Tennis, Übergewicht, Rekorde: Wie der "Normal Boy" Matthijs de Ligt zum Anführer einer Generation wurde

Von Frederick Müller
In jungen Jahren schon der Anführer der holländischen Nationalmannschaft: Matthijs de Ligt.
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"Matthijs wusste um seine Überlegenheit"

Losgelöst von Jugendtrainer van der Hoef, wiederholt Dani Koks im Gespräch mit DAZN dessen Worte. "Matthijs war unabhängig von seinem Alter schon immer größer und stärker als die anderen Spieler," sagt der 23-Jährige, einst ein ebenso vielversprechendes Fußballtalent, das mit de Ligt die verschiedenen Altersstufen durchlief. Sein Traum vom Profifußball blieb unerfüllt, an die Zeit mit außergewöhnlichen Mitspielern wie de Ligt, Frenkie de Jong, Donny van de Beek oder Abdelhak Nouri denkt er aber ohne Neid gerne zurück.

Die tägliche Trainingsarbeit und unweigerliche Disziplin lassen de Ligts Babyspeck schnell verschwinden, mit Hilfe des Athletiktrainers steigen Explosivität und Geschwindigkeit. Neben der körperlichen Dominanz entwickelt er ein "tolles Passspiel und große Übersicht", sagt Koks: "Matthijs wusste um seine Überlegenheit, und dass er besser war als die anderen. Aber er verschaffte sich dadurch keinen Vorteil, ließ sie nicht raushängen, sondern nutzte sie, um dem Team zu helfen."

De Ligt kommandiert auf dem Platz, aber nicht streng und fordernd, sondern lehrreich und zuvorkommend, weitsichtig. Er ist kein Lautsprecher, aber umgänglich und nahbar. Durch sein kollegiales Verhalten kommt er mit jedem aus, so unscheinbar er in der Kabine auch ist. Die Bühne zur Selbstdarstellung überlässt er anderen. "Es gibt diese Spieler in der Kabine", schildert Koks, "die wollen, dass jeder weiß, dass sie in der Kabine sind. Matthijs gehörte nicht dazu."

Durch seinen stetigen Fortschritt und die Anerkennung des Vereins und seiner Teamkollegen wächst der Mut. Was de Ligt zum prädestinierten Ajax-Spieler macht, zum Sinnbild des auf unvermeidlichen Angriff basierenden Voetbal Totaal? "Er will immer nach vorne spielen und geht Risiken ein, mit öffnenden Pässen und einer hohen Verteidigungslinie", beschreibt es Koks. De Ligt übernimmt die Verantwortung, von hinten heraus Verteidiger und Initiator in einer Person zu sein. "Und wenn er mal einen Fehler gemacht hat", sagt Koks, "dann als letzter Mann und er konnte ihn selbst wieder ausbügeln."

Matthijs de Ligt? "Er ist der geborene Anführer"

Das Elternhaus als Rückzugsort im heimischen Abcoude und die Nähe zu seinen Geschwistern helfen ihm, seine Normalität und Bodenständigkeit beizubehalten. "Er ist der geborene Anführer", sagt Koks und bestätigt damit jeden Vorredner, der diese plakative, aber doch so zutreffende Aussage in den Geschichten über den Musterschüler de Ligt genauso ausführt.

Im September 2016 stellt Profi-Cheftrainer Peter Bosz ihn dann erstmals auf, beim 5:0 im Pokal gegen Willem II erzielt er als 17-Jähriger sogar sein erstes Tor, ist seitdem nach Clarence Seedorf Ajax' zweitjüngster Torschütze. De Ligt ist nun fester Bestandteil der ersten Mannschaft, ein Jahr später wird er der jüngste Ajax-Kapitän aller Zeiten.

Bei der Niederlage im Finale der Europa League 2017 gegen Manchester United gehört er zu den besten Spielern auf dem Feld. Weitere Rückschläge wie das verkorkste Debüt für die Nationalmannschaft, bei dem er mitschuldig war für das 0:2 gegen Bulgarien, das wiederum mitentscheidend war für die verpasste Qualifikation für die Weltmeisterschaft 2018, oder das Verpassen der Champions- und Europa-League-Saison 2017/2018 werfen ihn nicht aus der Bahn. Es ist vielmehr der Vorlauf für eine fulminante Saison, in der Ajax die endgültige Rückkehr auf die europäische Fußball-Landkarte feiert.

Matthijs de Ligt zusammen mit Cristiano Ronaldo bei Juventus.
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Matthijs de Ligt zusammen mit Cristiano Ronaldo bei Juventus.

