"Totale Eskalation" wegen einer geraubten Fahne? Wie das tote Münchner Stadtderby zwischen dem FC Bayern und dem TSV 1860 weiterlebt

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Seit nunmehr 20 Jahren spielen die großen Münchner Rivalen FC Bayern und TSV 1860 nicht mehr in einer Liga. Wie überlebt das traditionsreichste Stadtderby Deutschlands dennoch?

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Eigentlich wollen die Fans des TSV 1860 überhaupt gar nichts mehr mit dieser Allianz Arena neben dem Müllberg am Fröttmaninger Autobahnkreuz zu tun haben. Nach dem Totalabsturz von 2017 durften sie endlich zurück in ihre wahre Heimat Giesing, zurück ins Grünwalder Stadion, das sie wie selbstverständlich Sechzger Stadion nennen, obwohl es ihnen gar nicht gehört.

Präsent sind die Löwen in der Allianz Arena aber dennoch bis heute. Und zwar dann, wenn die erfolgsverwöhnten Fans des FC Bayern an ihren tief gefallenen, drittklassigen, von internen Streitereien zerfressenen Stadtrivalen denken. Ein würziges "Scheiß 1860" gehört genauso zum etablierten Gesangs-Repertoire wie das wunderbar melodische Lied von den Giasinga Bauern, die mit der S-Bahn aufs Land fahren - lautstark zu hören beispielsweise beim letzten Heimspiel dieser Saison gegen den VfL Wolfsburg. Manchmal gibt es auch ein 1860-Logo im Fadenkreuz zu sehen. Beziehungsweise, um genau zu sein: ein 1859-Logo. Nur nicht die verbotene Zahl zeigen!

"Das ist natürlich geil", ruft Christian Jung im Gespräch mit SPOX und lacht fast schon triumphal. Jung schreibt für das Portal sechzger.de, seinen Löwen folgte er schon in der Bayernliga mit der S-Bahn und im Europapokal mit dem Flugzeug. Die Häme der Bayern-Fans erachtet er als Anerkennung: "Es ist Wahnsinn, dass wir immer noch so eine Bedeutung für sie haben. Während sie um Europas Fußball-Krone kämpfen, beschäftigen sie sich mit unserem abgestürzten Chaosverein."

Ob es richtig ist, dem sportlich längst bedeutungslosen Rivalen eine solche Aufmerksamkeit zu schenken, darüber gibt es auch unter Bayern-Fans verschiedene Meinungen. "Ich persönlich finde es ganz nett, ein bisschen gegen die Blauen zu schießen, wenn das Spiel sportlich gerade langweilig ist", sagt Alexander Salzweger zu SPOX. Salzweger ist Sprecher der Fanvereinigung Club Nr. 12. "Andere fragen aber auch: 'Warum arbeiten wir uns an diesen Bauern ab?'"

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Franck Ribérys Chip entscheidet das letzte Münchner Derby

In der Bundesliga trafen die Profimannschaften der Münchner Rivalen letztmals in der Saison 2003/04 aufeinander, vor genau 20 Jahren also. Dann verschoss Francis Kioyo den TSV 1860 in die Zweitklassigkeit. Das bis heute letzte Profi-Derby stieg im Februar 2008 im Viertelfinale des DFB-Pokals. "In der ganzen Stadt hat es richtig geknistert", erinnert sich Danny Schwarz im Gespräch mit SPOX. "Leider hat es für uns sehr bitter geendet."

Uns war für Schwarz als Löwen-Kapitän damals blau, später färbte es sich rot. Seine aktive Karriere ließ er bei der Reserve des FC Bayern ausklingen, dann startete er im roten Nachwuchs seine Trainerlaufbahn. "Ich hätte damals nicht gedacht, dass es so lange kein echtes Derby gibt."

Für die Entscheidung beim Pokal-Duell, in dem die zweitklassigen Löwen aufopferungsvoll gekämpft hatten, sorgte Franck Ribéry. In der Nachspielzeit der Verlängerung chippte er einen höchst umstrittenen Elfmeter im zweiten Versuch ins Tor und seine Bayern ins Halbfinale. Die erste große Heldentat des wilden Franzosen, der zu einer Ikone des FC Bayern avancieren sollte. "Das war geil und sehr wichtig", sagt Salzweger. "Sonst würden sie sich ewig dafür feiern, dass sie das letzte Profi-Derby der Historie gewonnen haben."

