseur der Doku "Linsanity", erschienen 2013): Ich bin ein Asian American sechster Generation, aufgewachsen genau wie Jeremy in der Bay Area. Er wollte unbedingt nach Stanford, quasi einmal die Straße rüber von seiner High School. Eigentlich hätten sie ihn nach all seinen Erfolgen an der High School kennen müssen. Wenn er schwarz oder weiß gewesen wäre, hätten sie ihn vermutlich anders gescoutet. Aber er hat einfach nicht in das typische Bild eines Basketballspielers gepasst.

Frank Chi: Er landete letztlich in Harvard, von denen niemand erwartet, ein gutes Basketball-Team zu stellen. Wir hatten damals dagegen ein ziemlich gutes Team mit Kemba Walker. Und da steht also dieser Junge mit asiatischen Wurzeln auf dem Court, schenkt UConn 30 Punkte ein und hämmert zwei Dunks durch die Reuse - sowas hatte ich noch nie gesehen. Ich dachte mir nur: Wer zur Hölle ist das?

Dan D'Antoni (ehemaliger Assistant Coach bei den Knicks, heute Head Coach der Marshall University): Ich dachte, er wäre Asiate. Ich hatte keine Ahnung, dass er aus Kalifornien stammt, so unbekannt war er damals.

Tommy Amaker (Lins ehemaliger Harvard-Coach): Jeremy war ein wichtiger Treiber hinter dem Wachstum unseres Programms. Während seiner Zeit in Harvard hat er gewaltige Fortschritte in seinem Spiel gemacht. Wir waren uns sicher, dass in ihm ein zukünftiger Profi-Basketballer steckt. Aber wir wussten nicht, ob er in der NBA eine Chance bekommen würde.

Frank Chi: In seinen vier Jahren am College wurde er dreimal ins All-Ivy League Team gewählt, in seiner Junior-Saison legte er knapp 18 Punkte pro Spiel auf. Vor dem NBA Draft 2010 war er sich sicher, dass er in den Workouts überzeugt hatte.

Daryl Morey (Rockets-GM, im Buch "The Undoing Project" von Michael Lewis): Unser Analyse-Tool war begeistert von ihm. Es spuckte aus, dass wir ihn an Position 15 oder so hätten picken sollen.

Frank Chi: Aber am Draft-Abend geht er leer aus. Schaut Euch die Scouting Reports auf den einschlägigen Draft-Seiten nochmal an, fast jeder Punkt ist ein Klischee über Asiaten. Das meiste davon traf aber gar nicht auf Jeremys Spiel zu.

Daryl Morey: Er ist unglaublich athletisch. Aber die Realität ist, dass jede verdammte Person - inklusive mir - dachte, dass er unathletisch sei. Und als einziger Grund dafür fällt mir nur sein asiatisches Aussehen ein.

Frank Chi: Daran sieht man sehr gut, was die Gesellschaft einen glauben lassen will, wenn man einen Spieler mit asiatischer Herkunft sieht. Jeder Asian American hat eine Mauer aus Klischees vor sich. Wir alle schauen nach Rissen in dieser Mauer, gegen die man hämmern und hämmern kann, bis die Mauer zerbricht. Für mich ist Jeremys Story das beste Beispiel dafür, was passieren kann, wenn man immer weiter mit einem Hammer auf diese Mauer der Klischees einschlägt.

Jeremy Lin wird im Februar 2012 von den Fans im MSG frenetisch gefeiert.
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Jeremy Lin: Es braucht nur eine Chance ...

Nicht nur an der High School, am College oder im Draft wurde Lin übersehen. Dieses Schicksal zog sich wie ein roter Faden durch den Start seiner Basketball-Karriere. Eine starke Summer League im Mavs-Trikot 2010 brachte ihm immerhin einen Vertrag bei den Golden State Warriors ein, allerdings schickten die ihren Hometown-Hero - Lin wuchs in der Bay Area, genauer gesagt in Palo Alto auf - während seiner Rookie-Saison gleich dreimal in die D-League.

