Der sonderbare Perfektionist

Ole Einar Björndalen gewann bei den Spielen in Salt Lake City vier Goldmedaillen
© getty

Die Olympischen Winterspiele in Sotschi stehen vor der Tür. Bevor im Februar das Olympische Feuer brennt, widmet sich SPOX wieder den Olympic Moments. Teil vier erinnert daran, wie aus Ole Einar Björndalen in Salt Lake City 2002 "König Ole" wurde.

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Ein letztes Mal an den Schießstand. 46 Wettkampf-Kilometer hat er zu diesem Zeitpunkt bereits in den Beinen. Sein Atem wirft weiße Wolken in die eiskalte Luft der Rocky Mountains, der Blick, hinter der Sichtblende verborgen, nimmt die letzten fünf Scheiben ins Visier. Am Schaft seiner Waffe prangt ein auffälliges Aquarell des österreichischen Künstlers Peter Hiegelsperger. Es zeigt die großen blauen Augen eines Tigers.

Die Scheiben fallen. Schuss um Schuss finden ihr Ziel in 50 Meter Entfernung: Sie werden der Grundstein sein für den größten Moment in der Karriere des besten Biathleten aller Zeiten.

Schnell, aber nicht treffsicher

Er ist der Größte, der "Kannibale", der "Außerirdische". Niemand hat so viel und so oft gewonnen wie er, seit zwei Jahrzehnten kennt man den beliebtesten Wintersport der Deutschen nur mit ihm. War die Sternstunde vor fast zwölf Jahren also vorgezeichnet?

Der Blick zurück verklärt gern: Als Ole Einar Björndalen im Februar 2002 nach Salt Lake City reist, gehört er seit Jahren zur Weltspitze, ist aber keineswegs der alles überragende Mann: 19997/98 gewinnt er mit 24 Jahren seinen ersten Gesamtweltcup, muss sich in den folgenden Jahren aber Sven Fischer und gleich zweimal dem französischen Meisterschützen Raphael Poiree beugen.

Björndalen, der Ästhet auf den dünnen Brettern, der fast schwerelos durch den Schnee zu gleiten scheint, ist regelmäßig der schnellste Mann in der Loipe - aber eben nicht der treffsicherste. Deshalb reicht es oft nicht zum großen Triumph: In den drei Weltmeisterschaften vor Salt Lake City bleibt er ohne Titel, überhaupt hat er erst einen einzigen WM-Triumph vorzuweisen (1998 in Hochfilzen im letztmals ausgetragenen Mannschaftswettbewerb).

Freiwillige Strafrunde bei den Langläufern

Damit gehört er in Utah, mit 28 Jahren auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft angelangt, zwar zum Favoritenkreis, aber mehr eben nicht. In der laufenden Weltcup-Saison schafft er in den ersten sechs Stationen nur zwei Siege (Poiree hat vier, der Russe Pavel Rostovzev drei). Aber das liegt eben auch daran, dass es für ihn nur ein großes Ziel gibt, dem er alles unterordnet. In Soldier Hollow will er es wissen - und zwar nicht nur im Biathlon.

Für hohe Wellen sorgt sein ehrgeiziger Plan, neben den vier Biathlon-Disziplinen - der Massenstart gehört erstmals 2010 zum Programm - auch im Langlauf an den Start zu gehen. 30 Kilometer gegen die schnellsten Männer der Welt, und das nur Tage vor dem kräftezehrenden Einzelwettkampf über noch einmal 20 Kilometer! Vier Jahre auf ein Ziel hinarbeiten, nur um dann kurz zuvor das Pulver zu verschießen?

Der 1,79 Meter große, drahtige Modellathlet stürzt sich dennoch ins Getümmel des Massenstarts. Dabei zehrt er von lange zurückliegender Erfahrung: Zwölf Jahre zuvor hatte Björndalen mit 16 gleich drei nationale Langlauftitel gewonnen. Er macht ein fantastisches Rennen und kämpft auf den letzten Metern noch um eine Medaille - aber die pure Urkraft eines Spezialisten geht dem Edeltechniker ab: Im Zielsprint fehlen 1,8 Sekunden auf die Bronzemedaille von Pietro Piller Cottrer.

Der Perfektionist und sein Staubsauger

Ist das nun Triumph oder niederschmetternde Niederlage? Einen psychischen Knacks trägt Björndalen zum Leidwesen seiner Konkurrenten nicht davon - im Gegenteil: Seit sieben Jahren arbeitet er da schon mit seinem persönlichen Mentaltrainer Oyvind Hammer zusammen - einem Staubsaugervertreter. "Staubsauger sind wichtig für mich", bekennt er einmal in der "FAZ". "Ich habe immer meinen eigenen Staubsauger dabei. Alles muss sauber sein." Schließlich dürfe man sich auf keinen Fall anstecken.