Tatsächlich scheint das Münchner Derby mit diesem Ribéry-Chip gewissermaßen gestorben zu sein - und damit das traditionsreichste Stadtderby Deutschlands. Keines ist schließlich älter, keines wurde häufiger ausgetragen. Seit der Premiere 1902 traten der FC Bayern und der TSV 1860 in 164 Pflichtspielen gegeneinander an. Wenig überraschend spricht die Bilanz mit 86 zu 38 Siegen deutlich für die Roten.

Spitzenreiter München: Die häufigsten Stadtderbys Deutschlands

Stadt

Derby

Duelle

Erstmals

Letztmals

München

FC Bayern gegen TSV 1860

164

1902

2008

Hamburg

HSV gegen St. Pauli

111

1919

2024

Leipzig

Chemie gegen Lokomotive (inklusive Vorgängerklubs)

111

1909

2024

Stuttgart

VfB gegen Kickers

104

1912

1992

Berlin

Union gegen BFC Dynamo (inklusive Vorgängerklubs)

54

1966

2006

Aufgrund des ersten großen Löwen-Absturzes in die Bayernliga gab es von 1981 bis 1994 bereits eine lange Derby-Pause, immerhin stiegen in diesem Zeitraum aber einige Testspiele. Eine Wiedergeburt des TSV 1860 erschien damals außerdem wahrscheinlicher als heute, wirtschaftlich lagen die Klubs trotz der sportlichen Diskrepanz deutlich näher beieinander. "So groß wie heute war der Unterschied noch nie. Ich wüsste auch nicht, wie sich das auf lange Sicht ändern sollte", sagt Löwen-Fan Jung. Möglich sind derzeit nicht einmal Duelle im DFB-Pokal, in dieser Saison verpasste der TSV 1860 zum zweiten Mal hintereinander sogar die Qualifikation.

Ja, das Münchner Derby ist tot - aber lang lebe das Münchner Derby! Auch wenn es keine Duelle der Profimannschaften mehr gibt, so lebt die Rivalität seit dem letzten Derby von 2008 dennoch weiter. Auf Münchens Straßen und Stromkästen, auf den Rängen und im Jugendfußball, im Sechzger Stadion und in der Hermann-Gerland-Kampfbahn, was übrigens das gleiche ist.

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© Nino Duit

Rot-blaues München: Stromkästen wie Chamäleons

"Eigentlich ist es pervers", gibt Bayern-Fan Salzweger zu. Aber dennoch: "Gerade bei unseren jungen Fans ist die Rivalität mit Sechzig sehr ausgeprägt, obwohl viele von ihnen noch kein Profi-Derby miterlebt haben. Die Jungen wollen die Geschichten der Alten nachleben." Jung, mit seinen 49 Jahren diesbezüglich verwirrenderweise dennoch eher der Kategorie Alt zuzuordnen, weiß von den Löwen Ähnliches zu berichten. Und zwar aus allererster Hand, sein Sohn ist schließlich im Umfeld der aktiven Fanszene beheimatet.

Der Feind von nebenan ist halt immer noch der spannendste. In Ermangelung an sportlichen Duellen, wird sich in anderen Disziplinen gemessen. Wer überklebt mehr Sticker des Rivalen? Wer entwirft größere und schönere Graffitis? Wer schreibt den Namen seines Klubs oder seiner Fangruppe an mehr öffentlich sichtbare Orte? "In letzter Zeit hat sich vor allem das Stromkasten-Bemalen zu einem großen Wettkampf entwickelt", berichtet Salzweger. "Das finde ich schön, die Dinger sind eh so hässlich." Überall in München gibt es am Straßenrand rote und blaue Stromkästen, die auch mal wie Chamäleons über Nacht ihre Farbe wechseln.