In der darauffolgenden Offseason, durch den Lockout künstlich verlängert, wurde er von den Dubs entlassen. Lin unterschrieb bei den Rockets, die den Vertrag nach nur zwölf Tagen ebenfalls wieder auflösten. Und so landete Lin schließlich in New York City bei Head Coach Mike D'Antoni und seinem Staff um Bruder Dan ...

Dan D'Antoni: In unserer Beweglichkeitstests, wo es um Geschwindigkeit, Reaktionszeit, den ersten Schritt und sowas geht, schnitt er wahnsinnig gut ab. Seine laterale Beweglichkeit, seine Starts und Stopps in diesen Drills waren schneller als alles, was unsere Trainer jemals gesehen hatten. Er war zunächst als Backup eingeplant, als wir ihn verpflichteten. Kenny Atkinson, mein Bruder Mike und ich haben im Training viel mit ihm gearbeitet. Er hat anfangs nicht viel gespielt.

Frank Chi: Jeremy wusste, dass er sich diese Chance bei den Knicks nicht entgehen lassen durfte, wenn er weiter in der NBA spielen wollte.

Evan Jackson Leong: Wir arbeiteten schon zwei, drei Jahre an der Dokumentation, wir haben ihn seit dem College begleitet. Aber es war noch nicht wirklich was passiert. Wir hatten ein paar Aufnahmen, ein paar Ideen, aber keine Ahnung, wie das Ende des Films aussehen sollte. Das sollten wir in New York bekommen.

Dan D'Antoni: Dann hat sich Baron Davis verletzt. Wir suchten nach einem Ersatz, Mike wusste nicht, was er tun sollte. Kenny und ich meinten nur: "Du musst Jeremy eine Chance geben." Wir brachten ihm in etwa einer Woche bei, wie er das Pick'n'Roll in unserem System laufen muss. Mike hatte nicht viele Optionen, also entschieden wir, ihn ins kalte Wasser zu werfen.

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Linsanity: Wie ein kleiner Guard die ganze NBA-Welt eroberte

Der 4. Februar 2012. Am Abend zuvor stand Lin ganze sechseinhalb Minuten beim Auswärtsspiel gegen die Celtics auf dem Court. Für New York war es die elfte Pleite aus 13 Spielen, die Knicks standen gewaltig unter Druck. Genau wie Lin, der um seine Karriere bangte.

Dieser 4. Februar änderte jedoch alles. Lin kam von der Bank, schenkte den New Jersey Nets im MSG 25 Punkte bei 10/19 aus dem Feld und 7 Assists ein. Der Auftakt einer unglaublichen Serie.

Landry Fields: Wir hatten ein Back-to-Back. Als wir aus Boston zurück in New York gelandet sind, hat mich Jeremy gefragt, ob er bei mir schlafen könne. Eigentlich wohnte er zu der Zeit bei seinem Bruder, aber an dem Abend konnte er dort nicht unterkommen. Deshalb ist er bei mir gelandet, mehr als meine Couch konnte ich ihm aber nicht anbieten.

Jeremy Lin (im Interview mit The Ringer, 2022): Ich stand mit dem Rücken zur Wand. Mein Agent hat mich angerufen und gesagt: "Wenn du nicht gut spielst, dann wird das wahrscheinlich dein letztes Spiel in der NBA sein."

Landry Fields: Ich kann mich noch gut an das Nets-Spiel erinnern. Er kam in die Partie, startete mit ein paar guten Plays und hat dann nicht mehr aufgehört. Das war ein echtes Spektakel - und es hat uns alle überrascht. Wir wussten, dass er ein guter Spieler ist, aber das auch in einem richtigen NBA-Spiel zu sehen, war nochmal etwas Anderes.

Dan D'Antoni: Er hat Würfe getroffen, von denen wir nicht dachten, dass er sie versenken könnte. Er hat den Ring attackiert, hat seine Mitspieler in Szene gesetzt und er hat mit der Pace gespielt, die in Mikes Offensiv-System so wichtig ist. Als wir angefangen haben, mit ihm zu arbeiten, hatte ich schon das Gefühl, dass er ein guter Spieler sein kann. Aber er hat sich nochmal auf ein ganz anderes Level katapultiert.

