Sebastian Hoeneß im Interview: Kevin-Prince Boateng? "Das hat ihm die eine oder andere blutige Nase beschert"

Von Dennis Melzer
Sebastian Hoeneß ist seit Sommer 2019 Trainer von Bayern München II.
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Wie viele Talente haben während Ihrer Zeit den Weg zum FC Bayern gefunden?

Hoeneß: Wir gehen sehr behutsam mit dieser Thematik um. Ich bin seit 2017 in München. Seitdem wurden acht Jungs für den Leistungsbereich, sprich die U23, die U19 und die U17, verpflichtet. Das sind nicht viele. Wenn man einen Spieler holt, muss der Transfer sitzen. Für mich ist Joshua Zirkzee dahingehend ein gutes Beispiel. Es wurde verhältnismäßig wenig Geld investiert, aber er hat mittlerweile sogar bei den Profis auf sich aufmerksam gemacht.

Sie sprechen Zirkzee bereits an: Er hat in der ersten Mannschaft zuletzt für Furore gesorgt. Was zeichnet Ihn aus?

Hoeneß: Er ist definitiv ein besonderer Stürmertyp, den es nicht mehr so häufig zu finden gibt Er ist groß und athletisch, verfügt aber dennoch über einen weichen Bewegungsablauf und eine starke Technik. Zudem ist er beidfüßig. Auch im Eins-gegen-Eins hat er Stärken, muss aber auch noch lernen dahin zu gehen, wo es wehtut.

Was muss er außerdem verbessern?

Hoeneß: Er muss wie alle Talente in seinem Alter noch stetig an sich arbeiten. Er muss wissen, dass er noch nichts erreicht hat und darf sich nie zufriedengeben. Sein Ziel muss sein, das Bestmögliche zu erreichen.

Im Winter vergangenen Jahres kam Alphonso Davies aus Kanada nach München. Wurden Sie damals bei seinem Transfer in den Entscheidungsprozess mit einbezogen?

Hoeneß: In seinem Fall war es so, dass mir ein Video vorgelegt wurde, das ich mir anschauen und daraufhin meine Einschätzung abgeben sollte. Ich denke, es ist wichtig, dass die Nachwuchsexperten diesbezüglich involviert sind, weil sie die nötigen Vergleichswerte in der jeweiligen Altersklasse haben. Generell kommt es aber darauf an, ob eine potenzielle Neuverpflichtung überhaupt für den Nachwuchsbereich oder die zweite Mannschaft infrage kommt.

Sebastian Hoeneß zusammen mit Nicolas Feldhahn.
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Sebastian Hoeneß zusammen mit Nicolas Feldhahn.

Wie bewerten Sie seinen bisherigen Werdegang?

Hoeneß: Durchweg positiv. Er hat gezeigt, dass es sich lohnen kann, die Jungs ins kalte Wasser zu werfen und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich freizuschwimmen. Er hat zuvor in der zweiten Mannschaft gespielt und sein großes Potenzial angedeutet. Er war immer motiviert und hat versucht, sich einzubringen. Phonzy zählt jetzt regelmäßig zu den Leistungsträgern und wenn seine Entwicklung so weiter geht, hat er sicherlich das Potential, auf dieser Position auch in die internationale Spitze vorzudringen.

Aufgrund seiner starken Physis wird er von seinen Teamkollegen "Maschine" genannt. In welchen Bereichen sehen Sie seine großen Stärken?

Hoeneß: Ganz offensichtlich zählt tatsächlich die Physis zu seinen großen Stärken. Er ist ein Modell-Athlet: schnell und zusätzlich sehr robust - diese Kombination ist nicht selbstverständlich. Sein Körper ist dementsprechend seine größte Waffe. Darüber hinaus ist er Linksfuß, der unter technischen Gesichtspunkten auch im höchsten Tempo gut funktioniert. Dass er während seiner Ausbildung zumeist vorne gespielt hat, kommt ihm nun als Linksverteidiger zugute. Er bringt vieles mit.

Karl-Heinz Rummenigge hat vor einer Weile prophezeit, dass in absehbarer wieder Spieler aus dem eigenen Nachwuchs oben anklopfen. Welche Jungs haben aus Ihrer Sicht das Potenzial?

Hoeneß: Ich möchte diesbezüglich nicht über einzelne Spieler sprechen, weil die Gefahr besteht, dem einen oder anderen nicht gerecht zu werden. Außerdem würde ich demjenigen, den ich hervorheben würde, keinen Gefallen tun. Grundsätzlich haben unsere Jungs alle das Potenzial und die Berechtigung, sich in den Vordergrund zu spielen. Wenn sie dann einmal hereingeworfen werden, müssen sie funktionieren. Das ist das Geschäft. Dafür müssen sie auch mental vorbereitet sein, daran arbeiten sie und wir tagtäglich. Die echte Feuertaufe ist es, wenn sie vor 70.000 Zuschauern bestehen müssen.