Die optische Oberhand in München hat aktuell der FC Bayern, das gibt selbst Jung zu: "Außer in Giesing sind die Roten leider präsenter." Durch die Rückkehr ins Grünwalder Stadion sei ihm bei seinen Löwen "der Fokus auf Giesing" generell zu groß geworden: "Ich habe schon den Anspruch, dass wir für die ganze Stadt und nicht nur für unser Viertel stehen."

Der Grat zwischen Verschönerung und Straftat ist bei öffentlichen Malereien oder Schmierereien, je nachdem wie man es sieht, unterdessen schmal. Als 2020 beispielsweise die historischen Mauern um das St.-Anna-Kircherl am Harlachinger Berg mehrmals die Farben wechselten, klagte der Pfarrvikar über einen Schaden im fünfstelligen Bereich. Prozesse gab es in jüngerer Vergangenheit auch wegen bemalter S-Bahn-Waggons.

Vermehrt kam es darüber hinaus zu tätlichen Auseinandersetzungen zwischen den aktiven Fanszenen. 2019 griffen Löwen-Fans ein Lokal im Westend an, in dem sich Bayern-Anhänger mit befreundeten Fans des FC Carl-Zeiss Jena aufhielten. Jena gastierte damals für ein Drittligaspiel gegen den TSV 1860 in München. Derartige Partien gegen Freunde des Feindes dienen Fanszenen als willkommene Stellvertreter-Duelle, so war es auch zu Zweitliga-Zeiten der Löwen bei Spielen gegen die roten Freunde vom VfL Bochum. Keinen konkreten Anlass brauchte es im März 2023 für eine Schlägerei zwischen Roten und Blauen an der Implerstraße, wenige Tage später folgte eine Auseinandersetzung am Wettersteinplatz nach einem Regionalligaspiel der Bayern-Reserve im nahen Grünwalder Stadion.

Gedanken an den Stadtrivalen: Die Stimme der Fans im nachfolgenden Video

TSV 1860: In die Allianz Arena und zurück nach Giesing

Das Grünwalder Stadion ist das historische Herz des Münchner Fußballs. 1911 vom TSV 1860 erbaut, spielte hier zur Miete bald auch der FC Bayern. Finanzielle Schwierigkeiten zwangen die Löwen 1937 zu einem Verkauf an die Stadt München. 1972 übersiedelten beide Stadtrivalen ins neue Olympiastadion. Während die Roten heimisch wurden, kehrten die Blauen wann immer möglich nach Giesing zurück.

Nach dem Bundesliga-Aufstieg 1994 stellte der damalige Münchner Oberbürgermeister Christian Ude eine umfassende Renovierung und Vergrößerung der damals schon recht bruchbudenhaften Kultstätte in Aussicht. Löwen-Präsident Karl-Heinz Wildmoser entschied sich aber für eine Zukunft im Olympiastadion, bis es 2005 gemeinsam mit dem FC Bayern in die neue Allianz Arena ging.

Eröffnet wurde der hochmoderne Komplex mit einem Legendenspiel, die Löwen siegten knapp mit 3:2. Eine Erinnerung daran, dass sich die Rivalen früher mal auf Augenhöhe begegnet waren und manchmal sogar der TSV 1860 gewann. Während sich die Bayern wie zuvor mit dem Olympiastadion auch mit der Allianz Arena anfreundeten, ihr mit großen Siegen in der Champions League und auch mit tragischen Pleiten wie beim Finale dahoam von 2012 Leben einhauchten, so siechten die Löwen im bedeutungslosen Mittelfeld der 2. Bundesliga trostlos vor sich hin, degradierten sich aufgrund finanzieller Probleme alsbald zum Mieter und träumten immerzu von einer Rückkehr nach Giesing.

"Für uns war die Allianz Arena zwar die Heimspielstätte, aber kein klassisches Heimstadion", erinnert sich Löwen-Kapitän Schwarz. "Es hat sich komisch angefühlt." Nichts auf diesem Planeten wirkte grauer als die vielen leeren Sitzschalen bei schlecht besuchten Spielen des TSV 1860 in der Allianz Arena. Zwölf Jahre lang dauerte dieser regnerische Herbst. Dann stieg eine vom jordanischen Investor Hasan Ismaik üppigst finanzierte Söldner-Truppe ab, aufgrund fehlender Drittliga-Lizenz gleich so richtig bis in die viertklassige Regionalliga.

