"Wir sind im Sommer einen neuen Weg gegangen. Wir haben eine Mannschaft mit vielen neuen Spielern zusammengestellt, wir haben einige verloren. Ja, wir sind noch nicht da, wo wir hin wollen. Wir haben immer wieder beschrieben, dass wir für manche Dinge Zeit brauchen", sagte Sebastian Kehl. "Die Zeit läuft weg, auch das ist richtig. Die Ergebnisse, die wir eingefahren haben, sind nicht unser Anspruch. Aber es gibt keine Alternative, als weiter hart zu arbeiten. Was sollen wir weiteres tun?"
So lautete die Analyse des Sportdirektors von Borussia Dortmund nach einer neuerlichen Auswärtsniederlage des BVB. Nur trug er diese nicht am vergangenen Samstag nach dem 1:3 bei Mainz 05 vor, sondern bereits zwei Wochen zuvor. Da hatten die Westfalen mit 1:2 in Augsburg verloren.
Die Zeit, die dem BVB wegläuft, ist also noch einmal geringer geworden. Die Durchhalteparolen, die von den Protagonisten des Champions-League-Finalisten zu hören sind, werden wiederum noch energischer vorgetragen. Kehl etwa sagte in Mainz: "Wir haben die Hoffnung, dass wir nach der Länderspielpause im November und Dezember noch mal etliche Punkte sammeln, um dranzubleiben."
Es muss also nach der nächsten Herbst-Krise wieder eine Aufholjagd her, nun schon im dritten Jahr in Folge. "Wenn man die Tabelle sieht, ist alles noch relativ nah beisammen, wenn man Bayern München mal außen vor lässt", erläuterte Kehl und nannte das Erreichen eines Champions-League-Platzes "das vorrangige Ziel, das sollten wir nicht aus den Augen verlieren".
Stillstand statt Entwicklung beim BVB
Vor allem und ausschließlich sollte sich der BVB aber mit sich selbst beschäftigen. Das geschieht freilich auch permanent, doch nach gut einem Drittel der laufenden Bundesligasaison lässt sich bei den Westfalen Stillstand statt Entwicklung beobachten - und dies gerade im Ligabetrieb wahrlich kein neues Phänomen.
Als die Borussia in den beiden vergangenen Jahren gezwungen war, das Feld zur Rückrunde von hinten aufzurollen, geschahen unerklärliche Dinge. 2022/23 folgte eine Siegesserie in der Bundesliga, die nach den schauerlichen Leistungen im ersten Halbjahr nicht zu erahnen war und beinahe im Gewinn der Meisterschaft mündete. Im Vorjahr stand der BVB urplötzlich im CL-Finale - doch die Aufholjagd in der Bundesliga ging schief.
Vier Teams waren besser als Dortmund, das gehöriges Glück hatte, als Fünfter noch in die Königsklasse zu kommen. An diesem Umstand hat sich bislang nichts verändert. Erneut lässt sich mindestens eine Hand voll Mannschaften aufzählen, die ungeachtet der aktuellen tabellarischen Situation nicht schlechter als der BVB auftreten.
BVB: Statistik belegt Schwächen historischen Ausmaßes
Das Tabellenbild meint es gewiss noch gnädig mit den Schwarz-Gelben, doch beispielsweise der Verweis darauf, dass Meister Leverkusen nur einen Zähler mehr gesammelt hat, wäre Gift. Dortmunds vielzitierter Weg ist momentan höchstens als Trampelpfad zu erkennen. Man hat sich in der Bundesliga, blickt man auf die jüngere Vergangenheit, mittlerweile zurückentwickelt.
Vor einem Jahr mahnte Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke an, dass sich die Medien doch bitte mehr um eine analytische Sicht der Dinge bemühen sollen. Natürlich gehört dazu momentan auch, den Umbruch im Kader - nicht der erste in den vergangenen Jahren - sowie die horrende Verletztenmisere - nicht die erste in den vergangenen Jahren - zu berücksichtigen.
Doch nach zehn von 34 Ligapartien weist der BVB Zahlen auf, die trotz dieser Widrigkeiten dem Anspruch des selbsternannten zweiten Leuchtturms im deutschen Fußball nicht im Geringsten gerecht werden. Sie belegen vielmehr Schwächen historischen Ausmaßes und sind Ausdruck für die Mittelmäßigkeit, in die sich die Borussia zusehends manövriert hat.
Niemand kassierte mehr Platzverweise als der BVB
40 Prozent der bisherigen Ligaspiele gingen verloren. Jede zweite Begegnung wurde nicht gewonnen, dabei kassierte man 1,8 Gegentore im Schnitt. Sechs Pflichtspielpleiten in der Fremde in Serie gab es zuletzt 2006/07. Dass man keines der ersten fünf Auswärtsspiele gewann, liegt bereits 19 Jahre zurück. Die Ausbeute von nur einem Punkt in diesen Auftritten ist die schlechteste seit 1989/90.
