Ex-Leverkusen-Profi Jens Nowotny im Interview: EM-Debakel? "Einige hätten es gerne gesehen, wenn sich zwei von uns erhängt hätten"

Von Dennis Melzer
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Das Gegenteil von Normalität war Endspielgegner Real. Zinedine Zidane, Luis Figo, Raul, Roberto Carlos und Co. trugen den Beinamen "die Galaktischen". Leverkusen machte damals aber keinerlei Anstalten, in Ehrfurcht zu erstarren.

Nowotny: Weil wir mit den Galaktischen mithalten konnten. Nicht nur mit Real, wir haben in dieser Saison Barcelona und Juventus geschlagen, Liverpool und ManUnited aus dem Wettbewerb gekegelt. Bei uns hatte niemand einen Grund, die Spieler anderer Mannschaften zu bewundern. Ich selbst bin nur ein einziges Mal in meinem Leben auf dem Platz in Ehrfurcht erstarrt: Als Dennis Bergkamp vom FC Arsenal uns nach allen Regeln der Kunst frisch gemacht hat. Carsten Ramelow und ich haben uns angeschaut, unsere imaginären Hüte gezogen und Chapeau gesagt.

Nachdem Bayer 2002 noch europäische Schwergewichte aus dem Weg geräumt hatte, herrschte im Jahr darauf nackte Abstiegsangst. Was war ausschlaggebend für den enormen Leistungseinbruch?

Nowotny: Das war eine ganz schwierige Phase. Besonders, weil einige Leistungsträger den Klub verlassen hatten. Ich kam nach meinem Kreuzbandriss zurück und habe mir kurz danach den nächsten zugezogen. In dieser Zeit folgte ein Nackenschlag auf den nächsten und plötzlich haben wir um den Klassenerhalt gekämpft. Am letzten Spieltag haben wir uns dank eines Treffers von Yildiray Bastürk noch gerettet. Ich würde sagen, dass die Luft nach den drei verspielten Titeln einfach raus war und wir in einen Strudel geraten sind, aus dem wir nicht mehr herauskamen.

Sie haben Ihren dritten Kreuzbandriss angesprochen, der vierte ließ nicht lange auf sich warten. Warum hat Sie Ihr Knie immer wieder im Stich gelassen?

Nowotny: Nur mein erster Kreuzbandriss hing mit Fremdeinwirkung zusammen, die anderen drei habe ich mir in der Bewegung eingefangen. Vielleicht war ich nie fit genug, vielleicht hat sich auch jemand gedacht: 'Huch, dem Jungen scheinen langsam Flügel zu wachsen - ich hau' mal besser wieder drauf'. Ich weiß es nicht.

Im Zuge des vierten Kreuzbandrisses kam es zum Streit zwischen Leverkusen und Ihnen. Der Klub wollte die Lohnfortzahlung nicht gewährleisten, Sie klagten dagegen und wurden von Teilen der Fans als Raffzahn und Gierlappen verunglimpft. Wie kam es zu den verhärteten Fronten?

Nowotny: Wenn ich Ihnen die Geschehnisse aus meiner Sicht ausführlich erklären würde, dann würden Sie sagen: 'Sind die Vereinsverantwortlichen bescheuert?' Das schwöre ich Ihnen.

Erklären Sie.

Nowotny: Ich hatte kurz nach meiner Verletzung von Bayer Leverkusen ein Geschenk bekommen. Das war eine 30 Bücher umfassende Bibliothek von der Süddeutschen Zeitung. Ich habe mich darüber sehr gefreut, weil ich viel lese. Zwei Tage später rief der Anwalt von Bayer 04 nicht mich selbst, sondern meinen Berater an, um ihm zu sagen, dass meine Lohnfortzahlung gestrichen sei. Der Funktionär, der mir das Geschenk überreichte, hat mit keinem Ton gesagt, dass der Klub plant, mir die Lohnfortzahlung zu streichen. Wäre Rudi Völler, Wolfgang Holzhäuser oder Ilja Kaenzig zu mir gekommen und hätte gesagt: 'Jens, komm' bitte ins Büro, es gibt ein Problem, die Situation gestaltet sich folgendermaßen.' Ich bin mir sicher, wir hätten eine Lösung gefunden. Aber stattdessen wurde ich quasi hinterrücks vor vollendete Tatsachen gestellt.

Man könnte meinen, der Klub würde einem verdienten Spieler nach fast zehn Jahren Vereinszugehörigkeit mehr Dankbarkeit entgegenbringen.