Landry Fields: Das Thema mit der Couch habe ich im Nachgang verpatzt. Damals hatte ich in meiner Wohnung nur Leihmöbel und ich habe sie alle zurückgegeben. Ich hätte sie der Firma abkaufen und als Souvenir behalten sollen. Vielleicht wäre das auch ein gutes Investment gewesen, da habe ich nicht mitgedacht. (lacht)

Frank Chi: Die einzigen asiatisch-stämmigen Spieler in der NBA waren bis zu diesem Zeitpunkt riesige Chinesen wie Yao Ming, damit kann man sich als normaler Asian American schwer identifizieren. Jeremy ist dagegen nur acht Zentimeter größer als ich. Ich wünschte mir natürlich, dass er Erfolg hat, aber ich habe es nicht erwartet. Dann ging Linsanity los ... ich habe komplett den Verstand verloren.

Linsanity in New York: Eine "magische Zeit"

Damit war Chi nicht alleine. Der neue Knicks-Held ließ im nächsten Spiel gegen die Jazz 28 Punkte und 8 Assists folgen, dann 23 und 10 gegen die Wizards (plus ein Highlight-Dunk), bevor Linsanity seinen Höhepunkt erreichte: Kobe Bryant und die Lakers waren im Madison Square Garden zu Gast, doch Lin blieb die wichtigste Story der Liga. 38 Lin-Zähler später feierten die Knicks den nächsten Sieg.

Der damals 23-Jährige führte New York zu sieben Erfolgen in Serie, obwohl die eigentlichen Superstars Carmelo Anthony und Amar'e Stoudemire in dieser Saisonphase mehrere Partien verpassten. Von den Fans im heimischen MSG erhielt er MVP-Rufe, am Valentinstag versenkte Lin die Raptors mit einem Gamewinner von Downtown. Insgesamt gewannen die Knicks zehn ihrer nächsten 13 Spiele, in denen Lin 22,3 Punkte und 9 Assists im Schnitt bei 47,9 Prozent aus dem Feld auflegte.

Evan Jackson Leong: Ich kann mich noch gut an den Tag vor dem Lakers-Spiel erinnern. Ich saß auf seiner Couch - auf der er normalerweise schlief - und filmte diesen ganz normalen Jungen, wie er seine Wäsche machte. Einen Tag, bevor er gegen Kobe spielen sollte.

Kobe Bryant (Lakers-Legende, auf einer Pressekonferenz vor dem Duell mit den Knicks): Linsanity? Ich habe keine Ahnung, wovon ihr redet. Ich kenne ihn, aber ich habe nicht wirklich verfolgt, was mit den Knicks passiert oder was er so macht. Ich werde mir heute mal ein paar Clips anschauen.

Jeremy Lin (im Interview mit ESPN Daily, 2020): Ich habe das Kobe-Interview im Taxi vor dem Spiel gesehen. Also habe ich mir gedacht, ich werde heute extra aggressiv spielen. Wenn ich Platz habe, drücke ich ab. Wenn sie mich eng verteidigen, ziehe ich zum Korb.

"Linsanity? Wovon redet ihr?" Kobe Bryant sollte es am eigenen Leib erfahren.
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Frank Chi: Als Jeremy 38 Punkte gegen die Lakers erzielt hat, lebte ich in Washington D.C. Ich bin mit dem Zug nach New York gefahren und wollte in den Garden kommen, aber das war viel zu teuer. Auf dem Schwarzmarkt wurden die Tickets für 700 Dollar gehandelt. Das war einfach absurd.

Dan D'Antoni: Die Spiele gegen die Nets und Lakers gehören auf jeden Fall zu den Highlights von Linsanity. Dazu kommen aber auch noch jede Menge Clutch-Shots. Auf mentaler Ebene war er richtig gut.

