Messies statt Messi

Lionel Messi verlor mit Argentinien in den vergangenen drei Jahren drei Endspiele
© getty

Im argentinischen Verband AFA herrscht blankes Chaos. Es gibt keinen gewählten Präsidenten und einen Monat vor Beginn der olympischen Spiele weder Team noch Trainer. Doch dann übernimmt der letzte verbliebene Übungsleiter, der bei der AFA noch unter Vertrag steht - und nominiert einen Kader der Namenlosen. Die goldene Generation um Lionel Messi verliert Finale um Finale und tritt aus Frustration zurück; der neue Trainer des A-Teams wird wohl auf 50 Millionen Euro verklagt. Die Chronologie einer tragischen Realsatire.

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Es war wie der letzte, der abschließende Witz einer dieser seichten, amerikanischen Seifenopern, die den gelangweilten Bürger an einem verregneten Nachmittag unterhalten. Noch ein letztes Mal werden brüllende Lacher aus der Konserve abgespielt, dann ist der Spaß vorbei. Werbepause, Zeit zum Durchatmen.

In der Seifenoper "Argentinischer Fußball" geht dieser letzte Witz so: Die Albiceleste bekommt nicht genügend Spieler für ihren Olympia-Kader zusammen. In einem Land mit knapp 43 Millionen Einwohnern finden sich offenbar keine 18 Spieler, die vom Verband gefragt sind, über eine Freigabe von ihrem Verein verfügen und auch Lust auf einen Olympia-Einsatz im Nachbarland Brasilien haben.

"Es besteht zu 50 Prozent die Gefahr, dass das Fußballteam sich nicht bei den Spielen präsentieren wird", sagte Gerardo Werthein, der Präsident des Nationalen Olympischen Komitees, vor einer knappen Woche. Zum Brüllen sagt der nach Erheiterung suchende Fußballkonsument. Insgeheim denkt er aber wohl auch: Zum Weinen. Und fast zu skurril, um wahr zu sein.

Schlimmer als Grondona

Diese Zuspitzung trug sich am 7. Juli 2016 zu und ist die traurige Krönung einer tragisch-komischen Entwicklung, die im Sommer 2014 ihren Anfang nahm. Damals starb Julio Grondona. Für den Verband war das eigentlich die Chance auf einen reinigenden Neustart. Einen Neustart ohne den Präsidenten, der gefühlt länger unter Korruptionsverdacht stand, als er überhaupt amtierte. Und er amtierte exakt 35 Jahre. Sehr lange also.

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Schlimmer als mit dem skandalumwobenen Grondona kann es nicht mehr werden, lautete der einhellige Tenor. Denkste. Grondona stand unter Verdacht auf Korruption, Geldwäsche und Steuerhinterziehung. Als FIFA-Vizepräsident war er entscheidend an der Bildung der FIFA, wie wir sie heute kennen, beteiligt. Im nationalen Verband AFA herrschte unter Grondona aber zumindest ein einigermaßen geordneter Betrieb. Zumindest im Vergleich zu den heutigen Zuständen.

Denn mittlerweile ist es so weit gekommen, dass die besten Spieler des Landes teilweise nicht mehr für die Nationalmannschaft spielen wollen. Und zwar deshalb, weil sie die korrupten Funktionäre ihres Landes nicht repräsentieren wollen. Das soll was heißen. Wenn jemand wie Lionel Messi, der bereits fünf Mal breit grinsend den Ballon d'Or von einem gewissen Sepp Blatter entgegen genommen hat, die Verantwortungsträger seines nationalen Verbandes für zu korrupt hält, um mit ihnen auch nur in irgendeiner Funktion zu tun haben zu wollen, dann sollte das zu denken geben.

Uneingelöste Versprechen

Etwas mehr als ein Jahr nach dem Tod Grondonas stellten sich die Kandidaten Marcelo Tinelli und Luis Segura, der den Verband in der Zwischenzeit interimistisch führte, zur Wahl. Der Urnengang im Dezember 2015 verkam zur Farce. 75 Stimmen waren zu vergeben. Das Ergebnis lautete 38 zu 38. Die Folge waren Tumulte, Argentinien stand ohne Präsidenten da. Die FIFA ließ Segura suspendieren, Grund: Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe von TV-Übertragungsrechten. Damian Dupiellet wurde als Interimsboss bestellt. Bald soll ein von der FIFA eingesetztes Normalisierungskomitee die Kontrolle übernehmen.

Kontrolle gibt es im Verband schon lange keine mehr. Und die chaotischen Zustände auf der Funktionärsebene färben wie ein Stempel auf die sportliche Abteilung ab. Die goldene Generation Argentiniens, die sich 2008 den Olympia-Sieg sicherte und als großes Versprechen galt, scheitert wieder und wieder.

Lionel Messi. Sergio Agüero. Javier Mascherano. Ever Banega. Ezequiel Lavezzi. Angel Di Maria. Klangvolle Namen, die in ihrem Nationalteam zu Synonymen des Versagens wurden. 2014 verloren sie das WM-Finale gegen Deutschland in der Verlängerung, 2015 und 2016 die Endspiele der Copa America jeweils im Elfmeterschießen gegen Chile. Die Stimmung wurde von Niederlage zu Niederlage explosiver und negativer. Die Gräben zwischen Spielern, Fans und Funktionären gleichzeitig tiefer.

