Thomas Tuchel: "Ein absoluter Meilenstein"

Von Interview: Haruka Gruber
Thomas Tuchel will den FSV Mainz 05 zu einer Top-Adresse für deutsche Talente machen
© Imago

Stuttgart, Dortmund, Bayern - und Mainz? Der FSV ist die neue Macht im Nachwuchsfußball. Eine entscheidende Rolle kommt dabei Profi-Chefcoach Thomas Tuchel zu, der vergangene Woche für seine "herausragende Leistung" vom DFB mit dem prestigereichen Trainerpreis ausgezeichnet wurde. Der 37-Jährige über seine Mission, die Abitur-Debatte und argwöhnische Konkurrenz.

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SPOX: Mainz hat den Anspruch formuliert, zu einer "Topadresse für deutsche Talente" zu werden und mit den vermeintlich Großen der Jugendarbeit wie Stuttgart, Dortmund und Bayern zu konkurrieren. Ist die Verpflichtung des umworbenen U-19-Nationalspielers Yunus Malli ein Indiz dafür, dass der FSV bereits am Ziel angekommen ist?

Thomas Tuchel: Da wir wirtschaftlich nicht auf Augenhöhe mit Stuttgart, Dortmund und München spielen, müssen wir versuchen, in den Bereichen besser zu sein und Dinge anders zu machen, in denen wir das noch können. Beispielsweise auf der Jugendebene mit unserem Nachwuchsleistungszentrum. In den vergangenen zweieinhalb Jahren und insbesondere nach dem Gewinn der A-Junioren-Meisterschaft 2009 haben wir gemerkt, dass unter vielen jungen Talenten eine hohe Bereitschaft da ist, zu uns zu kommen, obwohl wir im Vergleich zu den vorgenannten Klubs finanziell leider nicht das schlagende Argument liefern können.

SPOX: Welche Argumente sprechen für Mainz?

Tuchel: Unser Anspruch ist es, DER Verein für Spieler bis 23 Jahre zu werden. Aus diesem Anspruch heraus entsteht natürlich auch eine hohe Verpflichtung, diese Talente außergewöhnlich weiterzuentwickeln - und das nicht nur in den Jugendmannschaften, sondern auch in der U 23 und sogar bei den Profis. Unser Nachwuchsleistungszentrum gibt uns die Möglichkeit dazu. Es wurde als eines der wenigen in Deutschland bei der Zertifizierung vom DFB mit der höchsten Kategorie von drei Sternen ausgezeichnet - ein absoluter Meilenstein für die Entwicklung des Nachwuchsleistungszentrums.

SPOX: Sie sagen, dass die Verzahnung zwischen Profi- und Jugendabteilung zu Ihren wichtigsten Aufgaben gehört. Aber wie viel Zeit finden Sie neben dem Bundesliga-Stress?

Tuchel: In vielen Jahren als Jugendtrainer habe ich erleben müssen, dass die Verzahnung zwischen Profi- und Jugendabteilung leider oft nur auf dem Papier Bestand hatte. Deshalb ist es mein Anspruch, dass wir diese Verzahnung hier in Mainz leben, weil dies auch zur Philosophie des FSV gehört.

SPOX: Schauen Sie sich tatsächlich das Training der A-Jugend an? Oder führen mit den Eltern eines Nachwuchsspielers Gespräche, um sie zu überzeugen?

Tuchel: Ich schau mir sehr wohl die Jugendtrainings an, insbesondere die der U 23 und der A-Junioren. Mein Co-Trainer Arno Michels und ich führen selbst regelmäßig alle vier bis sechs Wochen sogenannte Elite-Trainings mit Topspielern von der U 15 bis hin zur U 18 durch. Weiterhin beteilige ich mich bei der Konzeptionierung der Jugendarbeit, um sportliche Leitlinien mit zu entwickeln, welche nicht zuletzt von der Profimannschaft vorgegeben und dann nachhaltig umgesetzt werden sollen. Zudem bin ich in den abschließenden Gesprächen mit Top-Talenten vor der Verpflichtung dabei, die wir im großen Wettbewerb mit den anderen Vereinen gewinnen möchten. Nicht nur, weil das Eindruck macht, sondern vor allem, weil wir ein Gefühl dafür kriegen wollen, wie dieser Spieler tickt.

SPOX: Wie nimmt die Konkurrenz die verstärkten Bemühungen des FSV auf? Hat das Verhältnis zu Hoffenheim oder Frankfurt gelitten, weil sie argwöhnisch nach Mainz blicken?

Tuchel: Ich denke nicht, dass dieses Verhältnis jetzt besonders gelitten hat. Bei Vereinen, die auf so engem Raum miteinander in Konkurrenz stehen, sind gewisse Reibungspunkte normal. Dennoch habe ich das Gefühl, dass wir in den vergangenen zweieinhalb Jahren verstärkt wahrgenommen wurden, beginnend mit dem A-Junioren-Titel und auch wegen der guten Leistungen in den vergangenen zwei Spielzeiten in der Bundesliga. Wir werden außerdem wahrgenommen für die außergewöhnliche Art, mit Spielern umzugehen und für die außergewöhnliche Art, sie weiterzuentwickeln. Dafür bekommen wir häufig sehr positives Feedback.

Thomas Tuchel: Talent, Rücktritt, Barkeeper, Jugendtrainer - Bundesliga-Coach

SPOX: Wie sehr schauen Sie auf die Arbeit der anderen Klubs und ziehen daraus Ihre Schlüsse?

Tuchel: Diese Frage ist gar nicht so einfach zu beantworten. Natürlich schauen wir auf andere Klubs und messen uns auch mit ihnen. Und sicher schauen wir uns auch Dinge ab, die wir gut finden oder weniger gut. Aber dies geschieht immer unter der Prämisse, dass wir unseren ganz eigenen Weg finden und gehen, bei dem die Identität von Mainz 05 zum Tragen kommt. Und dieser Weg kann nicht sein, andere zu kopieren. Aktuell gehen wir diesen Weg sehr erfolgreich, und dies ist hauptsächlich der jahrelangen, harten Arbeit von Jugendkoordinator Volker Kersting und Stefan Hofmann, dem sportlichen Leiter des Nachwuchsleistungszentrums, zuzuschreiben.

SPOX: An der Saison von Andre Schürrle lässt sich der typische Entwicklungszyklus eines Talents ablesen: Zunächst eher unbekannt überzeugte er, wurde hochgejubelt, ließ sich womöglich ablenken, verlor die Form, wurde von der Öffentlichkeit kritisiert und berappelte sich wieder. Erwarteten Sie die Abläufe genau so - oder waren Sie von gewissen Facetten überrascht und haben nun Lehren für die Zukunft gezogen?

Tuchel: Bei Andre Schürrle sind die Ausschläge nach unten in der Entwicklungskurve extrem kurz und extrem klein. In den drei Jahren, in denen ich ihn kenne, hat er eine extrem positive Entwicklung gemacht, sowohl menschlich in seiner Persönlichkeitsentwicklung als auch sportlich. Aber grundsätzlich möchte ich betonen, dass wir gar nichts erwarten und die Abläufe bei unseren Spielern so nehmen, wie sie kommen.

SPOX: Das heißt?

Tuchel: Ich bin ein großer Verfechter davon, dass man Dinge nicht vorweg nimmt oder eine Schablone über die Jugendspieler stülpt. Wir nehmen jede Persönlichkeit so ernst, wie sie ist, mit allen ihren Stärken und Schwächen, und formen sie dann, soweit es möglich ist.

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