Wie genau sein Rasputin die entscheidenden Prozente aus ihm herauskitzelt, bleibt sein Geheimnis. Kein Geheimnis ist jedoch die geradezu besessene Einstellung Björndalens: Der Perfektionist trinkt keinen Alkohol ("Ich habe mit 12 gesagt: Wenn ich nie Alkohol trinke, dann schaffe ich es auch ohne Doping"), trainiert das ganze Jahr über in der Höhe seines Hauses im österreichischen Obertilliach, bezahlt jahrelang seinen ganz persönlichen Schießtrainer.

Aus Angst vor Bakterien schüttelt er keine Hände, trägt Desinfektionsmittel mit sich herum und gurgelt jeden Morgen mit Cognac. Ablenkung ist in Salt Lake City ebenfalls tabu: Seine damalige Freundin Natalie Santer trifft er wenige Male, ausschließlich in der Öffentlichkeit.

"Wusste nicht, ob es reichen würde"

48 Stunden nach seinem Langlauf-Start muss Björndalen dann wieder in die 1793 Meter hoch gelegene Loipe, als einer der ersten. Ein Nachteil gegenüber den anderen Favoriten wie Poiree, Halvard Hanevold und der deutschen Phalanx um Fischer, Ricco Groß und Frank Luck. Er lässt es für seine Verhältnisse langsam angehen, sucht seinen Rhythmus, konzentriert sich auf seine Ski. Null Fehler im ersten Liegendanschlag bedeuten erst einmal die Führung.

Danach läuft es aber nicht mehr rund: Je ein Fehler im zweiten Liegend- und ersten Stehendschießen machen die Hoffnungen auf den Sieg schon fast zunichte. Björndalen ist schnell, aber zwei Strafminuten? Zum Vergleich: Bei den Spielen 1998 hatten die besten vier Athleten nicht mehr als einen Fehler geschossen. Also alles schon verloren? Es ist ja ohnehin nicht seine Disziplin. Zu schießlastig.

Aber Björndalen kämpft, und kommt mit der Höhe besser zurecht als viele seiner Konkurrenten. Im letzten Anschlag lässt er sich am Schießstand fast eine Minute Zeit - und bleibt fehlerfrei. Nach einer starken letzten Runde setzt er die Bestzeit. Aber was ist sie wert? "Es war nicht mein bestes Rennen", gibt er danach zu. "Ich wusste nicht, ob es reichen würde."

Zittern im Zielbereich

Doch die übrigen Favoriten, sie straucheln. Einer nach dem anderen. Raphael Poiree schießt ebenfalls zwei Fehler, Luck und Hanevold, beide weit über 30, können auf den Brettern nicht mithalten. Als letzter der 87 Athleten geht Björndalens Landsmann Frode Andresen ins Rennen. Der Ausnahmeläufer wackelt regelmäßig mit der Waffe, doch an diesem Tag finden die ersten 15 Schuss ihr Ziel. Nach drei Runden hat er fast 90 Sekunden Vorsprung, so dass er vor dem entscheidenden Schießen sogar Tempo herausnehmen kann.

Im Zielbereich zittert Björndalen ("Es war schlimmer, Frode beim Schießen zuzuschauen, als selbst ran zu müssen") - und im Anschlag zittert schließlich auch Andresen. Drei Fehler bedeuten am Ende Platz sieben, Ole Einar holt Gold.

Der Schießtrainer, die unzähligen Höhenmeter - es hat sich bezahlt gemacht. "Für diese Art Rennen habe ich schon so lange trainiert. Endlich hat es geklappt", jubelt der Sieger erleichtert. Auf dem am höchsten gelegenen Kurs der Welt hat der Mann mit den miserablen Hämoglobinwerten ("Mit meinen Blutwerten kann man eigentlich gar nicht schnell laufen") allen ein Schnippchen geschlagen.

Björndalen ruht in sich

Wer soll den Norweger jetzt noch stoppen? In seiner Paradedisziplin, dem 10-Km-Sprint, bleibt der Titelverteidiger von Nagano zwei Tage später ohne Fehlschuss und gewinnt überlegen mit fast 29 Sekunden Vorsprung auf Sven Fischer, der einmal in die Strafrunde muss. Mit drei Goldmedaillen ist er nun der am höchsten dekorierte Biathlet in der noch relativ jungen Geschichte des Sports. Wie fühlt man sich nach einem solchen Triumph?

