Julian Nagelsmanns wichtigste Aufgabe bis zur EM: Das Mittelfeld-Puzzle beim DFB-Team

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Trotz enormer individueller Qualität gleicht das Mittelfeld der deutschen Nationalmannschaft seit langem einer Baustelle - bei der Heim-Europameisterschaft soll es endlich zum Prunkstück werden. Toni Kroos und Ilkay Gündogan machen mit ihren Leistungen auf Klub-Ebene Hoffnung. Damit das Unterfangen aber wirklich klappt, muss Bundestrainer Julian Nagelsmann seine wohl wichtigste Aufgabe lösen.

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Julian Nagelsmann hat bei seiner Kader-Nominierung einige wahrlich überraschende Entscheidungen getroffen. Mit Leon Goretzka und Mats Hummels überging er beispielsweise zwei renommierte Nationalspieler, stattdessen berief er gleich sechs Neulinge (von denen Aleksandar Pavlovic krankheitsbedingt absagen musste). Eher keine Überraschung war dagegen Nagelsmanns Verzicht auf den Nationalspieler des Jahres 2023.

Um wen es sich handelt? Richtig, Emre Can. Sein DFB-Leistungsnachweis 2023: sechs Einsätze, vier Niederlagen, kein Scorerpunkt und auch ansonsten keine nennenswerten Glanzlichter. Bei den bisherigen vier Partien unter Nagelsmann fehlte er gänzlich. Dass der Mittelfeldspieler von Borussia Dortmund bei der Fan-Abstimmung dennoch gewann, offenbarte den Zustand der deutschen Nationalmannschaft ganz wunderbar.

Wer es nicht mitbekam, weil er sich bereits nach der verheerenden WM in Katar 2022 von der Nationalmannschaft abgewendet hatte: 2023 war eines der dunkelsten Jahre der DFB-Geschichte. So dunkel, dass sich die Fans nur mehr mit Sarkasmus zu helfen wussten. Cans Wahl zum Nationalspieler des Jahres war das Resultat einer Spaß-Kampagne in den sozialen Netzwerken. Gewissermaßen steht es exemplarisch für die Mittelfeld-Tragödie des DFB-Teams.

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Das Mittelfeld im DFB-Team: Viel Klasse, keine funktionierende Zusammensetzung

Tatsächlich verfügt Deutschland seit vielen Jahren über einige der besten Mittelfeldspieler der Welt. Das beweist ein schneller Blick auf die neuesten Champions-League-Sieger: 2016, 2017 und 2018 triumphierte Real Madrid mit Toni Kroos. 2020 der FC Bayern mit Leon Goretzka und Joshua Kimmich, der beim Final-Turnier als Rechtsverteidiger aushelfen musste. 2022 abermals Real mit Kroos. 2023 gefolgt von Ilkay Gündogans Manchester City, 2021 außerdem unterlegener Finalist.

So talentiert sie auch alle sind, eine funktionierende Zusammensetzung wollte sich im DFB-Team bisher einfach nicht finden lassen. Zu viele Achter, zu wenig Absicherung. Ein bisschen wie früher mit Steven Gerrard und Frank Lampard in der englischen Nationalmannschaft. Der ehemalige Bundestrainer Hansi Flick legte sich auf Kimmich fest und suchte vergeblich nach einem passenden Nebenmann. Cans Wahl zum Nationalspieler des Jahres ist das Denkmal dieser gescheiterten Strategie.

Dass sich daran unter Flicks Nachfolger etwas grundsätzlich ändert, deutete sich zunächst nicht an. Nagelsmann hatte Kimmich schließlich schon beim FC Bayern im Mittelfeld eingesetzt, tatsächlich war er sein wichtigster Vertrauter in der Mannschaft. Nachdem Kimmich die USA-Reise im Oktober verpasst hatte, durfte er bei der Testspiel-Pleite gegen die Türkei im November (neben Gündogan) im Zentrum beginnen. Gegen Österreich setzte Nagelsmann auf Goretzka und Gündogan, Kimmich wurde als Mittelfeldspieler eingewechselt - die nächste Pleite.