Das ist noch lange nicht alles, möchte man Herrn Watzke zurufen. Noch mehr Gegentore als die derzeitigen 18 fing sich Dortmund zuletzt unter Thomas Doll, der die Mannschaft 2007/2008 trainierte. Eine geringere Punkteausbeute nach zehn Spieltagen stand letztmals in der finalen Saison der Ära Jürgen Klopp 2014/15 zu Buche.
Nach lediglich fünf Platzverweisen in den vergangenen drei Spielzeiten zusammen steht der BVB aktuell bereits bei deren drei. Kein anderes Team hat mehr, all diese Karten kassierte man auswärts. Hinzu kommt die Gelbsperre von Ramy Bensebaini am Samstag. In Mainz gelang der Borussia in Gleichzahl kein einziger Torschuss, insgesamt waren es dann drei. Das ist der zweitniedrigste Wert seit Beginn der Datenerfassung vor mehr als 30 Jahren.
Die Mängelliste des BVB ist lang
Das statistische Armutszeugnis rückt unweigerlich auch Trainer Nuri Sahin in den Fokus, allerdings keinen Deut mehr als die anderen sportlich Verantwortlichen um Kehl, den Technischen Direktor Sven Mislintat und natürlich auch den neuen Geschäftsführer Sport Lars Ricken. Denn der Weg, den diese Herren beschwören: Wo ist er aktuell auszumachen, wie soll er überhaupt aussehen und ab wann eine sichtbare Entwicklung zeitigen?
Fragen, welche die Führungsebene derzeit wohl auch nicht stringent beantworten kann. Sahins Fußball, das lässt sich längst sagen, hat wieder einen stärkeren Ballbesitzfokus und etwas gefestigtere Strukturen im Zusammenspiel. Doch dies ist bisher nur in homöopathischen Dosen zu erkennen. Von einer Konstanz ist man wie in den Vorjahren weiterhin kilometerweit entfernt.
Die Defensive wackelt häufig bedenklich und wenn es offensiv nicht zu Geistesblitzen Einzelner kommt, ist auch dort der Ofen schnell aus. Seit langer Zeit fehlt dem Dortmunder Fußball trainerunabhängig ein Konzept, wie man die Vielzahl tief stehender Gegner bespielt und wie solchen beizukommen ist, die gleichfalls in steter Regelmäßigkeit den Spielaufbau des BVB hoch pressen und das Team in Manndeckung über das gesamte Feld verfolgen.
Die Kaderplanung des BVB kann nur als katastrophal bezeichnet werden
Hinzu kommen schlicht Fehler, die Sahin beging. Darunter der fatale Systemwechsel bei 2:0-Führung in Madrid (Endstand: 2:5). Fragwürdig zudem am Wochenende, Felix Nmecha mit dem Verweis, er habe das vor Wochen in Bremen schon einmal eine Zeit lang gespielt, nach dem Platzverweis von Emre Can ins Zentrum der Viererkette zu ziehen - während mit dem später tatsächlich eingewechselten Yannik Lührs und Filippo Mané gleich zwei zwar unerfahrene, aber gelernte Innenverteidiger auf der Bank saßen.
Am Ende sah Nmecha bei den ersten beiden Gegentoren richtig schlecht aus. Sahin betonte vor der Partie, dass er Akteure wie Lührs oder Mané gerne belohnen wurde. Welche Notlage aber muss denn eintreten, wenn nicht eine solche wie am Wochenende?
Diese Unzulänglichkeiten treffen auf eine Kaderplanung, die bereits zu diesem frühen Zeitpunkt der Saison nur als katastrophal bezeichnet werden kann. Die bewusst gering gehaltene Mannschaftsstärke fliegt den Dortmundern seit Wochen heftig um die Ohren. Hier auf die zahlreichen Verletzten zu verweisen, greift zu kurz.
Hoffnung auf die Länderspielpause: Ein gefährlicher Irrglaube
Denn selbst wenn nur die Hälfte der ausfallenden Spieler abwesend wäre - eine solche Anzahl wäre bei Spielen im Drei-Tages-Rhythmus alles andere als außergewöhnlich -, bekäme man qualitative Schwierigkeiten. Dass in Cole Campbell, Almugera Kabar, Ayman Azhil, Jordi Paulina und Lührs bereits fünf U23-Spieler ihr Debüt bei den Profis gaben, sagt alles und grenzt nach knapp drei Monaten Pflichtspielbetrieb an ein landesweites Novum.
