Auswärtsspiel – die SPOX-Kolumne: Wie Trabzonspor mit 180 km/h den Istanbuler Stolz brach

So feierten dei Fans von Trabzonspor die Meisterschaft
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Trabzonspors Meisterschaft in der Türkei ist auch ein Aufbegehren gegen die Istanbuler Großmächte. Der Klub zerfiel jahrelang in seine Einzelteile, weil man dem Druck des Erfolgs nicht standhalten konnte. Doch zwei Trainer veränderten alles, wenn auch der eine oder andere Topstar dem Ganzen zum Opfer fiel.

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Man muss die Uhr etwas zurückdrehen, um die Geschichte von Trabzonspor zu erzählen. Warum der Klub vor wenigen Tagen die 38 Jahre anhaltende Sehnsucht nach dem Meistertitel endlich stillen konnte. Warum Trabzonspor seiner Rolle als Revoluzzer gegen die Istanbuler Großmächte in dieser Saison gerecht werden konnte.

Man muss dann vielleicht ins Jahr 2018 zurückreisen. Damals am 9. November verlor Trabzonspor das Auswärtsspiel bei Yeni Malatyaspor mit 0:5. Malatya hatte auch damals keine allzu gute Mannschaft, aber sechs Torschüsse reichten, um einen Gegner, der keine Gegenwehr zeigte, so dermaßen zu zerlegen.

Auf dem Rückweg nach Trabzon entschied sich Trainer Ünal Karaman die Kapitäne Burak Yilmaz, der sich eine Woche zuvor mit den Fans anlegte und Onur Kivrak zu suspendieren. Kivrak galt als einer der besten Torhüter des Landes, Yilmaz war ohnehin seit Jahren der beste Stürmer der Türkei. "Beide sind für mich wie Brüder", sagte Karaman, selbst eine Legende als Spieler. Aber die Starallüren seiner Brüder störten die Mannschaft in der Entwicklung. Yilmaz ging zur Besiktas, Kivrak beendete mit 30 beleidigt seine Karriere.

Freunde machte sich Karaman anfangs damit nicht überall, aber der frühere Mittelfeldspieler hatte etwas vor: Er sah, dass viele junge Spieler das Zeug haben, Karriere zu machen. Das Tor übernahm in jener Saison der bis dahin unbekannte Ugurcan Cakir, der 19 Jahre alte Abdülkadir Ömür wurde Spielmacher. Hüseyin Türkmen und Yusuf Yazici, aber auch Abdülkadir Parmak gehörten fortan zum Stammpersonal. Alles Jungs aus dem eigenen Nachwuchs, die bis dahin maximal mitschwimmen durften.

Trabzonspor dominierte den türkischen Fußball

In einem Fußballland wie in der Türkei, in der das einzige Erfolgskriterium die Meisterschaft ist und selbst in den Möglichkeiten beschränkte Aufsteiger völlig selbstverständlich den Titel als Ziel ausrufen, ist es eine Besonderheit, wenn man ein Risiko eingeht und auf die vermeintlichen Stars verzichtet.

Als am vergangenen Samstag eine ganze Stadt ins Delirium eintauchte und die erste Meisterschaft seit 38 Jahren feierte, waren Cakir und Ömür als Führungsspieler an vorderster Front. Auch Türkmen und Parmak gehören weiter dazu. Mit den Millionen, die man durch Yazicis Verkauf verdiente, wurde der Kader verstärkt. Ünal Karaman saß wahrscheinlich irgendwo in seinem stillen Kämmerlein und war stolz darauf, dass er die Entscheidung damals traf. Eine, die eigentlich längst überfällig war.

Trabzonspor, das ab Mitte der 70er Jahre bis Mitte der 80er Jahre den türkischen Fußball dominierte, in acht Jahren sechs Mal Meister wurde, konnte in den folgenden Jahrzehnten nie wieder an diesen Erfolg anknüpfen. Mitte der 90er Jahre flammte unter Senol Günes, Torhüter der Meister-Mannschaft von einst, das Feuer wieder auf. Günes erinnerte sich an seine Spieler-Zeiten, wie er und Freunde aus der Region zu einer echten Einheit zusammenwuchsen.

So sollte es unter seiner Führung wieder werden und tatsächlich gelang es ihm, eine schlagfertige Mannschaft zusammenzustellen - u.a. mit Hami Mandirali, später auch mal bei Schalke 04 für kurze Zeit, Abdullah Ercan, Ogün Temizkanoglu und Co. Aber weil Trabzon - teils dramatisch - den Titel nicht gewinnen konnte, wurde man am Schwarzen Meer nervös.