Frank Chi: Ich war in meinen Mittzwanzigern und hatte kein Geld. Ich habe das Lakers-Spiel also in einer Bar in Koreatown geschaut, der Laden war voll mit Asiaten. Zweieinhalb Stunden lang sind die Leute komplett ausgerastet, genau wie ich. Sie sind in der Bar herumgerannt, haben geschrien, geweint. Wir alle haben einen Menschen gesehen, dem kaum jemand den Sprung in die NBA zugetraut hätte. Und da spielt er gegen Kobe und die Lakers. Und er schenkt ihnen 38 Punkte im Madison Square Garden ein.

Mike Breen (Knicks-Kommentator im Interview mit ESPN Daily, 2022): Die beste Zeit als Kommentator hatte ich während diesen drei Wochen Linsanity. Das war eine magische Zeit als Kommentator, als Knicks-Fan und als NBA-Fan. Er stieg schlagartig zum beliebtesten Sportler nicht nur in diesem Land, sondern in der ganzen Welt auf.

Frank Chi: Die zwei magischsten Momente in meinem Leben. Nummer eins: Barack Obama wird Präsident der Vereinigten Staaten. Nummer zwei: Linsanity und besonders die 38 Punkte im Garden. Dieser Abend war pure Magie.

Das "Mekka des Basketballs" rastet aus: Jeremy Lin im Madison Square Garden
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Die Höhepunkte von Linsanity: Buzzerbeater und Kobe-Schreck

Dan D'Antoni: In diesen paar Wochen war er der beste Spieler der Liga. Dass es so weit kommt, habe ich natürlich nicht gedacht. (lacht). Das war eine lustige Zeit.

Tommy Amaker: Wir alle brauchen ein wenig Glück und gutes Timing. Beim Start von Linsanity sind verschiedene Faktoren zusammengekommen - der Lockout, viele Verletzungen, dass die Knicks nicht gut gespielt haben. All das hat Jeremy diese Chance eröffnet und er war bereit, sie zu nutzen.

Landry Fields: Mein persönliches Highlight ist das Spiel gegen Toronto, als er den Gamewinner traf. Ich stand in der Ecke und Tyson Chandler wollte einen Screen stellen. Jeremy winkte ihn einfach nur weg. In dem Moment dachte ich: Keine Chance, dass dieser Ball nicht drin ist. So wie die Story bis zu diesem Punkt verlief ... dieser Wurf musste einfach reingehen.

Mike Breen (via ESPN Daily, 2022): Wir waren in Toronto und spielten gegen die Raptors. Bei der Vorstellung der Starting Lineups habe ich noch nie einen lauteren Jubel für einen Spieler des Gästeteams gehört.

Evan Jackson Leong: Das ganze Spiel über waren die Knicks am Verlieren. Es wurde immer enger und enger und dann kontrollierte Jeremy das Ende der Partie. Er hat ein Clutch-Gen, das man einfach nicht erlernen kann.

Mike Breen (via ESPN Daily, 2022): Natürlich wurde das Spiel erst mit dem letzten Wurf entschieden und natürlich versenkte er den Dreier zum Sieg.

"Lin puts it up ... Bang! Jeremy Lin from Downtown and the Knicks take the lead. Linsanity continues."

Linsanity erobert New York: "Ganze Stadt hinter sich vereint

Dan D'Antoni: Linsanity war einer der Höhepunkte meiner Karriere als Assistant Coach in der NBA. Die Liga lebt von ihrer Star-Power und wenn du einen aufstrebenden Underdog hast, dann ist die Geschichte umso besser. Dadurch entsteht eine Begeisterung, die man nicht künstlich schaffen kann.

Landry Fields: Die Stimmung in der Stadt war einfach geil. Wenn die Knicks erfolgreich sind, dann ist ganz New York elektrisiert. Jeremy war ein Star unter den Stars, auf den Straßen wurde er gefeiert, jeder war Feuer und Flamme für die Knicks. Jeder erinnert sich daran, wo er war, als Linsanity über die Stadt rollte.