"Die Situation ist gerade so, wie sie ist. Für uns ist es ganz wichtig, dass wir so viele Jungs wie möglich in der Länderspielpause wieder an Bord kriegen. Das ganz, ganz klare Ziel ist es, sich bis zur Winterpause in eine vernünftige Ausgangsposition für die zweite Saisonhälfte zu bringen", sagte Julian Brandt.
Doch es ist ein gefährlicher Irrglaube, nun auf die reinigende Kraft der zweiwöchigen Unterbrechung und die anschließende Rückkehr einiger Verletzter zu vertrauen. Der BVB wird in dieser Zeit mehr regenerieren als trainieren. Kein Spieler, der zurückkommt, wird auf Anhieb in Top-Form auf der Matte stehen. Die Kaderbreite dürfte sich freilich etwas verbessern, aber auch nur dahingehend, dass bei Schlusspfiff nicht wie in Mainz drei Akteure aus dem eigenen Unterbau auf dem Platz stehen müssen.
BVB-Transfers im Winter wären nur ein Herumdoktern am Symptom
Es stellt der Borussia kein gutes Zeugnis aus, dass so früh klar ist, im zweiten Jahr in Folge im Winter-Transferfenster Fehler des Sommers korrigieren zu müssen. Das treibt die ohnehin zu diesem Zeitpunkt ambitionierten Preise erst recht in die Höhe, da Dortmunds Notlage allen abgebenden Klubs bekannt sein wird. Transfers in dieser Phase werden ohnehin allenfalls ein Herumdoktern am Symptom ohne größere Aussicht auf langfristige Besserung sein.
"Wir sind mittlerweile in so einem Strudel gefangen", erklärte Brandt nach zwei Siegen in Folge die ausgebliebene Willensleistung in Unterzahl beim FSV. Vom Mittelfeldakteur versprach man sich im Sommer den Sprung zum Führungsspieler. Ähnlich alarmierend äußerte er sich bereits nach der Pleite beim FCA.
Auf dem Platz sei "alles vogelwild und verwirrend", wenn Widerstände auftreten. "Unser Problem ist, dass wenn wir zum Beispiel ein 1:2 bekommen, jeder erstmal mit sich selbst beschäftigt ist", sagte er und sprach von einer Periode, die er in seinen sechs BVB-Jahren "noch nie erlebt" habe.
BVB im Herbst: Abwärtsspirale und Alarmsignale
Eindringlichere Aussagen über den aktuellen Zustand des Teams als diese sind kaum möglich. Die starke körperliche Beanspruchung darf, wie auch die Verantwortlichen unisono beurteilten, keine Ausrede sein. Dortmund hatte trotz der vielen Absenzen ausreichend erfahrene und individuell stärkere Spieler auf dem Platz als Gegner wie Union Berlin, Augsburg, Wolfsburg oder Mainz. Dass diese Teams vermögen, bei Rückschlägen für den BVB direkt eine Abwärtsspirale in Gang zu setzen, der vermeintlich nicht zu entkommen ist, lässt sich als ein weiteres der zahlreichen unüberseh- und hörbaren Alarmsignale verstehen.
Sieben Pflichtspiele folgen nun bis zur Winterpause noch. Dortmund steht in der Königsklasse mit drei Siegen aus vier Partien ausgezeichnet da. In der Liga sind die Felle auch noch lange nicht davongeschwommen.
Der bisherige Eindruck vermittelt jedoch die Befürchtung, dass dies noch geschehen könnte. Wenngleich natürlich ausreichend Potential innerhalb des Teams vorhanden ist, um aus dem Trampelpfad doch noch mehr werden zu lassen. Und es bei keinem anderen Klub weniger überraschen würde, sollte die dauerhafte Ambivalenz das Pendel auf einmal wieder in eine deutlich erfolgreichere Richtung ausschlagen lassen. Darauf zu hoffen, wie es die Dortmunder Verantwortlichen derzeit tun, hat angesichts des lang anhaltenden Abwärtstrends allerdings den Charakter eines Stoßgebets.
BVB: Die nächsten Spiele von Borussia Dortmund
Datum, Uhrzeit | Wettbewerb | Gegner |
Sa., 23. November, 15.30 Uhr | Bundesliga | SC Freiburg (H) |
Mi., 27. November, 21 Uhr | Champions League | Dinamo Zagreb (A) |
Sa., 30. November, 18.30 Uhr | Bundesliga | FC Bayern München (H) |
Sa., 7. Dezember, 18.30 Uhr | Bundesliga | Borussia Mönchengladbach (A) |
Mi., 11. Dezember, 21 Uhr | Champions League | FC Barcelona (H) |