Trotz des sportlichen Fiaskos schwenkte die Stimmung beim TSV 1860 schnell in Euphorie um, bedeutete der Absturz schließlich eine neuerliche Rückkehr ins Grünwalder Stadion. "Ich habe diesen Sommer 2017 als glückliche Zeit in Erinnerung", sagt Jung. "Alle im Umfeld waren beseelt, dass wir mit unseren Kindern nochmal Heimspiele im Sechzger Stadion erleben dürfen."

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"Boah, was geht da ab?": Die Münchner Ama-Derbys

Schon vor der Löwen-Rückkehr von 2017 war die Rivalität zwischen den beiden Münchner Rivalen nirgendwo greifbarer als in dieser altehrwürdigen Spielstätte mit ihren vielen Namen. Städtisches Stadion an der Grünwalder Straße heißt sie offiziell, Grünwalder Stadion kurz. Weil sie die Löwen-Fans gerne als Sechzger Stadion vereinnahmen, erfanden die Roten den Begriff Hermann-Gerland-Kampfbahn. Ein Tiger als Namensgeber des Löwen-Reviers, welch Provokation! Seit jeher dient das Grünwalder Stadion beiden Reservemannschaften als Heimat, wobei Heimat nicht gleich Heimat ist.

So wie Schwarz als Löwen-Kapitän in der Allianz Arena fremdelte, so ging es ihm beim Rivalen im Grünwalder Stadion. "Mit den Bayern-Amateuren habe ich mich dort immer als Gast gefühlt, es ist nun mal traditionell das Sechzger Stadion", sagt Schwarz. Zumindest in der Fanszene der Bayern-Reserve bestünde laut Salzweger aber "eine sehr tiefe emotionale Bindung" mit der Hermann-Gerland-Kampfbahn. Bedingt auch durch große Triumphe unter dem langjährigen Erfolgstrainer der Reserve, vor allem dem Gewinn der Regionalliga Süd 2004. In jenem Jahr also, in dem die Löwen aus der Bundesliga verschwanden.

Während die Leistungsstärke der Profimannschaften fortan immer weiter auseinander driftete, begegneten sich die Reserven in der zunächst dritt- und später viertklassigen Regionalliga regelmäßig auf Augenhöhe. Mal gewannen die einen, mal die anderen. Je länger das letzte Duell der Profis zurücklag, desto mehr Fans pilgerten zu den Amateur-Derbys ins Grünwalder Stadion. Ab Anfang der 2010er Jahre entwickelten sich die liebevoll "Ama-Derbys" geraunten Duelle zu aufgeheizten Hochrisiko-Veranstaltungen. Aufgrund von Sicherheitsvorkehrungen wurden im einst fast 60.000 Zuschauer fassenden Stadion mittlerweile nur noch 12.500 zugelassen.

Tickets waren stets schnell vergriffen, die Fanszenen lieferten sich kreative und bisweilen hasserfüllte Duelle auf den Tribünen, die Polizei patrouillierte mit Großaufgeboten durch Giesing, das Fernsehen übertrug live. Derby-Siege schufen große Gefühle und einprägsame Bilder. Legendär, Tobias Schweinsteiger mit Strohhut am Zaun vor dem roten Block. Als der Bruder von Bayern-Ikone Bastian kürzlich als Trainerkandidat beim TSV 1860 gehandelt wurde, protestierten die Löwen-Fans wegen der Szenen von damals vehement.

"Die Ama-Derbys waren von der Stimmung her das Geilste, was ich je erlebt habe", erinnert sich Angelo Mayer im Gespräch mit SPOX. "Die Fans, der riesige Polizei-Aufmarsch. Wie ein kleines Kind habe ich immer rausgeschaut und mir gedacht: 'Boah, was geht da ab?'"