Trabzonspor: Jahre der Enttäuschungen und der Skandale

Und es begann eine graue Zeit mit unfassbar vielen Trainerwechseln, Umbrüchen, Skandalen. Mitunter wusste man nicht sicher, wer gerade in Trabzon Präsident und Trainer ist. Es ist eine fußballverrückte Region, dessen Volk nicht den Ruf hat, die geduldigsten Menschen der Erde zu sein. Die Nervosität aus den Rängen schwappte ständig auf den Platz und auf die Führungsleute über. Die Kontinuität blieb so auf der Strecke.

Niemand schien sich daran zu erinnern, wie man einst zum Erfolg kam. Man schien zu vergessen, dass der Trabzoner Unterbau eigentlich immer gute Spieler hervorbrachte, aber es fehlte den jeweiligen Verantwortlichen einfach die Zeit, darauf zu warten.

Anfang der 2010er Jahre war es wieder so weit, dass man zumindest aus ein paar hungrigen Spielern, die zwar nicht aus dem eigenen Nachwuchs kamen, aber gut gescoutet wurden, eine schlagkräftige Truppe zusammenstellte. Mit Fenerbahce lieferte man sich damals einen epischen Titelkampf, der aber im größten Manipulationsskandal der türkischen Sportgeschichte endete. Viele Jahre des juristischen Kampfs machten sich auch sportlich bemerkbar. Wieder kamen neue Leute, die neue - kurzfristige - Ideen hatten.

Bis eben eines Abends Ünal Karaman 2018 eine historische Entscheidung traf und durch zwei Suspendierungen eine Entwicklung in Gang setzte, die anfangs vielleicht gar nicht so geplant war. Aber weil die Jungen so gut funktionierten, kamen immer neue Spieler hoch.

Jürgen Klopp würde sich in Trabzon wohlfühlen

Es wäre weit vermessen zu sagen, dass man heute von einer Trabzoner Boyband spricht, die den Titel geholt hat. Nein, der Klub investierte in den letzten Jahren auch wieder in etwas teurere Spieler aus dem Ausland. Aber der Klub fiel nicht auseinander, wenn die Neuen keine Verstärkung waren, denn die Basis mit Cakir, Ömür und Co. sorgt für die Stabilität.

Ein Glücksgriff war dahingehend die Verpflichtung von Abdullah Avci. Der 55 Jahre alte Fußball-Lehrer passte von seiner Art so gar nicht nach Trabzon. Am Schwarzen Meer wollen die Fans feurige Typen, die sich für den Erfolg zerreißen und das auch gerne zeigen. Ein Jürgen Klopp würde in Trabzon richtig glücklich werden. Also vielleicht. Aber Avci ist ein Analytiker. Einer, der Fußball denkt und Emotionen als Randnotiz wahrnimmt.

Nur ein Beispiel: Als er am Samstag nach der Meisterschaft vor das Mikrofon trat, fing Avci im dritten Satz an, das gute Spiel von Gegner Antalyaspor zu analysieren und erzählte, wie die Außenverteidiger nach innen abkippten. Bis ihn seine Spieler im Interview überraschten und ihn freudentrunkend nassmachten. Selbst auf der Pressekonferenz setzte Avci wieder an, um Antalyaspor zu analysieren, bis dann wieder die Spieler kamen.

Aber vielleicht war so ein Gegenpol gerade richtig. Avci ist keiner, der bei Rückschlägen umfällt oder hysterisch wird. Er ist ein Stehaufmännchen.

Der Vater des Erfolgs in Trabzon: Trainer Abdullah Avci.
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Der Vater des Erfolgs in Trabzon: Trainer Abdullah Avci.

Abdullah Avci: Hohn und Spott und dann die Meisterschaft

Jahrelang kämpfte er mit Basaksehir um den Titel in der Süper Lig, baute den Klub aus Istanbul mit viel Akribie auf, kümmerte sich um jedes Detail, damit Basaksehir salon- und titelfähig wird, scheiterte aber immer wieder auf der Schlussgeraden an den im Titelkampf erfahreneren Konkurrenten.

Just in dem Jahr, als Avci ging, um bei Besiktas Meister zu werden, wurde Basaksehir mit Nachfolger Okan Buruk im Jahr 2020 Meister. Und Avci bekam den Spott ab. Da war er bei Besiktas schon längst wieder entlassen, weil er dort mit dem emotionalen Umfeld nicht fertigwurde.

