Tennis, Übergewicht, Rekorde: Wie der "Normal Boy" Matthijs de Ligt zum Anführer einer Generation wurde

Von Frederick Müller
In jungen Jahren schon der Anführer der holländischen Nationalmannschaft: Matthijs de Ligt.
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Als Kind spielte er lieber Tennis als Fußball, später hatte er mit Übergewicht zu kämpfen. Mit 17 war Matthijs de Ligt plötzlich Nationalspieler.

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Abcoude ist ein eintöniges Örtchen. Alles an diesem dünn besiedelten Vorort südöstlich von Amsterdam trieft vor schnöder Normalität. Sei es die gotische Dorfkirche, die von windigen Kanälen und kalten Flüssen durchzogene Landschaft oder die kilometerlangen Radwege. Wer Aufregung und Abenteuer sucht, der profitiert immerhin vom Kleinbahnhof, der eine direkte Anbindung zur nachbarlichen Weltstadt bietet. Und von der berühmten Johan-Cruyff-Arena, die nur zehn Minuten entfernt liegt. Es ist der optimale Ort für den Beginn der Reise des Matthijs de Ligt.

Beim ansässigen FC Abcoude schnürt er sechsjährig erstmals die Fußballschuhe, wird früh von Ajax Amsterdam entdeckt, steigt mit 17 Jahren in eine außergewöhnliche Profimannschaft auf und führt den Verein als jüngster Kapitän der Klubgeschichte zur Renaissance des erfolgreichen Voetbal Totaal und zum Glanz und Ruhm verloren geglaubter Zeiten. Ungeachtet seiner Adoleszenz steigt er zum Hoffnungsträger und zur Leitfigur einer stolzen Fußballnation auf.

Dabei sind sich Experten, Wissenschaftler und ehemalige Leistungsträger eigentlich einig: Um eine Führungspersönlichkeit in einer sportlichen Gruppe zu sein, sind jahrelang konstante Höchstleistungen, gesammelte Erfahrungen und ein damit verbundenes Lebensalter die wichtigsten Merkmale. Beckenbauer, Cruyff, Zidane, Kahn, sie alle wuchsen im Laufe ihrer Karriere in ihre prägenden Rollen, mit denen sie auch Jahre nach ihrem Karriereende noch in Verbindung gebracht werden.

Der damals 19-jährige Teenager de Ligt hat dagegen ein paar Stufen dieser Karriereleiter übersprungen. Die Führungsrolle als Startpunkt einer Karriere. Die ihn wenig später, mit seinem Transfer zu Juventus Turin, zum teuersten Verteidiger Europas gemacht hat. Um herauszufinden, wie er das geschafft hat, lohnt sich ein Blick zurück zu den Anfängen - und in das idyllische, aber schlichte Abcoude.

März 2016: De Ligt trifft mit Ajax in der UEFA Youth League auf Chelsea und Tammy Abraham (r.).
© getty
März 2016: De Ligt trifft mit Ajax in der UEFA Youth League auf Chelsea und Tammy Abraham (r.).

Fußball? De Ligt spielt als Kind lieber Tennis

Matthijs ist ein Jahr alt, als es die Familie de Ligt aufgrund der Arbeit des Vaters aus dem Geburtsort Leiderdorp in die Nähe von Amsterdam zieht. Bruder Wouter und Schwester Fleur, heute selbst hervorragende Fußballer, werden als Zwillinge geboren, die drei Geschwister hegen auf Anhieb eine tiefe Verbundenheit, die Eltern spielen Hockey und Tennis. Abcoude bietet reichlich Platz und Natur für kindliche Erkundungstouren, Schule ist okay, mal allein im Kinderzimmer aber auch.

Vorstadtleben. Keiner in der Familie hat etwas mit Fußball am Hut. Die gleichaltrigen Mitschüler jagen den Bällen hinterher, Matthijs de Ligt spielt lieber Tennis und Brettspiele. Er ist ein freundlicher, bescheidener Junge, der keine großen Ansprüche für eine glückliche Kindheit hat und sich der Aufmerksamkeit lieber entzieht.

Mit sechs Jahren packt es dann aber auch de Ligt. Eher zufällig begleitet er einen Freund zum Training und entdeckt seine Begeisterung für das Spiel. Er entpuppt sich zwar mehr als Grünschnabel denn als Supertalent. Wohl aber als enorm fleißig, aufnahmefähig und lernwillig. "Matthijs war sehr zurückhaltend, manchmal ein bisschen blauäugig", erinnert sich sein Jugendtrainer Dave van Nielen in der niederländischen Zeitung AD, "einfach ein braves Kind."

"Die ersten Male, die ich einen Ball berührte, flog er in alle Richtungen", erinnert sich de Ligt gegenüber der Tageszeitung Het Parool selbst. Gelinde gesagt, muss sich van Nielen fußballerisch mit einer höchstens soliden Basis begnügen. Was dagegen aber sofort ins Auge fällt, ist die körperliche Überlegenheit. "Schon mit sechs war er wesentlich größer und stärker als alle anderen", sagt Robert van der Hoef, ein weiterer Jugendcoach, der französischen Fußballzeitschrift So Foot. Sie hilft dem Verteidiger, sich auch gegen ältere Jahrgänge durchzusetzen und sich trotz seines schüchternen Charakters zu behaupten.

De Ligt hat Übergewicht, Ajax zögert

Beinahe wird sie ihm aber auch zum Verhängnis. Der speckige de Ligt befindet sich an der Grenze zum Übergewicht. Und Ajax Amsterdam zögert erst noch, als es in einem Spiel gegen die Abcoude-Jugend auf den mächtigen Jungen mit der Nummer 4 auf dem Rücken aufmerksam wird. Der Blondschopf rutscht zufällig ins Team des älteren Jahrgangs, ist der jüngste Spieler auf dem Feld - und der beste. Technische Defizite hat de Ligt inzwischen mit seinem Ehrgeiz und Extraeinheiten im heimischen Garten aufgelöst. Ajax zweifelt jedoch an seiner Beweglichkeit. Entscheidet sich aber ein Jahr später dennoch, ihn in die Akademie aufzunehmen.

De Ligt ist zehn, als er das erste Mal begreift, welche Möglichkeit sich ihm bietet. Das reflektierte und intelligente, beinahe frühreife Kind erkennt, dass es fortan alles dem Fußball unterordnen muss, um eine Karriere zu starten. Die Konkurrenz in der vielleicht weltbesten Jugendakademie ist groß, die Ansprüche hoch.

Er spricht nicht viel, hält erst recht keine großen Ansprachen und schaut zu den Stars von damals wie Luis Suarez auf. Er behält seine zurückhaltende Art, lebt in sich gekehrt, aber in jedem Moment fokussiert und zielorientiert. Er verinnerlicht die Ajax-DNA, saugt den Voetbal Totaal förmlich auf, liest Ajax-Bücher und lernt die Geschichte dieses großen Vereins. Und entwickelt sich auf wie neben dem Platz in rasendem Tempo weiter.

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