Ex-Leverkusen-Profi Jens Nowotny im Interview: EM-Debakel? "Einige hätten es gerne gesehen, wenn sich zwei von uns erhängt hätten"

Von Dennis Melzer
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Und was war die Problematik, die sich rund um Matthäus ergab?

Nowotny: Lothar hat polarisiert. Er ist auf und neben dem Platz immer sehr dominant aufgetreten. In jener Zeit hat sich der Fußball in puncto mannschaftlicher Strukturen aber verändert. Das hat nicht mehr gepasst.

Wie haben sich die Strukturen konkret verändert?

Nowotny: Die Zeiten, in denen ein Team von einigen wenigen Alphatieren angeführt wurde, neigten sich langsam dem Ende zu. Es entwickelte sich immer mehr hin zu einer Breitenhierarchie. Die Spieler, die Lothar noch in München kennengelernt hatten, stellten mittlerweile selbst etwas dar und wollten sich nicht mehr bevormunden lassen. Vielleicht hat auch der eine oder andere unterbewusste Zweifel gehegt, weil Lothar in den USA spielte, aber trotzdem eine Einsatzgarantie von Erich Ribbeck erhalten hatte. Allerdings muss ich auch sagen, dass nie einer alleine für solche Leistungen verantwortlich ist. Lothar hat nicht als einziger schlecht gespielt, sondern wir alle. Es wurde aber sowohl von außen als auch von innen viel an seiner Person festgemacht.

Wie sind Sie persönlich mit der Kritik umgegangen, die damals auf die Mannschaft einprasselte?

Nowotny: Wenn weder Ergebnis noch Leistung stimmen, dann ist Kritik definitiv gerechtfertigt. Sie sollte nur nicht unter die Gürtellinie gehen. Man kann zu mir sagen: 'Jens, Du hast scheiße gespielt', aber ich muss mich von niemandem als Flasche oder Pflaume betiteln lassen.

War das der Fall?

Nowotny: Es mag sich komisch anhören, aber ich war froh, dass ich nicht so sehr im Fokus stand. Als Sündenböcke wurden Lothar oder Erich Ribbeck auserkoren, auf die gesamte Mannschaft wurde zunächst weniger eingeprügelt. Als es dann aber diese angebliche Party nach dem 0:3 gegen Portugal im Teamhotel gab und gesungen wurde, war das ein gefundenes Fressen. Die Presse schrieb nicht nur darüber, das wäre ja noch okay gewesen - sondern es ging weit darüber hinaus. Ich hatte das Gefühl, einige hätten es gerne gesehen, wenn sich zwei von uns erhängt hätten.

Daum sollte den deutschen Fußball wieder auf Vordermann bringen. Dann kam die Kokain-Affäre dazwischen. Wie sind Sie mit der Thematik umgegangen?

Nowotny: Ich hatte nicht die Muße oder Zeit, mich großartig damit zu beschäftigen. Das Thema kam immer mal wieder kurz auf, aber dann stand schon wieder das nächste Training oder Spiel an.

Und wie wurde das Ganze innerhalb der Mannschaft verarbeitet?

Nowotny: Man hat mal darüber gesprochen, ab und zu hat auch mal der eine oder andere einen Scherz gemacht. Aber wir haben deshalb keine Gesprächsrunde ins Leben gerufen.

Wie bewerten Sie die Geschichte rückblickend?

Nowotny: Ich habe mich gefragt, was ihn dazu getrieben hat, sich zu rechtfertigen. Er hätte doch alles weiterlaufen lassen können. Vielleicht konnte Christoph es mit seinem Ego nicht vereinbaren, die unbeantwortete Frage im Raum stehen zu lassen.

Sie verurteilen ihn also nicht?

Nowotny: Er kann privat machen, was er möchte. Wenn er niemandem schadet, außer sich selbst, stehe ich ihm das zu. Wenn aber eine Gemeinschaft auf ihn angewiesen ist und seine Arbeitsleistung aufgrund des Drogenkonsums nachlässt, muss man reagieren. Das war aber nicht der Fall. Christoph war immer der Erste, der da war und der Letzte, der ging. Seine Bürotür stand immer offen, er hat sich mit Ratschlägen ernsthaft auseinandergesetzt. Und, was das Wichtigste war: Er hat jeden einzelnen Spieler besser gemacht. Das können nur ganz wenige Trainer.

Verspielte Meisterschaft, EM-Debakel und Daum-Affäre - viel schlimmer als das Jahr 2000 hätte es nicht laufen können. Wie sahen Ihre Vorsätze für die Zukunft aus?