Im Sommer 2018 ernennt Trainer Erik ten Haag den nun 19-jährigen de Ligt dauerhaft zum Mannschaftskapitän. Und mit einem sensationellen Ajax-Team startet er einen Sturmlauf durch die Champions League, der erst in einem dramatischen Halbfinale gegen Tottenham endet. Ajax übersteht die Gruppenphase mit Bayern München ungeschlagen, de Ligt steigt zum jüngsten Kapitän aller Zeiten in der K.o.-Phase der Champions League auf, in der Real Madrid und Juventus Turin in berauschender Art und Weise besiegt werden.

Gegen seinen späteren Klub Juve köpft de Ligt im ausverkauften Juventus Stadium das entscheidende 2:1-Siegtor im Rückspiel. Fußball-Europa feiert eine junge und wilde Spielergeneration aus den Niederlanden wie einst Davids, Seedorf, Overmars oder Kluivert, als die heutigen Legenden 1994/1995 beim letztmaligen Champions-League-Gewinn von Ajax die Vorreiter waren für de Ligt, de Jong und Co.

In der Heimat wird Ajax Meister und Pokalsieger. Und mittendrin steht de Ligt, autoritär und selbstbewusst, als Fels in der Brandung und auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung, die ihn zum Anführer einer Mannschaft der europäischen Spitzenklasse gemacht hat, ohne dabei das Bubenhafte in ihm zu verlieren.

Matthijs de Ligt: Bei Juve "wie ein Kind im Süßwarenladen"

Das Entwicklungspotential bei Ajax ist ausgeschöpft. Die Dinge nehmen ihren Lauf. Das Team zerfällt nach und nach, finanzstarke Teams aus ganz Europa bedienen sich am Talentpool des niederländischen Rekordmeisters. Juventus und sein Berater Mino Raiola machen de Ligt zum teuersten Verteidiger aller Zeiten.

Im neuen Team stellt sich der geborene Anführer naturgemäß zurück, geht in die Lehre bei Granden, Champions-League-Siegern, Welt- und Europameistern. Nach ein paar Monaten gibt er zu: "Als ich das erste Mal in die Umkleidekabine ging, war ich wie ein Kind im Süßwarenladen. Da ist Buffon, da ist Ronaldo ... Erst nach zwei Monaten hatte ich das Gefühl, dass ich mehr ich selbst sein konnte."

Entsprechend vertrackt fällt der Start aus. Der Druck ist groß, de Ligt macht Fehler, ein Eigentor, hat bei vier elfmeterwürdigen Handspielen innerhalb eines kurzen Zeitraums viel Pech. Dass er nicht auf Anhieb das Spiel der Mannschaft prägt und auf seinen breiten Schultern trägt, wie er es über Jahre in Amsterdam gewohnt war, ist logisch, widerspricht aber seiner Persönlichkeit und seinem Anspruch an sich selbst.

Matthijs de Ligt: Bilanz bei Juventus Turin

PflichtspieleToreAssistsGelbe KartenSpielminuten
6541105.480

Auch die aktuelle Saison verläuft holprig. Im Sommer muss er an der Schulter operiert werden, fällt mehrere Monate aus, verpasst die Vorbereitung. Endlich wieder im Rhythmus, setzt ihn das Coronavirus außer Gefecht. Dann machen ihm Muskelprobleme zu schaffen und Juve muss im Champions-League-Achtelfinale gegen Porto die Segel streichen.

Trotzdem sind sie sich in Turin einig, dass de Ligt auch beim italienischen Serienmeister eine tragende Rolle übernehmen wird. Seine Interviews gibt er auf Italienisch, seine hohen Einsatzzeiten sind ein Indiz seines sportlichen Werts, seine Geschichte der Beweis, dass Alter und Erfahrung keine Voraussetzungen sein müssen, um eine Führungsrolle zu übernehmen. Und stattdessen von Leistung, Intelligenz und Persönlichkeit kompensiert werden können.

Als sich abzeichnet, dass er zum Golden Boy 2018 werden könnte, sagt er einmal in einem Interview nach einem Meisterschaftsspiel, er sei kein Golden Boy, sondern "ich bin ein normal boy." "Er war ein ganz normaler Kerl, mit dem jeder auskam", sagt sein Weggefährte Koks. Seine Freiheiten als Kind und sein Umfeld machen ihn wie seine Bodenhaftigkeit bis heute dazu. Und wie das Örtchen Abcoude beweist de Ligt, dass Normalität eine Außergewöhnlichkeit sein kann.

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