Nowotny: Dankbarkeit im Fußball gibt es nicht. Es gab einen anderen Spieler bei uns, der im Champions-League-Finale dabei war, obwohl er sich schon im Viertelfinale den Meniskus gerissen hatte. Ihm wurde gesagt: 'Wir brauchen Dich, Du musst die Operation nach der Saison machen.' Dieser Spieler ist danach Invalide geworden. Da kam im Anschluss niemand vom Verein und hat Unterstützung angeboten. Man kann darüber diskutieren, ob man deshalb angepisst sein sollte oder nicht. Das ist unser Job, wir setzen unsere Gesundheit dafür aufs Spiel und werden im Gegenzug für einen verhältnismäßig geringen Aufwand utopisch gut bezahlt. Dessen muss man sich bewusst sein. Es ging mir nie um Dankbarkeit, ich hätte mir nur gewünscht, dass wir uns an einen Tisch setzen und das Problem, das es offensichtlich gab, besprechen. In der Folge haben sicherlich beide Seiten Fehler gemacht, davon nehme ich mich nicht aus. Es gab nur Verlierer.

Sie waren sogar suspendiert. Wie ging die Mannschaft denn mit den Nebengeräuschen um?

Nowotny: Die Mannschaft war der größte Verlierer. Es lief sportlich nicht und dann gab es diese Diskussionen um meine Person. Ich war suspendiert, durfte aber trotzdem mittrainieren. Am Spieltag war ich da und meine Mannschaftskollegen forderten, dass ich spielen müsse. Sie sagten mir: 'Du fehlst!' Wie kacke ist das denn?

Wie ist Ihre Beziehung zu Leverkusen heute?

Nowotny: Die ist okay. Ich kann bis heute nicht erklären, warum das damals so gelaufen ist. Ein klärendes Gespräch gab es nie. Vielleicht auch, weil ich nie den Mut aufgebracht habe, das zu forcieren. Mein Anwalt hat mir damals gesagt, ich sei ein buchhalterisches Problem.

Sie hatten um die Jahrtausendwende herum ein Angebot vom FC Arsenal, auch der FC Bayern soll interessiert gewesen sein. Warum sind Sie Leverkusen immer treugeblieben?

Nowotny: Leverkusen war perfekt. Bayer 04 war und ist ein super geführter Verein. Man hat sich gefreut, zum Training zu gehen. Egal, ob Physio, Busfahrer, Platzwart, die Vorzimmerdame vom Calli, das alles waren beziehungsweise sind unheimlich tolle Menschen. Es gab für mich nie die Notwendigkeit, den Verein des Geldes wegen zu verlassen, obwohl ich bei einem anderen Klub sicherlich das Dreifache verdient hätte. Das macht die Tatsache, dass ich von einigen Kritikern als Raffzahn oder Abzocker dargestellt wurde, noch absurder.

Bereuen Sie Ihre Entscheidung rückblickend?

Nowotny: Es wäre bestimmt eine interessante Erfahrung gewesen. Bei Bayern hätte ich wahrscheinlich noch einige Titel gewonnen, aber vom Leben her hätte es sich nicht allzu sehr unterschieden. Bevor ich meine Karriere beendet habe, war ich ein halbes Jahr bei Dinamo Zagreb aktiv. Die Zeit in Kroatien hat mir gezeigt, dass ein Auslandsaufenthalt persönlich und familiär einiges bringt. In Zagreb hatten wir familiär die intensivste Zeit. Ausschließlich aus diesem Grund würde ich rückblickend sagen, dass ich vielleicht eher hätte ins Ausland wechseln können. Nicht aus finanzieller Sicht. Aber das glaubt dir ja heutzutage eh keine Sau.

Sie haben in einem Interview mit 11Freunde vor 13 Jahren gesagt: "Fußball ist ein Geschäft und es wird immer mehr zum Geschäft." Inwiefern hat sich Ihre Prognose bewahrheitet?

Nowotny: Alles wird irgendwie vermarktet. Spanische Pokalendspiele finden in Saudi-Arabien statt, internationale Turniere werden aufgebläht, damit immer mehr Mannschaften teilnehmen können. Es gibt nur die Ziele höher, schneller, weiter. Das ist der Grundgedanke der freien Marktwirtschaft. Daran beteiligen sich sowohl die Spieler als auch die Vereinsverantwortlichen. Es geht um die Kohle und die Vernunft bleibt teilweise auf der Strecke. Der Grundehrlichste im modernen Fußball ist meiner Meinung nach der Ultra, der eingefleischte Fan, der alles für seinen Verein tun würde. Wenn ein Spieler in seinem letzten Spiel für Leverkusen ein Tor schießt und das Wappen küsst und im nächsten Spiel für Bayern trifft und wieder das Wappen küsst, finde ich das moralisch durchaus fragwürdig. Aber vielleicht ist es einfach eine andere Ehrlichkeit, zu sagen: 'Es ist mir doch scheißegal, was auf meiner Brust steht. Ich spiele hier wegen der Kohle und fertig.'