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DFB-Team: Julian Nagelsmanns Umdenken - und die Folgen

In aller Verzweiflung folgte anschließend des Bundestrainers großes Umdenken. Das Ergebnis: Nagelsmann überredete Kroos zu einem Comeback, der nach der EM 2021 zurückgetreten war. Durchaus interessant ist diesbezüglich, dass beide von der gleichen Berateragentur vertreten werden. Zur Seite gestellt werden soll Kroos fortan ein kampfstarker Partner, die heißesten Kandidaten sind Robert Andrich und Pascal Groß. Gündogan ist nun auf der Zehn eingeplant und Kimmich auf seiner ungeliebten ehemaligen Position als Rechtsverteidiger. All das verriet Nagelsmann bei seiner Pressekonferenz im Rahmen der Kader-Bekanntgabe erstaunlich offen.

Diese Entscheidungen haben weitreichende Folgen. Einerseits wirbelte Nagelsmann damit die Mannschafts-Hierarchie wild durcheinander: Der fünfmalige Champions-League-Sieger Kroos kehrt automatisch als absoluter Führungsspieler zurück, nach dann 18-monatiger Verletzungspause wird zur EM auch Ex-Kapitän Manuel Neuer sein DFB-Comeback feiern. Die Binde behält dennoch Gündogan. Kimmich, im Herbst noch Interims-Kapitän, dürfte im Binden-Ranking plötzlich nur noch auf Platz vier liegen.

Andererseits baut Nagelsmann auch seine Aufstellung kurz vor EM-Beginn radikal um. Referenzwerte über die Funktionalität der neuen Ausrichtung gibt es kaum. Mit Gündogan in einer offensiveren Rolle vor Kroos sowie einem weiteren Sechser bestritt das DFB-Team vor langer Zeit neun Länderspiele (fünfmal war Gündogan dabei lediglich Joker). Sieben dieser Partien gewann Deutschland, dazu setzte es zwei Remis gegen Frankreich. Als Kroos' Nebenmänner auf der Sechs fungierten damals unter anderem Bastian Schweinsteiger, Sami Khedira - und Joshua Kimmich.

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"Der beste Mittelfeldspieler der Welt": Toni Kroos überzeugt bei Real Madrid

Kroos kommt bei Real seit Jahren vornehmlich als Achter zum Einsatz. Zunächst lange in einem 4-3-3-System neben Luka Modric und vor Casemiro, zuletzt mit wechselnden Partnern und Systemen. Trotz der hochkarätigen Konkurrenz um Eduardo Camavinga, Aurélien Tchouaméni und Federico Valverde hat der 34-Jährige seinen Stammplatz unter Trainer Carlo Ancelotti bis heute gehalten. Aber nicht nur das: Kroos ist weiterhin einer der prägendsten Akteure der königlichen Auswahl.

"Er spielt eine extrem stabile Saison bei Real Madrid. Er ist aktuell in Europa der Spieler mit den meisten überspielten Gegnern - und zwar mit Abstand", betonte Nagelsmann und bezog sich damit auf den sogenannten Packing-Wert. "Jeder, der noch von Querpass-Toni schreibt, hat keine Ahnung vom Fußball." Kroos' generelle Passquote von 94,66 Prozent sowie von 89,03 Prozent bei Zuspielen ins Angriffsdrittel sind europäische Spitzenklasse. Nach einer starken Vorstellung im Derby gegen Atlético Madrid huldigte die spanische Marca Kroos kürzlich als "besten Mittelfeldspieler der Welt".

In der Nationalmannschaft will Kroos künftig für "Präsenz sorgen" und "Kontrolle herstellen", wie er bei einer Pressekonferenz am Dienstag betonte. Nagelsmann lobte den Rückkehrer für dessen "gute Ruhe", in "Momenten des Drucks" hofft er auf Kroos' Erfahrung und Ballsicherheit. "Da muss man stabil sein, was den Kopf angeht. Da geht es darum, nicht nervös zu werden, nicht zu viele Bälle zu verlieren. Er kann ein genialer Verbindungsspieler zwischen Defensive und Offensive sein."

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Ilkay Gündogan glänzt mit starken Statistiken beim FC Barcelona

Vor Kroos auf der Zehn plant Nagelsmann nun mit Gündogan. Kroos' Rückkehr habe er "positiv aufgenommen", betonte der 33-Jährige in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Nagelsmann habe ihn in einem Telefonat "direkt gefragt", ob er ein Problem damit hätte. "Ich habe ihm sofort gesagt, dass ich damit total einverstanden bin und noch nie ein Problem mit Toni hatte. Sondern, dass wir uns im Gegenteil sehr schätzen und gut verstehen." Nun wolle Gündogan "den Kritikern beweisen, dass Toni und ich zusammenpassen und dem deutschen Spiel unseren Stempel aufdrücken können".