In Trabzon aber fand er Gehör. Die Mannschaft gehorchte ihm, weil die Spieler merkten, dass sie selbst besser werden. Ömür wurde von den Trabzon-Fans zuweilen ausgepfiffen und schien bereits weg zu sein, bis ihn Avci zu einem reiferen Spieler formte. Heute gilt er wie Yazici, der 2019 für 17,5 Millionen Euro nach Lille ging, als Kandidat für eine große Transfereinnahme. Natürlich nur, wenn Trabzon verkauft.

Man erkennt eine klare Struktur im Trabzoner Spiel. Es ist nicht immer wunderschön, was die Jungs vom Schwarzen Meer spielen. Aber es ist effektiv und sehr erfolgreich. "Trabzonspor hat ein Auto, das 180 fahren kann und sie fahren 180. Die anderen haben ein Auto, das 200 fahren kann, aber sie fahren 120", sagte vor Monaten die türkische Fußball-Legende Ridvan Dilmen: "Trabzon hat sie alle düpiert."

Marek Hamsik, ein neues Stadion: Trabzonspor hat investiert

Seit dem neunten Spieltag ist Trabzonspor auf Platz eins. Wenn die Saison vorbei ist, wird man einen neuen türkischen Rekord für die längste Zeit an der Spitze brechen. Zwar hat man im Saisonendspurt ein paar Federn gelassen, aber der Titel war nie gefährdet. Und so blicken die Konkurrenten aus Istanbul nach Trabzon, wie dort der Titel gefeiert wird.

Die Meisterschaft Trabzonspors ist auch eine Ansage nach Istanbul. Sie heißt: "Wir sind wieder da!" Die Meisterschaft machten sie Jahrzehnte lang unter sich aus, formten den türkischen Fußball so wie es wollten. Sie lockten mit ihrem Geld die Trabzoner Spieler, nutzten ihren Standortvorteil. So wurde die Diskrepanz immer größer.

Dass Trabzon aber irgendwann selbst Geld in die Hand nehmen konnte, um beispielsweise einen Marek Hamsik zu holen oder ein neues Stadion zu bauen, das neue Möglichkeiten eröffnete, veränderte die Statik im türkischen Fußball. Es ist nicht mehr selbstverständlich, wenn ein überragender Süper-Lig-Spieler automatisch bei einem Istanbuler Topklub landet. Wie Hamsik eben, der in Trabzon hervorragend funktioniert, auch weil der Klub durchaus Parallelen zum SSC Neapel zeigt. Dort wurde der Slowake zur Legende. Eine Ähnlichkeit machte er schon früh aus. Aber es ist nicht nur Hamsik.

Fühlt sich wie in Neapel: Marek Hamsik bei der Meisterfeier mit Bengalos.
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Fühlt sich wie in Neapel: Marek Hamsik bei der Meisterfeier mit Bengalos.

Fenerbahce und Co. kämpften jahrelang um die Gunst von Edin Visca, der bei Basaksehir mit 110 Toren und 118 Vorlagen zum Topstar der Liga wurde. Das Rennen machte aber Trabzon. Genauso verhielt es sich mit dem Griechen Anastasios Bakasetas, der bei Alanya stark spielte und von Trabzon geholt wurde, obwohl ihn auch alle Istanbuler haben wollten.

Hinter vorgehaltener Hand spricht man in Istanbul darüber, dass Trabzonspor die Gunst der Politik genießt, weil viele führende Politiker des Landes aus der Region kommen. Ob da was dran ist oder nicht: Andersherum gab es derartige Gerüchte auch schon immer und in beiden Fällen ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass da was dran ist. Es ist die traurige Realität des türkischen Fußballs, dass die Politik eine Rolle spielt. Von Zyklus zu Zyklus in unterschiedlicher Gewichtung, aber da mal ein Schuldenerlass bei Steuern. Hier ein gutes Wort bei einem Sponsor. Und et voila: Die Politik ist im Spiel.

Abdullah Avci will davon nichts wissen. Er kümmert sich um Fußball und nachdem er am Samstag den Gegner analysiert hatte, sprach er dann auch schon über die Zukunft. Wie man sich da weiter aufstellen will. Perspektivisch ist Trabzon wieder da, wenn es um den Titelkampf geht. Die Mannschaft hat bis auf wenige Ausnahmen eine sehr ordentliche Altersstruktur. Und vielleicht kann sie dann in der neuen Saison auch mit 200 fahren.

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