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FC Bayern und TSV 1860: Machtverhältnisse im Münchner Jugendfußball

Mayer stammt aus Schrobenhausen nördlich von München. Heute ist er 27 und spielt für den FC Pipinsried, früher war er ein Dauerbrenner beim großen Spektakel der kleinen Derbys. Die Rivalität kennt er aus roter und blauer Perspektive und nochmal aus roter. Als Kind hielt es Mayer mit den Bayern, ehe er 2008 im Alter von elf Jahren in die Löwen-Jugend wechselte und sich somit auf die Spuren etlicher Talente begab, denen beim TSV 1860 der Durchbruch gelungen ist: Lars und Sven Bender, Kevin Volland, Julian Weigl und so weiter.

Während die Profis längst abgehängt waren, stand der blaue Nachwuchs dem des Rivalen damals um nichts nach - eher im Gegenteil. "Zu meiner Zeit lag Sechzig bei der Jugendarbeit ein paar Schritte vor Bayern", erinnert sich Mayer. "Die Derbys waren immer relativ enge Spiele, aber auf alle Fälle mit mehr Siegen für Sechzig." Obwohl Bayern mehr Geld hatte und das nur rund 500 Meter entfernte Trainingsgelände des FC Bayern an der Säbener Straße weitaus professionellere Bedingungen bot. So leidenschaftlich wie Mayer vom "geschleckten Teppich-Rasen" dort schwärmt, will man nur noch eines: Gefühlvoll Diagonalpässe schlagen!

Das Jahr 2017 zementierte die Machtverhältnisse im Münchner Jugendfußball schließlich zugunsten des FC Bayern. Nach dem Absturz in die Regionalliga mussten die Löwen allerorts sparen und verabschiedeten sich im Zuge dessen aus den Junioren-Bundesligen, die Bayern eröffneten gleichzeitig ihren rund 70 Millionen Euro teuren Campus im Norden der Stadt. Erst in jüngerer Vergangenheit stabilisierte sich der TSV 1860 im Nachwuchsbereich wieder, die U19 kehrte beispielsweise 2022 in die A-Jugend-Bundesliga zurück.

Damals wie heute kennen sich die meisten Talente der Rivalen gut, viele besuchen die gleichen Leistungssportklassen in der Walter-Klingenbeck-Realschule in Taufkirchen oder im Theodolinden-Gymnasium unweit der beiden Trainingsgelände. Die Absolventenlisten der Schulen lesen sich wie ein Who is Who des Münchner Fußballs.

Auch aufgrund dieser engen Kontakte zwischen den Spielern empfand Mayer die Rivalität in der Jugend nicht so, "wie man sich das bei einem Derby eigentlich vorstellt". Zu den direkten Duellen kamen und kommen meist hauptsächlich Verwandte und Freunde, "Reibereien" hat er keine in Erinnerung. Wild wurde es zu Mayers Zeit erst nach dem Übergang von der A-Jugend zur Reserve. Plötzlich: Polizei, Fanmassen, Choreos, Gesänge. Plötzlich Derby wie aus dem Bilderbuch.

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Derby-Helden: Ein Lied, viele Autogrammkarten und eine gerettete Fahne

Mayer erlebte den Trubel von beiden Seiten, nach dem Löwen-Absturz von 2017 wechselte er zum FC Bayern und traf in der Regionalliga mit der roten Reserve auf die Profis seines Ex-Klubs, wobei Profis mittlerweile natürlich relativ war. Als Gipfel der Demütigung verloren die Löwen auch noch beide Regionalligaspiele gegen die Zweitvertretung des Stadtrivalen, stiegen am Saisonende aber immerhin dennoch in die 3. Liga auf.

Mit seinem Siegtor im ersten Profi-Reserve-Derby avancierte ein gewisser Fabian Benko zum roten Helden. "Dafür werden wir ihn ewig feiern", jubiliert Bayern-Fan Salzweger, sofort fällt ihm das dazugehörige Lied ein: "Wer schoss den Ball ins Löwen-Tor? Wer schoss den Ball ins Löwen-Tor? Wer schoss den Ball ins Löwen-Tor? Das war Fabian Benko!" Als der Linksaußen kurz nach seiner Heldentat zum Linzer ASK nach Österreich wechselte, "musste sein Vater Autogrammkarten verteilen, weil die Nachfrage so groß war". Mittlerweile spielt Benko gemeinsam mit Mayer in Pipinsried.

