"Ich habe nur jeden schreien gehört"

67 Minuten und 40 Sekunden waren im Finale gespielt: Sidney Crosby shoots and scores!
© getty

Die Olympischen Winterspiele in Sotschi stehen vor der Tür. Bevor im Februar das Olympische Feuer brennt, widmet sich SPOX wieder den Olympic Moments. Teil sechs handelt von Team Canada, das 2010 in Vancouver eine Nation in die ultimative Ekstase versetzte. Sidney Crosby und das wichtigste Tor aller Zeiten.

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"Iggy!" Sidney Crosby brüllt nach einem simplen Give-and-Go in Richtung Linemate Jarome Iginla und fährt in Richtung Tor. Iggy legt ihm den Puck vor, Crosby sieht seine Chance, seine Once-in-a-Lifetime-Chance, und nutzt sie.

7 Minuten und 40 Sekunden sind in der Overtime gespielt, als Crosby US-Goalie Ryan Miller zwischen den Beinen erwischt und Kanada zum Olympiasieger macht. Es ist ein Moment, den alle Eishockey-Fans nie wieder vergessen werden. Allein der Gedanke daran sorgt vier Jahre später immer noch für massivste Gänsehaut-Anfälle.

"Ich wollte den Puck nur irgendwie zum Tor bringen, ich habe gar nicht wirklich irgendwo hingezielt. Ich habe auch gar nicht gesehen, wie der Puck reingegangen ist. Ich habe nur jeden schreien gehört", erklärte Crosby. Die Gefühle beim während der ganzen Spiele überragenden Miller waren einfach zu beschreiben. "Du fühlst dich halt scheiße."

US-Boys schocken ein Land

Was nach Crosbys Gold-Schuss kam? Crosbys berühmt gewordene Jubel-Pose. Seine Mitspieler, die auf ihn draufsprangen. Der Canada Hockey Place wurde zum Tollhaus. Männer weinten. Jeder in Reichweite wurde umarmt. In ganz Kanada füllten sich die Straßen innerhalb von wenigen Minuten. Party-Time!

Dabei drohte die Sache für Kanada vorher zum Desaster zu werden. Jonathan Toews, im Übrigen der eindeutig beste Spieler des Turniers, und Corey Perry hatten zwar für eine 2:0-Führung gesorgt, aber die US-Boys kamen zurück.

Ryen Kesler sorgte im Mitteldrittel für den Anschlusstreffer - und dann war es Zach Parise, der 24,4 Sekunden vor Ende einen Rebound an Roberto Luongo vorbei ins Netz beförderte. 2:2. Eine komplette Nation sackte in sich zusammen. Panik setzte ein. Das ganze Momentum war plötzlich auf der Seite der aufmüpfigen Yankees. Dem jüngsten Team im Turnier.

Und, da gibt es kein Vertun, eine kanadische Niederlage wäre dramatisch gewesen. Denn bei allem Respekt für alle anderen Olympischen Disziplinen, im Endeffekt zählte für Kanada nur eines: Eishockey.

Das kann niemals so kommen...

Hätte man sich vor Beginn die ultimative Hollywood-Story ausgemalt, wäre die Storyline folgende gewesen. Der beste Spieler auf dem Planeten, der bis dahin nicht mal besonders stark spielte, schießt Kanada bei den Heim-Winterspielen in der Verlängerung gegen den großen Rivalen aus den USA zur Goldmedaille. Aber wahrscheinlich hätte man das Skript sofort wieder in den Müll geschmissen. Nach dem Motto: Um Gottes Willen nein, dieses Szenario ist viel zu perfekt, das kann nie im Leben so eintreten.

Und dann trat es genau so ein. Mit einem Wort: Wahnsinn. Crosbys Gold-Winner ist zweifellos das beste und wichtigste Tor in der Geschichte Kanadas. Was bei der Einordnung nicht vergessen werden darf: 2002 hatte Kanada in Salt Lake City nach einer 50-jährigen Durststrecke zwar Gold gewonnen, aber die Spiele 2006 in Turin wurden zu einer kompletten Katastrophe und Erniedrigung. Platz 7. Ein Rang für Deutschland, aber doch nicht für die Ahornblätter.