Die Antwort überrascht - und ist doch typisch Björndalen. "Eine Goldmedaille mehr oder weniger, das ist mir nicht wichtig", wehrt er nach dem Rennen ab. "Für mich ist es viel bedeutsamer, ein ums andere Mal das perfekte Rennen abzuliefern. Wenn ich dann vorne bin, dann gewinne ich eben. Aber wenn ein anderer an diesem Tag besser war, dann bin ich trotzdem zufrieden."

So klingt ein Sportler, der in sich ruht. Das neu eingeführte Verfolgungsrennen über 12,5 Kilometer wird für Björndalen zum Triumphzug, er muss zu keiner Zeit die Führung abgeben und gewinnt mit über einer Minute Vorsprung vor Poiree. "Das ist unglaublich", ist er danach um Worte verlegen. "Ich bin in guter Form und schieße schnell und fehlerfrei - manchmal zumindest."

"Von einem anderen Stern"

Dafür spart die Konkurrenz nicht mit Lob. "Er ist phänomenal, er kommt von einem anderen Stern", staunt Bundestrainer Frank Ulrich, der nach dem Langlauf-Ausritt des Norwegers "auch skeptisch" gewesen war. "Er schwimmt jetzt auf eine Welle des Erfolges." Für Andere ist er einfach nur noch der "Außerirdische".

Die Aura des Unbesiegbaren färbt am letzten Wettkampftag ab auf seine Staffelkollegen Hanevold, Andresen und Egil Gjelland. Mit über einer Minute Vorsprung schicken sie ihn auf seine letzten 7,5 Kilometer der Spiele - da sind selbst drei Nachlader, ein gebrochener Stock und ein kleiner Stolperer in der Abfahrt nur Makulatur.

Als er nach einer Stunde und knapp 24 Minuten seinen Teamkollegen in die Arme fällt, ist er der erfolgreichste Olympionike seit Eric Heiden 1980 und der König seines Sports. Ein möglicher fünfter Titel bleibt vielleicht nur deshalb aus, weil er für die Langlaufstaffel der Spezialisten nicht nominiert wurde (sie gewann Gold).

"Ich bin noch nicht tot!"

Björndalen kann damit trotzdem gut leben. "Als Held der Spiele fühle ich mich nicht. Ich wollte einen guten Job in den vier Rennen machen. Das ist mir mit den vier Goldmedaillen gelungen", bleibt er gewohnt bescheiden. Wie genießt man einen solchen Triumph, wollen die Journalisten wissen. Naja, feiern wolle er jetzt - "aber ohne Alkohol".

In seiner Heimat Norwegen bleibt dagegen kein Auge trocken: Die Zeitungen küren ihm zum neuen Björn Dählie, zu Ehren seiner Erfolge in Salt Lake City errichtet seine Heimatstadt Simostranda eine 500 Kilogramm schwere, lebensgroße Bronzestatue ihres Volkshelden - unter den Gästen der Zeremonie ist auch König Harald.

"Meine erste Reaktion war: 'Ich bin noch nicht tot! Meine Karriere ist noch nicht einmal vorbei'", schmunzelt Björndalen gegenüber dem "Sport Express". "Aber ich muss sagen, dass mir das Ergebnis sehr gut gefällt."

Wie lange noch?

Fast zwölf Jahre sind seitdem vergangen, weitere Medaillen bei Weltmeisterschaften und Olympia sind dazugekommen. Sämtliche Rivalen von damals haben ihr Gewehr bereits an den Nagel gehängt - nur "König Ole" quält sich mit fast 40 Jahren immer noch die Anstiege hinauf. Ganz nach vorn reicht es kaum noch, auch wenn er sich für Sotschi unzweifelhaft viel vorgenommen hat. Ob er danach aufhört, ist übrigens noch lange nicht in trockenen Tüchern. "Ich liebe Biathlon einfach", sagt er. "Ich trainiere gerne und will mich immer verbessern."

Wovor er am meisten Angst habe, wurde er einmal gefragt: "Wenn ich meine eigene Zeit nicht schlagen kann." Wer wie Björndalen seine Motivation nicht aus dem Kampf gegen längst verschwundene Gegner, sondern aus dem Kampf gegen sich selbst, aus der Suche nach dem perfekten Rennen zieht, der kann weitermachen, auch wenn es nur noch sporadisch aufs Siegertreppchen reicht.

Es wird schwer werden mit einer Medaille in Sotschi - aber das war für ihn zum Glück noch nie entscheidend.

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