Heldenstatus im Rückspiel erlangte Thomas Isherwood. "Er kam zwar nicht zum Einsatz, hat sich nach Abpfiff aber mit Timo Gebhart angelegt, als der sich eine Bayern-Fahne schnappen wollte", erinnert sich Salzweger. Der Schwede Isherwood scheint die Bedeutung der Rivalität verinnerlicht zu haben, bei anderen aus dem Ausland importierten Talenten des FC Bayern sei das anders gewesen. "Natürlich identifiziert man sich dann nicht so mit dem Verein", sagt Mayer. Seinem Empfinden nach hätten die Derbys bei den Löwen intern "alle ernster genommen. Bei Sechzig war die Rivalität präsenter als bei Bayern."

FC Bayern gegen TSV 1860: Duelle seit dem letzten Profi-Derby

Saison

Liga

Heim

Gast

Ergebnis

2011/12

Regionalliga

FC Bayern II

TSV 1860 II

1:2

2011/12

Regionalliga

TSV 1860 II

FC Bayern II

0:1

2012/13

Regionalliga

TSV 1860 II

FC Bayern II

0:2

2012/13

Regionalliga

FC Bayern II

TSV 1860 II

0:1

2013/14

Regionalliga

FC Bayern II

TSV 1860 II

2:0

2013/14

Regionalliga

TSV 1860 II

FC Bayern II

2:1

2014/15

Regionalliga

TSV 1860 II

FC Bayern II

1:3

2014/15

Regionalliga

FC Bayern II

TSV 1860 II

1:0

2015/16

Regionalliga

FC Bayern II

TSV 1860 II

0:0

2015/16

Regionalliga

TSV 1860 II

FC Bayern II

2:0

2016/17

Regionalliga

TSV 1860 II

FC Bayern II

0:0

2016/17

Regionalliga

FC Bayern II

TSV 1860 II

0:2

2017/18

Regionalliga

TSV 1860

Bayern II

0:1

2017/18

Regionalliga

Bayern II

TSV 1860

3:1

2019/20

3. Liga

TSV 1860

Bayern II

1:1

2019/20

3. Liga

Bayern II

TSV 1860

2:1

2020/21

3. Liga

Bayern II

TSV 1860

0:2

2020/21

3. Liga

TSV 1860

Bayern II

2:2

schwarz
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Vom TSV 1860 zum FC Bayern: Geschichten der Überläufer

Fragen nach der Identifikation stellen sich aber selbstverständlich auch bei Mayer selbst mit Blick auf seinen brisanten Seitenwechsel. "Es war immer mein Kindheitstraum, einmal das Bayern-Trikot zu tragen. Für mich war das keine lange Überlegung", erinnert er sich. Die Fans der Bayern-Reserve überzeugte diese Argumentation zunächst nicht. "Bei meinem ersten Trainingslager haben sie ein Banner aufgehängt, auf dem stand: 'Feind bleibt Feind! Geh' weg du blaue Sau, zurück zum TSV!' Das hat mich getroffen."

Ähnlich war es beim Seitenwechsel seines späteren Trainers Danny Schwarz. Eineinhalb Jahre nach dem Pokal-Derby von 2008 hatte der damals 34-Jährige keine sportliche Perspektive mehr beim TSV 1860. "Ich wollte aber unbedingt weiterhin auf Profi-Niveau Fußball spielen", erinnert sich Schwarz. Bayerns damaliger Reserve-Trainer Mehmet Scholl suchte einen Routinier für seine junge Mannschaft, Schwarz willigte ein. "Ich fand das nicht so wild. Ich bin ja gebürtiger Schwabe und kein Ur-Sechzger." Und wie fanden es die Fans? "Eine kleine Gruppe hat mich bis zum Ende nicht akzeptiert, der große Teil hat mich nach kurzer Anlaufphase aber super aufgenommen."

An etwaige Anfeindungen von Seiten seines blauen Ex-Klubs kann er sich unterdessen nicht erinnern, Mayer geht es genauso. "Da muss man nachsichtig sein. Solche Wechsel gehören in einer Stadt dazu, selbst der legendäre Daniel Bierofka (einstiger Spieler und Trainer des TSV 1860, Anm. d Red.) hat eine rote Vergangenheit", erklärt Löwen-Fan Jung und belustigt sich über die Wut der Bayern. "Mir kommt das wie künstliche Aufregung vor. Bei all ihren Erfolgen müssen sie sich halt etwas suchen, über das sie sich aufregen können."