2010 war also Zeit für eine Antwort. Es war Zeit für einen 22-Jährigen, der zu diesem Zeitpunkt schon als der nächste Wayne Gretzky aufgebaut worden war. Der schon mit 21 die Pittsburgh Penguins als jüngster Captain aller Zeiten zum Stanley Cup geführt hatte. Und der mit seinem Tor seinen Status als Nationalheld zementierte.

Es lief schlecht in Vancouver

"Jedes Kind träumt von dieser Chance. Wenn du aufwächst, träumst du von diesem Moment 1000 Mal. Dass er für mich wahr geworden ist, ist eigentlich kaum zu fassen", beschrieb es Crosby später.

Eigentlich kaum zu fassen ist auch die Wende, die die Olympischen Spiele 2010 für Kanada nahmen. Denn eine lange Zeit liefen die Spiele nicht so optimal. Man könnte auch sagen: grauenvoll. Die Eröffnungsfeier wurde vom Tod des georgischen Rodlers Nodar Kumaritashvili nach einem Trainingsunfall überschattet. Es mangelte an Schnee, es gab Ticket-Probleme - und der offizielle Slogan "Own the Podium" wurde zum Bumerang.

Von wegen Kanada könnte den Medaillenspiegel gewinnen. Überall gab es Enttäuschungen, auch das Eishockey-Team war nicht unbeteiligt. Denn in der Vorrunde musste Team Canada eine 3:5-Niederlage gegen die USA einstecken. Hier entwickelte sich etwas in die völlig falsche Richtung.

Zerstörung der Russen im Viertelfinale

Bis es sich auf einmal ins Positive drehte. In der letzten Olympia-Woche hagelte es Goldmedaillen durch die Eisschnellläufer, Shorttracker oder Snowboarder. Aber: Wieder bei allem Respekt, alle diese Goldmedaillen hätten diese Winterspiele nicht definieren können. Das konnten nur Crosby und Co.

Was folgte, war ein atemberaubendes 7:3 im Viertelfinale gegen Russland - ein krachender Hit von Verteidiger Shea Weber gegen Alex Ovechkin war so was wie der Startschuss. Jetzt ging die Post ab und fand im Finale den Höhepunkt.

Wie oft erlebt man es, dass unglaublich gehypte Spiele, egal in welcher Sportart, dann nicht die Erwartungen erfüllen. Nicht so an diesem Tag. Das Großartigste an diesem Finale war die unbeschreibliche Intensität. Die talentiertesten Eishockey-Spieler der Welt schmissen sich in jeden Schuss, in jeden Zweikampf, fighteten um jede Scheibe, als würde ihr Leben davon abhängen.

Warum diese Goldmedaille für die Kanadier so eine Bedeutung hatte, beschreibt Andrew Podnieks, der Autor von "A Canadian Saturday Night: Hockey and the Culture of a Country".

Kinder, Omas - ALLE rasten aus!

"Wir sind wahrscheinlich die beste Curling-Nation der Welt, wir haben unglaubliche Eisschnellläufer, wir haben ein tolles Skeleton-Team. Aber wenn du dich durch ganz Kanada fragst, kann niemand die Namen dieser Sportler nennen. Sidney Crosby kennt jeder. Es gibt einen Grund dafür. Jeden Samstagabend schauen wir Eishockey mit der Hockey Night in Canada. Jeden Samstagabend. Nichts bringt das Land mehr zusammen."

Wie sehr Vancouver das Land zusammenbrachte? Wir hören noch einmal Sidney Crosby.

"Bei unserer Victory-Parade sah ich einen 6-jährigen Jungen, der völlig ausgerastet ist. Und im nächsten Moment sah ich eine 90-jährige Lady, wie sie unter einem Regenschirm saß und sich genauso verhalten hat wie der 6-jährige Junge. Das sagt alles aus. Vom Kind, das davon träumt, einmal selbst zu spielen, bis zur Oma, die es immer noch verfolgt. Vielleicht hat sie sogar selbst gespielt, wer weiß. Jeder hat eine Beziehung zum Eishockey. Eishockey ist das, was wir lieben. Wonach wir verrückt sind."

Und nie wurde ein Land so verrückt wie am 28. Februar 2010. "Iggy!", brüllte Crosby. Der Rest ist Geschichte.

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