Seit seinem Sommer-Abschied von Manchester City spielt auch Gündogan in Spanien, liegt mit seinem FC Barcelona in der Tabelle aber acht Punkte hinter Kroos' Real. Wie Kroos ist auch Gündogan in seinem Klub unumstritten gesetzt. Wie Kroos kommt auch er meist auf der Acht zum Einsatz, vereinzelt gab er aber auch den alleinigen Sechser. Die ihm nun von Nagelsmann anvertraute klassische Zehn gibt es in Xavis 4-3-3-System nicht.

Immerhin sind Gündogans Statistiken die eines Zehners: In 42 Pflichtspielen gelangen ihm bereits 15 Scorerpunkte. Außerdem kreierte er in dieser Saison wettbewerbsübergreifend 111 Torchancen, das übertrifft in Europas Top-Fünf-Ligen lediglich Bruno Fernandes von Manchester United.

Mit Pascal Groß, Leroy Sané und Florian Wirtz befinden sich in diesem Ranking drei weitere deutsche Nationalspieler unter den ersten Sieben. Wirtz und Sané sollen sich gemeinsam mit Jamal Musiala um die beiden Plätze seitlich von Gündogan duellieren. Groß mit Robert Andrich - und womöglich Aleksandar Pavlovic - um den Platz als defensiv- und kampfstarker Sechser neben Kroos.

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Julian Nagelsmanns wichtigste Aufgabe? Nebenmann für Toni Kroos finden

Den richtigen Spieler für diese Position und somit das Mittelfeld-Gleichgewicht zu finden, dürfte Nagelsmanns wichtigste Aufgabe bis zur EM sein. Löst er sie, könnte gemeinsam mit den formstarken Kroos und Gündogan aus einem seit vielen Jahren dysfunktionalen Mannschaftsteil das neue Prunkstück des DFB-Teams werden. Es bleiben vier Testspiele: am Samstag in Frankreich, am Dienstag gegen die Niederlande und direkt vor dem Turnier gegen die Ukraine und Griechenland.

Andrich (29) war bei Bundesliga-Spitzenreiter Bayer Leverkusen im Herbst meist Ersatz, ehe er von Exequiel Palacios' Verletzung profitierte und den Posten als Nebenmann von Granit Xhaka übernahm, vereinzelt spielte er auch als Innenverteidiger. Nach Palacios' Comeback musste Andrich zuletzt wieder weichen, doch nun fällt der Argentinier erneut aus. Groß (32) ist bei Brighton im 4-2-3-1-System unumstritten gesetzt. Meist auf der Doppelsechs, bisweilen musste er aber auch schon als Außenverteidiger oder auf der Zehn aushelfen.

Nationalmannschafts-Erfahrung haben beide kaum. Groß debütierte im September unter Flick und stand anschließend auch unter Nagelsmann stets im Kader, Andrich feierte erst im November gegen Österreich per Einwechslung sein Debüt. Bei den beiden anstehenden Testspielen dürften sie Bewährungschancen bekommen. Anders als Leon Goretzka, der langjährige Nationalspieler fehlt überraschend im Aufgebot.

Goretzkas Nichtberücksichtigung begründete der Bundestrainer zumindest indirekt mit Sorgen darüber, dass der 29-Jährige ein mögliches Reservisten-Dasein nicht entsprechend annehmen würde. "Es geht darum, die passenden Spieler für die Rollen zu finden", erklärte Nagelsmann vielsagend. Setzt sich Goretzka aufsteigende Formkurve beim FC Bayern fort, ist eine Rückkehr zur EM denkbar. Beachtlich ist aber, dass er trotz Pavlovics Ausfall nicht nachnominiert wurde - und dass seine langjährige Rückennummer 8 künftig Kroos tragen wird.

Beim FC Bayern glänzten Goretzka und Pavlovic zuletzt als wunderbar harmonierende Doppelsechs und taten Nagelsmann damit gewissermaßen einen großen Gefallen: Bayern-Trainer Thomas Tuchel konnte dass Duo aufgrund der starken Leistungen partout nicht trennen - und musste somit eine neue Position für Kimmich finden. Also schob ihn Tuchel nach rechts hinten, wo er sich nun für die EM einspielen kann.