Vergleichswerte gibt es jedoch nicht, seit dem letzten Profi-Derby wechselte kein Spieler im Erwachsenenbereich vom FC Bayern zum TSV 1860. Wohingegen abgesehen von Mayer und Schwarz noch sechs weitere den umgekehrten Weg gingen, allesamt zur roten Reserve. Schwarz, aktuell für den FC 08 Homburg tätig, arbeitete nach seinem Karriereende bis 2021 als Jugendtrainer beim FC Bayern. Teilweise gemeinsam mit Co-Trainer Stefan Buck, einem weiteren blau-roten Überläufer dieser Zeit. Vor Wechseln zum Lokalrivalen riet Schwarz seinen Schützlingen nie explizit ab, ganz im Gegenteil: "Ich würde jedem Jugendspieler, der bei Bayern nicht auf die nötige Einsatzzeit kommt, einen Wechsel zu Sechzig empfehlen."

Diskutiert wurde dieser Schritt einst auch bei einem gewissen Aleksandar Pavlovic, der in Schwarz' U16 nicht über die Reservistenrolle hinauskam. Der TSV 1860 hatte Interesse, aber Pavlovic selbst blockte sämtliche Avancen vehement ab. Mittlerweile ist er 20, gilt als einer der größten Hoffnungsträger des FC Bayern und steht im deutschen EM-Kader.

Im Jugendbereich finden bis heute ab und an Wechsel zwischen den Rivalen statt, bei den Erwachsenen war Mayer 2017 der letzte Überläufer. Für Aufsehen sorgte 2021 dafür ein anderer Transfer: Ausgerechnet der Fanbeauftrage der Löwen Sebastian Weber kündigte bei seinem Herzensklub, um einen Posten beim Ordnungsdienst des FC Bayern anzutreten.

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"Ein riesiger Triumph": Der Fahnen-Raub von München

Historisch gilt der TSV 1860 als Arbeiterverein, der FC Bayern dagegen als Klub der gehobenen Schichten. Aber wie bei Rivalen anderer Städte mit ähnlichen Ursprungsgeschichten vermischte sich das Klientel im Laufe der Jahrzehnte auch in München. "Das ist nichts als ein Klischee", findet Schwarz und hat gleich einen Beweis parat: Der größte Löwen-Fan, den er kenne, sei ein Arzt. Na also, Akademiker! Auch Jung erachtet die Unterteilung generell als "nicht mehr haltbar" - wobei, wenn er es sich so recht überlegt, sieht er doch noch Unterschiede: "In unserer aktiven Fanszene gibt es mehr Fertige, mehr Assos. Zu den Roten zieht es eher die Kinder aus besseren Häusern."

Insgesamt verfügt München aber offenbar in allen Schichten über ausreichend Fußball-interessierten Nachwuchs, die aktiven Fanszenen beider Klubs sind nach Auskunft der Insider in den vergangenen Jahren gewachsen. Ob der langen Erfolglosigkeit erscheint das vor allem bei den Löwen beachtlich. "Es muss die Roten total fuchsen, dass wir immer noch Zulauf bekommen, obwohl wir sportlich nichts auf die Kette kriegen", sagt Jung. "Aber es macht halt einfach Spaß, im Sechzger Stadion Fußball zu schauen." Der Grünspitz mit seinen kleinen Buden, das Giesinger Bräustüberl, die vielen Boazn. Ja, die Umgebung des Grünwalder Stadions bietet mehr Leben als es die Arena-Esplanade je wird.

Und wie läuft es innen drinnen in den Stadien? Beim FC Bayern etablierte sich die Schickeria als dominierende Ultra-Gruppierung, bei den Löwen ist die Situation dagegen etwas unklar. "Die Stimmung ist zwar gut, es gibt aktuell aber anscheinend keine führende Gruppe, sondern viele kleinere, die untereinander zerstritten sind", sagt Jung.