Dan D'Antoni: Egal, ob man verliert oder gewinnt, es ist immer etwas ganz Besonderes, in New York zu spielen. Dort herrscht eine ganz besondere Aura aufgrund der Fans, der ikonischen Kulisse im Madison Square Garden. Kurz gesagt, es ist eine riesige Show, was aber auch den Druck auf die Spieler erhöht. Es ist schwer, sich in New York durchzusetzen, aber wenn man mal einen Lauf hat wie Jeremy, dann kannst du diese Energie in der ganzen Stadt und im Garden spüren.

Jeremy Lin (im Interview mit SPOX): Eine Woche zuvor konnte ich hingehen, wohin ich wollte. Aber auf einmal warteten überall Paparazzi, selbst vor der Wohnung meiner Oma. Manche Leute versteckten sich in Büschen, sprangen heraus und packten mich, um ein Foto zu machen. Andere fanden irgendwie meine Adresse heraus, klingelten bei mir und stellten ihren Fuß in die Tür, als ich sie schließen wollte. Das war verrückt. So toll die Zeit auch war auf dem Court, abseits davon war es beängstigend.

Evan Jackson Leong: New York City war komplett verrückt. Ich als Asiate konnte durch die Straßen laufen und wildfremde Menschen haben mir High Fives gegeben nach dem Motto: "Jeremy, das ist dein Junge." Das war das erste Mal, dass ein Asian American solch ein Niveau auf solch einer Bühne erreicht hatte.

Dan D'Antoni: Auf dem nationalen Level hat es den Hype nochmal vergrößert, da es nun mal New York City war. Wenn Linsanity in Phoenix oder Oklahoma City passiert wäre, dann wäre die Region auch ausgerastet. Aber da es sich um New York City handelte, hat sich der Hype schneller und intensiver in der ganzen Nation ausgebreitet.

Landry Fields: New York City ist definitiv ein Faktor bei Linsanity. Das macht es einfach nochmal ein Stück weit bedeutsamer. New York ist ein Schmelztiegel von verschiedenen Kulturen und Ethnien und da ist ein Mann, der die gesamte Stadt trotz all der unterschiedlichen Menschen hinter sich vereint.

Frank Chi: Der wichtigste Grund für diesen immensen Hype war, dass ein Typ mit einem asiatischen Gesicht - der eben nicht 2,13 Meter groß ist - gefühlt 30 Punkte pro Spiel auflegt und jeder sich fragt: Was passiert hier gerade? Klar, New York ist ein Faktor, die Knicks sind ein Faktor, das Timing ist ein Faktor, dass nach dem Super Bowl - den auch noch die New York Giants gewonnen haben - in der Sportwelt nicht viel los war. Aber Linsanity wurde zu einer so großen Story wegen seiner Herkunft.

Jeremy Lin stieg in Windeseile zum Liebling der Fans auf - doch vor 2012 machte einige harte Jahre durch.
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Jeremy Lin: Linsanity hat gezeigt, dass "alles möglich ist"

Jeremy Lin: Je älter ich werde, desto mehr realisiere ich: Bei Linsanity ging es nicht nur um Basketball. Es ging um etwas so viel Größeres. Selbst heute, zehn Jahre später, spielt es für viele Menschen noch eine große Rolle, was damals passiert ist. Fans sprechen mich immer noch darauf an. Früher mochte ich nicht einmal den Begriff Linsanity, aber mittlerweile weiß ich es zu schätzen, dass viele Menschen daraus Inspiration ziehen.

Tommy Amaker: Er wurde zu einer globalen Ikone. Jeremy hat eine echte Leidenschaft für Basketball, er wollte unbedingt so weit kommen wie möglich. Dafür musste er extrem hart arbeiten, aber er hat es geschafft. Mit seiner Geschichte und seiner Reise hat er viele Menschen inspiriert.

