Leon Goretzka ist die tragischste Figur: Kommentar zu Deutschlands EM-Kader von Julian Nagelsmann

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Bundestrainer Julian Nagelsmann hat bei der Nominierung seines EM-Kaders auf große Überraschungen verzichtet. Er setzt auf eine Mischung aus Leistungs- und Rollenprinzip. Leon Goretzka ist die tragischste Figur. Ein Kommentar.

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Die wohl größte Überraschung dieses scheibchenweise vorgestellten EM-Kaders setzte es gleich zum Nominierungsauftakt am Sonntagabend: Einerseits, weil kurioserweise die Tagesschau den ersten EM-Spieler berufen durfte. Andererseits, weil es sich dabei um Nico Schlotterbeck handelte. Nach seiner Nicht-Berücksichtigung bei der Länderspielphase im März erschien eine EM-Berufung Schlotterbecks zweifelhaft. Eine Sensation à la David Odonkor ist sie aber keineswegs.

Im weiteren Verlauf des ungewöhnlichen Prozesses überraschten Julian Nagelsmann und der DFB weniger mit den berufenen Spielern als mit den jeweiligen Verkündern. Klar ist Ilkay Gündogan dabei, aber wo oder von wem wird er nominiert? In einem TV-Format, von Influencern oder Dachdeckern? Die Inszenierung ist umstritten, für große Aufmerksamkeit sorgte sie aber allemal. Einen Monat vor Turnierbeginn erschien die Heim-EM erstmals omnipräsent. Allein das ist ein Erfolg für den DFB.

Wie schon nach den beiden Testspielen im März angekündigt, veränderte Nagelsmann seinen Kader nur minimal - verständlich mit Blick auf die guten Auftritte und Ergebnisse. Einzig Schlotterbeck, der zuletzt gesperrte Leroy Sané sowie Alexander Nübel als Vertretung des angeschlagenen Bernd Leno sind neu dabei. Nagelsmann setzte bei seiner Kaderzusammenstellung somit erneut auf eine Mischung aus Leistungs- und Rollenprinzip.

Verdientermaßen nominierte der Bundestrainer beispielsweise fünf formstarke, aber auf höchstem Niveau eher unerfahrene Spieler von der Überraschungsmannschaft VfB Stuttgart. Dazu den 19-jährigen Debütanten Aleksandar Pavlovic, seine erste Berufung im März hatte er krankheitsbedingt nicht antreten können. Außer Kraft war das Leistungsprinzip dagegen bei DFB-Routiniers: Allen voran bei Mats Hummels und Leon Goretzka, aber beispielsweise auch bei Julian Brandt.

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DFB-Kader: Das Risiko bei Nagelsmanns Vorgehen

Hummels hätte sich mit seinen starken Leistungen in der Rückrunde einen Kaderplatz absolut verdient gehabt - wobei seine Schnelligkeitsdefizite in Nagelsmanns System durchaus problematisch hätten werden können. Auch Goretzka bewies seine unbestrittene Klasse. Nicht so konstant wie Hummels zwar, aber ebenfalls auf allerhöchstem Niveau bei den Champions-League-Viertelfinals gegen den FC Arsenal.

Der Verzicht auf Hummels ist sportlich wohl einen Tick weniger nachvollziehbar. Der auf Goretzka für ihn persönlich tragischer. Mit seinen 29 Jahren - sechs weniger als Hummels - ist er im besten Fußball-Alter. Anders als Hummels hat er mit der Nationalmannschaft noch keinen großen Erfolg gefeiert. Wiederholt betonte er in den vergangenen Wochen, wie wichtig ihm eine Teilnahme an der Heim-EM wäre. Goretzkas Nicht-Nominierung kommt wohl noch mehr als Hummels' einem persönlichen Tiefschlag gleich.

Nagelsmanns Entscheidung ist zwar hart, aber auch schlüssig. Der Bundestrainer hat sich bereits auf eine Startelf ohne die beiden Routiniers festgelegt und will nicht das Risiko eingehen, dass sie auf der Bank für Missmut sorgen. Gerade bei Goretzka ist diese Sorge durchaus berechtigt, man denke an sein schmollendes Verhalten nach dem entscheidenden Meisterschaftsspiel der vergangenen Saison oder nun beim Halbfinal-Rückspiel der Champions League gegen Real Madrid, als er jeweils nicht in der Startelf gestanden hatte. Wiederholt kam Nagelsmann bei seiner Pressekonferenz darauf zurück, auf Spieler mit passenden "Wesens- und Charakterzügen" zu setzen.

In der Kadertiefe vertraut Nagelsmann deshalb zwar formstarken, aber unerfahreneren und womöglich auch etwas weniger talentierten Spielern, die einen Bankplatz eher still akzeptieren und weiterhin pure Freude ausstrahlen. Es ist ein Kader der Harmonie, der aber auch Risiken birgt. Und zwar, sobald für die Startelf eingeplante Spieler aus welchem Grund auch immer unpässlich sind. Auf der Bank hat Nagelsmann vielleicht lieber einen Waldemar Anton als einen Mats Hummels. Aber wie wäre es in der Startelf eines möglichen EM-Finals?

Deutschland, Kader für die EM: Die nominierten Spieler

PositionName
TorManuel Neuer
TorMarc-André ter Stegen
TorAlexander Nübel
TorOliver Baumann
AbwehrWaldemar Anton
AbwehrBenjamin Henrichs
AbwehrNico Schlotterbeck
AbwehrJoshua Kimmich
AbwehrDavid Raum
AbwehrAntonio Rüdiger
AbwehrJonathan Tah
AbwehrRobin Koch
AbwehrMaximilian Mittelstädt
MittelfeldToni Kroos
MittelfeldAleksandar Pavlovic
MittelfeldThomas Müller
MittelfeldJamal Musiala
MittelfeldRobert Andrich
MittelfeldFlorian Wirtz
MittelfeldPascal Groß
MittelfeldIlkay Gündogan
MittelfeldChris Führich
AngriffMaximilian Beier
AngriffNiclas Füllkrug
AngriffKai Havertz
AngriffLeroy Sané
AngriffDeniz Undav