Hungrig im Bus

Der Auftritt bei der jüngst abgelaufenen Copa America war zumindest abseits des Platzes an Jämmerlichkeit und schlechter Organisation kaum zu überbieten. Der Verband schaffte es nicht - wie in Argentinien sonst bei großen Turnieren üblich - dem A-Team eine nationale Nachwuchsmannschaft als Sparringspartner zu stellen. Stattdessen wurden die Stars der Albiceleste bei dem Turnier in den USA von einer zusammengewürfelten Mannschaft aus Buben und Mädchen einer lokalen Universität gefordert.

Agüero postete in sozialen Netzwerken unterdessen ein Foto von sich und Messi mit den Worten: "Im Bus - aber ohne Abendessen." Der Verband scheint nicht einmal in der Lage zu sein, seine Spieler zu ernähren. Einige Tage später saßen beide im Flugzeug Richtung Heimat - ohne Titel.

So bald werden die beiden nicht mehr gemeinsam über die Wolken schweben. "Für mich ist das Kapitel Seleccion beendet", sagte Messi nach dem Turnier und gab somit seinen Rücktritt bekannt. Sein hungernder Sitznachbar Agüero soll ähnliche Pläne haben. Genau wie Mascherano und Gonzalo Higuain. Als sich diese Nachrichten verbreiteten, musste der AFA-Sitz in Buenos Aires wegen eines Bombenalarms evakuiert werden. Auf einen Tiefpunkt folgt der nächste. Mittlerweile herrscht Lebensgefahr.

Offenbarungseid online

Für den nächsten Offenbarungseid sorgte Nationaltrainer Gerardo Martino, der nach der Copa zurücktrat und seine Erklärung dafür auf der offiziellen AFA-Homepage veröffentlichte: "Aufgrund der Unklarheit bei der Benennung der neuen Führung im argentinischen Fußballverband und der schwerwiegenden Konflikte bei der Zusammenstellung des Kaders, der das Land bei den kommenden Olympischen Spielen vertritt, hat der Trainerstab der Seleccion entschlossen, mit dem heutigen Tag seinen Rücktritt einzureichen." Die eigene Homepage, das offizielle PR-Instrument des Verbandes, wurde genutzt, um sich selbst lächerlich zu machen.

Durch den Rücktritt von Martino stand knapp einen Monat vor den Spielen in Brasilien auch das eigentlich nicht existierende Olympia-Team ohne Trainer da. Die Suche nach einem interimistischen Nachfolger war dann jedoch ein Kinderspiel. Julio Olarticoechea wurde auserwählt. Seine Qualifikation? Er ist der letzte verbliebene Trainer, der bei der AFA unter Vertrag steht. Neben der Frauen-Nationalmannschaft und dem U20-Team der Männer muss er sich nun eben auch noch um die Olympia-Auswahl kümmern.

Krieg ohne Soldaten

Wie diese überhaupt aussehen soll, war dann lange völlig unklar. Die AFA veröffentlichte erst einen 35-köpfigen Vorabkader an namenlosen Kickern - ohne sich vorher erkundigt zu haben, ob sie überhaupt zur Verfügung stehen. Das Resultat: Nicht einmal die Hälfte der Spieler war einsatzbereit. "Es ist sehr schwierig, ohne Soldaten in den Krieg zu ziehen", sagt der zweite Vizepräsident Claudio Tapia. Wie recht er hat.

Nach etwas Bedenkzeit folgte dann der zweite Versuch. Und ja, es gibt ihn nun tatsächlich, den 18-Mann-Kader für Olympia. Die Soldaten, die unter dem Schlachtruf "¡Vamos Argentina!" in den Krieg namens Olympia ziehen sollen, sind in etwa so bekannt wie Grondonas jahrelange Machenschaften in dunklen AFA-Hinterzimmern. Nicht sehr bekannt. Manuel Lanzini von West Ham United und Angel Correa von Atletico Madrid sind die prominentesten Vertreter.

Die logische Wahl

Zumindest beim A-Nationalteam scheint sich der Himmel aufzuklaren. Er ist zwar noch nicht so hellblau wie die Trikots der Albiceleste, aber wenigstens nicht mehr pechschwarz. Es gib nämlich immerhin wieder einen Trainer: Marcelo Bielsa. Mit seiner jüngeren Vergangenheit ist er die logische Wahl für den Posten als argentinischer Nationaltrainer. Kürzlich trat er zwei Tage nach seinem Dienstbeginn bei Lazio Rom bereits wieder zurück. Unerfüllte Versprechungen seitens des Vereins, sagt Bielsa. Stimmt nicht, sagt Lazio, und will den 60-Jährigen auf 50 Millionen Euro Schadenersatz verklagen.

Der argentinische Verband befindet sich im Chaos, und zwar auf allen Ebenen. Dieser Ansammlung an Messies verschiedenster Art und Weisen fehlt zur Komplettierung des Sortiments mittlerweile eigentlich nur mehr einer: Lionel. Und der wäre der einzige, der wirklich gebraucht werden würde.

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