Nowotny: Mund abwischen, weitermachen. Ich hatte bis dato schon viele Höhen und Tiefen erlebt. Den Kopf in den Sand zu stecken, war nie eine Option.

Zumal Sie noch nicht wissen konnten, dass das Jahr 2002 aus sportlicher Sicht noch bitterer verlaufen würde. Warum stand trotz einer herausragenden Saison am Ende keine Trophäe in der Vitrine, sondern der Name Vizekusen auf einer Patenturkunde?

Nowotny: Carsten Ramelow würde vermutlich sagen, dass meine Verletzung der Grund war. (lacht) Spaß beiseite: Es ist ganz schwierig zu erklären. Ich glaube nicht, dass es etwas mit unserer Leistung zu tun hatte. Heute denke ich oft: Es hat nicht sollen sein.

Als erstes ging die Meisterschaft am vorletzten Spieltag aufgrund eines 0:1 in Nürnberg verloren. Wieder einmal auf den letzten Metern. Spielen in solchen Momenten Versagensängste eine Rolle?

Nowotny: Nicht wissentlich. Aber vielleicht trägt das Unterbewusstsein dazu bei, dass man in einigen Situationen falsche Entscheidungen trifft. Für mich hatte sich die Saison wenige Tage danach ohnehin erledigt. Im Halbfinal-Rückspiel der Champions League habe ich mir gegen Manchester United das Kreuzband gerissen.

Bereits der zweite Kreuzbandriss Ihrer Karriere. Trauer oder Wut, was überwog?

Nowotny: Ich habe früh gelernt, solche Rückschläge nicht zu nah an mich heranzulassen. Als Jugendnationalspieler lag ich einmal mit einem Jochbeinbruch im Krankenhaus. Für mich brach damals eine Welt zusammen, weil ich sechs Wochen lang kein Fußball spielen durfte. Dann habe ich mitbekommen, dass ein Kind im Nebenzimmer sein Augenlicht verloren hatte. Das hat mein eigenes Leid relativiert. Ich wusste nach meinem zweiten Kreuzbandriss genau, was auf mich zukam. Der Film lief in meinem Kopf bereits ab: Operation, Reha, Comeback.

Im Champions-League-Finale waren Sie zum Zuschauen gezwungen. Wo haben Sie das Spiel gegen Real Madrid verfolgt, auf der Tribüne oder auf der Bank mit Trainerteam und Mannschaftskollegen?

Nowotny: Das Spiel fand einen Tag vor meiner Operation statt. Ich saß in Vail, Colorado, vor dem Fernseher. Das war einer meiner größten Fehler überhaupt. Ich hätte unbedingt mit nach Glasgow fliegen müssen.

Wie haben Sie die Partie am Fernseher erlebt?

Nowotny: Hilflos. Sich solch ein Spiel am Fernseher anzuschauen, ist das Schlimmste, was man sich antun kann. Ich bin beim Fußballschauen eigentlich ein emotionsloser Mensch, aber ich bin mir sicher, dass dieses Spiel mich emotionalisiert hätte. Besonders die Entwicklung, dass die Zuschauer immer mehr eine gewisse Pro-Leverkusen-Haltung einnahmen und nicht den großen Stars von Real Madrid folgten, hätte ich gerne miterlebt. Stattdessen saß ich in meinem sterilen Sessel und bin nach Abpfiff direkt ins Bett gegangen. Wie gesagt: ein großer Fehler.

Wie fiel Ihre Spielanalyse aus?

Nowotny: Wir hatten vermutlich eine Torschussbilanz von 17 zu vier. Wir waren dermaßen überlegen und haben ein überragendes Spiel gemacht. Aber an diesem Abend ging der Stern des Iker Casillas auf. Er hätte auch hinter sein Tor gehen können und wir hätten ihn trotzdem noch angeschossen.

Obwohl im Endspiel um die Königsklasse auch die dritte und letzte Chance auf einen Titel verspielt wurde, erhielt Bayer 04 in jenem Jahr einen Imageschub. Was hat diese Mannschaft ausgezeichnet?

Nowotny: Wir haben uns weltweit Sympathien erspielt, das ist richtig. Das lag nicht nur an der Leistung, sondern vor allem an den Personen, die diese Leistung erbracht haben. Wir hatten keine Spinner, keine arroganten Hunde oder gehässige Typen in der Mannschaft. Das waren allesamt bodenständige Persönlichkeiten, die sich gesucht und gefunden haben. Ich denke, dass insbesondere Klaus Toppmöller einen großen Anteil daran hatte, dass wir unsere Normalität gewahrt haben.