Frank Chi: Manchmal ist es so einfach: Sehen ist glauben. Wenn ich heute mit Menschen spreche, die damals Teenager oder noch Kinder waren ... sie spielen heute Basketball, weil sie Jeremy Lin gesehen haben. Er hat bewiesen: Wirklich alles ist möglich. Er hat die Denkweisen vieler Kinder verändert, wie sie sich selbst sehen, was sie denken, was möglich ist. Auf Kinder muss das einen unfassbaren Einfluss gehabt haben. Wir alle warten auf den Moment, wenn wir mal in unser eigenes Nets-Spiel eingewechselt werden. Wenn wir einfach nur beweisen können, wer wir sind.

Evan Jackson Leong: Als ich aufwuchs, waren meine Helden Arnold Schwarzenegger und Tupac, sie waren schwarz und weiß, sie sahen anders aus. Heute sehen junge Asian Americans Jeremy und denken sich: Ich kann mir alle meine Träume erfüllen. Er hat ihnen Türen geöffnet.

Jeremy Lin: Ich durfte Asian Americans weltweit vertreten und inspirieren, diesen Teil der Geschichte würde ich niemals ändern wollen. Früher bin ich davor weggelaufen, weil ich nicht als Basketballer mit asiatischer Herkunft angesehen werden wollte, sondern einfach nur als großartiger Basketballer. Im Laufe der Zeit musste ich aber feststellen, wie viel Rassismus und Ungerechtigkeit es in dieser Welt gibt.

Frank Chi: Hat sich nachhaltig etwas verändert in der Gesellschaft? Ich wünschte, eine Person hätte die Macht dazu. Aber das hat noch nicht einmal Präsident Obama geschafft. Das braucht eine sehr lange Zeit. Klischees und Rassismus gegen Asian Americans gibt es auch heute noch, in den vergangenen Jahren hat sich das während der Pandemie sogar nochmal verstärkt. Deshalb ist dieses Thema so wichtig.

Hinter den Kulissen soll nicht jeder Teamkollege begeistert gewesen sein, dass Jeremy Lin so viel Scheinwerferlicht bekam.
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Das Ende von Linsanity: "Nicht jeder war ein Fan von ihm"

Doch selbst beim sportlichen Aspekt von Linsanity waren nicht alle Beteiligten vollends begeistert vom aufstrebenden Superstar. Head Coach Mike D'Antoni berichtete Jahre später von einem gewissen Groll mancher Starspieler gegenüber Lin. Vor allem Melo soll mit dem vielen Scheinwerferlicht für seinen Teamkollegen nicht besonders glücklich gewesen sein.

Amar'e Stoudemire (ehemaliger Knicks-Star auf einer Pressekonferenz 2016): Nicht jeder war ein Fan davon, dass Lin der neue Star war. Aber Jeremy war ein großartiger Teamkollege. Er hat hart gearbeitet und wir sind stolz darauf, dass er seinen Moment hatte. Manchmal musst du einfach den Erfolg eines anderen genießen, das war bei uns aber nicht immer der Fall.

Landry Fields: Bei den Starspielern gab es vielleicht innerlich ein bisschen Unmut gegenüber Jeremy. Aber das wurde nie wirklich zum Ausdruck gebracht, zumindest habe ich das nie mitbekommen. Vielleicht hat Coach D'Antoni das anders wahrgenommen.

Dan D'Antoni: Die Stars des Teams hätten nicht zugelassen, dass es so weitergeht. Welche Gründe auch immer da eine Rolle gespielt haben. [Als Anthony zurückkam] mussten wir unseren Spielstil anpassen und dieser Spielstil hat nicht so gut zu Jeremy gepasst. Das ist der Schlüssel. Wenn Jeremy dieses System läuft, das Mike mit Steve Nash in die NBA gebracht hat, dann ist er ein Topspieler. Wenn man ihm das aber wegnimmt, dann ist er es nicht mehr.

Letztlich ebbte Linsanity genauso schnell ab, wie sie kam. Nach der Erfolgsserie folgten sechs Pleiten in Folge, die D'Antonis nahmen ihren Hut, Mike Woodson übernahm als Head Coach.