Mitverantwortlich für diese Entwicklung waren ausgerechnet Bayern-Fans, indem sie 2016 die Zaunfahne der bis dahin tonangebenden Giasinga Buam raubten. Qua Ultra-Kodex mussten sie sich daraufhin auflösen. "Für unsere Ultras war das ein riesiger Triumph", sagt Salzweger. "Das Ding ist sicher gut versteckt, irgendwann wird es präsentiert." Und dann? "Dann eskaliert es total", vermutet Löwen-Fan Jung.

Wer ist der größte Rivale? Die Stimme der Fans im nachfolgenden Video

FC Bayern gegen den TSV 1860: Es gibt nur ein Derby

Potentielle Anlässe für eine derartige Präsentation wurden zuletzt immer seltener, mittlerweile ist nämlich nicht nur das Profi-Derby gestorben. Seit 2021 gibt es nicht einmal mehr unterklassige Duelle. Ein Jahr nach dem sensationellen Meistertitel unter Sebastian Hoeneß stieg Bayerns Reserve aus der 3. Liga ab, eine baldige Rückkehr erscheint ob der Strategieänderung im Nachwuchsbereich unwahrscheinlich. Der FC Bayern plant seine Zweitvertretung vermehrt als U19 ohne ältere Stützen, die Drittliga-Rückkehr ist kein übergeordnetes Ziel mehr. Die Löwen-Reserve steckt unterdessen in der fünftklassigen Bayernliga Süd fest.

Eine kleine Ausnahme der Derby-Dürre bildete 2022 immerhin ein Legendenspiel, als Anlass diente der 50. Geburtstag des Olympiastadions. Beachtliche 25.000 Zuschauer sahen einen 8:6-Sieg der Bayern um Giovane Elber gegen von den Trainer-Legenden Werner Lorant und Karsten Wettberg angeleitete Löwen. Aber was nun? Womöglich gewinnen ja bald doch die A-Jugend-Derbys an Relevanz oder man feuert sich beim Stromkästen-Übermalen an. Oder man freut sich einfach, dass sich der andere ärgert, dass es keine Derbys mehr gibt. Ja, soweit ist es schon gekommen.

"Mein Chef ist Bayern-Fan. Er betrauert immer, dass es keine Derbys gibt", erzählt Jung. "Aber genau deswegen bin ich froh über die aktuelle Situation. Zu ihrer Belustigung wollen wir nämlich auf keinen Fall da sein." Bedarf an sportlichen Duellen besteht aber ganz dringend, allein schon aus praktischen Gründen. "Wir haben himmelweit keinen anderen Rivalen als den FC Bayern. Regensburg? Haching? Augsburg? Ingolstadt? Also bitte! Die können uns Fan-mäßig in 100 Jahren nicht das Wasser reichen." Und überhaupt, ganz wichtig ist Jung folgender Fakt: "Das sind regionale Duelle, das sind keine Derbys. Das einzige Derby ist das gegen die Roten."

Fragt man vor dem Grünwalder Stadion Löwen-Fans nach dem größten Rivalen ihres Klubs, bekommt man fast einhellig die Antwort: die Roten, natürlich! Bitt'schön, was für eine saublöde Frage! Erkundigt man sich aber vor der Allianz Arena bei Bayern-Fans, so sind die Reaktionen gemischt. Teilweise sogar fremdsprachig, was schon vorab eher nicht auf eine Nennung oder gar Kenntnis über das Dasein des TSV 1860 hindeutet.

Die meisten erachten Borussia Dortmund als größten Rivalen. You know, Der Klassiker. Andere Real Madrid, wegen der internationalen Strahlkraft. Wieder andere den HSV oder Werder Bremen oder den VfB Stuttgart, je nachdem in welchem Jahrzehnt sie aufgewachsen sind. Für Salzweger aber ist "Sechzig emotional weiterhin unser größter Rivale" und meint mit uns vor allem die aktiven Fans. Damit dieser Fakt trotz ausbleibender Derbys nicht vergessen wird, betreiben sie in der Allianz Arena gelegentlich Erinnerungsarbeit und singen das Lied von den Giasinga Bauern, die mit der S-Bahn aufs Land fahren.