Dan D'Antoni: Das war Mikes Entscheidung, ich bin ja quasi nur der Anhang. Er weiß immer ganz genau, wo sich Erfolg einstellen kann und wo nicht. Und wenn er keine Erfolgsaussichten sieht, dann sucht er eine neue Herausforderung. Er konnte den Knicks nicht mehr helfen, so wie dort Basketball gespielt werden sollte. Eines ist klar: In der NBA müssen Teambesitzer, General Manager, Head Coach und Starspieler auf einer Wellenlänge sein, damit eine Franchise Erfolg haben kann. Er hatte nicht das Gefühl, dass das in New York der Fall war.

Jeremy Lin: Seine Karrierestatistiken in der NBA

TeamSaisonsG / MINPunkteAssistsReboundsFG%3FG%
Warriors129 / 9,82,61,41,238,920,0
Knicks135 / 26,914,66,23,144,632,0
Rockets2153 / 30,713,05,22,844,334,8
Lakers174 / 25,811,24,62,642,436,9
Hornets178 / 26,311,73,03,241,233,6
Nets237 / 24,514,65,13,643,737,3
Hawks0,551 / 19,710,73,52,346,633,3
Raptors0,523 / 18,87,02,22,637,420,0
Gesamt9480 / 25,511,64,32,843,334,2

Linsanity in New York: "Für mich ist das ein Sieg für Jeremy"

Kurz darauf beendete ein Meniskusriss Lins Saison. Zwar retteten sich die Knicks in die Playoffs, dort kassierten sie aber eine 1-4-Pleite in der ersten Runde gegen den späteren Champion aus Miami. Lin hatte da bereits sein letztes Spiel im Trikot der Knicks absolviert, das wusste zu dem Zeitpunkt aber noch niemand. Der Restricted Free Agent unterschrieb im Sommer ein lukratives Angebot von den Rockets (3 Jahre, 25,1 Millionen Dollar - Zitat Melo: "Lächerlich"), das die Knicks nicht mitgingen.

In Houston lebte Lin allerdings im Schatten des wenig später per Trade verpflichteten James Harden. Nach zwei Jahren ging es weiter zu den Lakers, später hatte er noch gute Jahre bei den Hornets und Nets, bevor ein Patellasehnenriss seine Laufbahn ins Wanken brachte.

Dan D'Antoni: Er musste in einem System wie dem unseren spielen, um wirklich zu funktionieren. Und er musste den Ball viel in den Händen halten. Du musst ihm den Ball geben und ihm das Team überlassen. Wenn das der Fall gewesen wäre, hätte er eine längere und bessere NBA-Karriere hingelegt. Wenn du das nicht machst, dann bin ich mir nicht sicher, wie gut er noch ist.

Landry Fields: Man kann nur spekulieren, warum es anschließend nicht mehr geklappt hat. Wenn man das Team wechselt, dann ändern sich auch das Spielsystem und die Dynamik. In New York hatten wir eine perfekte Umgebung für einen Spieler wie Jeremy. Wenn sich diese Variablen aber verändern, dann klappt es vielleicht nicht mehr so gut.

Frank Chi: Er hatte noch ein paar großartige Jahre mit den Hornets und Nets, bevor ihm Verletzungen zu schaffen machten. Zwar hat er nicht über seine komplette Laufbahn 25 Punkte pro Spiel aufgelegt, man muss sich seine Karriere aber als Ganzes anschauen. Es ging los an dem Punkt: Hey, wenn du heute nicht gegen die Nets performst, dann wirst du entlassen. Und es endete bei einer neunjährigen NBA-Karriere. Für mich ist das ein Sieg für Jeremy.

Nach der schweren Knieverletzung fasste Lin in der NBA nicht mehr wirklich Fuß, wurde zwar als Reservist mit den Raptors 2019 Champion, doch später scheiterte nochmal ein Comebackversuch in der G-League. Dafür feierte er bei den Beijing Ducks in China Erfolge - und Linsanity kann ihm ohnehin niemand mehr nehmen.

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