Eine Feuertaufe, die beispielsweise Kai Havertz und Jadon Sancho schon bestanden haben. Für die beiden stehen mittlerweile dreistellige Millionenablösen im Raum. Sind solche Summen für junge Spieler eher Anreiz oder Bürde?

Hoeneß: Das ist ganz individuell und hängt damit zusammen, was für ein Typ der Spieler ist und in welchem Umfeld er sich bewegt. Hermann Gerland hat vor kurzem gesagt: 'Um es zu schaffen, brauchst du einerseits Talent und andererseits eine gute Persönlichkeitsstruktur.' Wenn der eine abhebt, weil er 40 Millionen Euro gekostet hat, viel Geld verdient und glaubt, es damit schon geschafft zu haben, ist es eher eine Bürde. Der andere sagt wiederum: 'Jetzt habe ich es dahin geschafft und will mehr erreichen. Harte Arbeit hat mich hierhergebracht und die wird mich auch noch weiterbringen.' Dann kann es ein Ansporn sein. Wir können den Spielern nur ein gutes, mentales Rüstzeug mitgeben. Das ist aber nicht nur die Aufgabe der Trainer. Auch die Eltern und Berater beeinflussen, ob der Junge klar bleibt oder sich ablenken lässt.

Sie waren vor Ihrer Tätigkeit als U23-Trainer früher täglich am Campus. Dort wachsen die Spieler anders auf als "normale" Jugendliche. Welche Rolle spielt das für die Entwicklung eines jungen Menschen?

Hoeneß: Im Nachwuchsleistungszentrum werden ihnen einige Dinge des Alltags abgenommen. Es gibt viele Einflüsse, die auf sie einwirken. Die Jungs bewegen sich ständig im Dunstkreis von anderen Fußballern. Ich glaube, dass äußere Einflüsse zwischendurch auch wichtig sind. Wir als Verein sind uns dieser besonderen Verantwortung bewusst und unternehmen viel in Sachen Persönlichkeitsentwicklung.

In Ihrer Rolle als Jugendtrainer mussten Sie zwangsläufig Träume von der großen Karriere zerstören. Wie schwer ist Ihnen das gefallen?

Hoeneß: Sehr schwer. Aber es ist unsere absolute Pflicht, dass wir ehrlich mit den Jungs umgehen und ihnen unverblümtes Feedback geben. Dabei geht es nicht darum, dass sie keinen Fußball mehr spielen sollen. Aber wir empfehlen frühzeitig, parallel zu planen und beispielsweise eine Ausbildung anzufangen, ein Studium zu beginnen oder Praktika zu absolvieren, damit sie sich weiterbilden.

Sebastian Hoeneß über Jugendarbeit: "Jungs in England oder Frankreich mehr auf Bolzplätzen"

In der öffentlichen Wahrnehmung hinkt die deutsche Jugendarbeit zurzeit hinterher. Hängt das auch damit zusammen, dass man den Talenten ihre Bolzplatzmentalität austreibt?

Hoeneß: Inwiefern?

Man hat das Gefühl, dass beispielsweise die Engländer und Franzosen derzeit von Spielern profitieren, die man als klassische Straßenfußballer bezeichnen kann.

Hoeneß: Wenn ich über unsere Trainingsplätze gehe, nehme ich nicht wahr, dass diese Mentalität ausgetrieben wird. Ich habe hier noch keinen Trainer erlebt, der sagt: 'Spiel den Ball ab', obwohl der Junge ins Eins-gegen-Eins gehen könnte. Richtig ist, dass viele Spieler ihre Kreativität auf den Bolzplätzen oder in Käfigen entwickeln. Dort lernen sie, wann es Sinn macht, den Ball abzuspielen oder wann ein Dribbling angebracht ist. Dieses Training ohne Anleitung, als 13-Jähriger gegen 16-Jährige zu spielen, ist definitiv förderlich. Wenn du als 13-Jähriger auf dem Bolzplatz vor dem eigenen Tor dribbelst, den Ball verlierst und dadurch ein Tor kassierst, wird der 16-Jährige zu dir kommen und sagen: 'Machst du das noch einmal, spielst du nicht mehr bei uns mit.' Das kann positiv prägen. Wir machen uns diesbezüglich auch viele Gedanken, ob wir genau solche Rahmenbedingungen regelmäßig schaffen sollten.

Also gibt es Pläne, die Kreativität mehr zu fördern?

Hoeneß: Die Jungs in England oder Frankreich scheinen mehr Zeit auf Bolzplätzen zu verbringen. Diese Zeit haben unsere Spieler nach der Schule und vor dem Training aber gar nicht mehr. Die Fragen, die wir uns stellen, sind: Wie gestalten wir unser Training, inwieweit gewähren wir Freiräume? Ich weiß, dass das in den unteren Jahrgängen geschieht. Der Kern ist Fußballspielen, das muss im Mittelpunkt stehen. Alles andere, das Taktische und Athletische, ist Zusatz. Wir haben dementsprechend festgelegt, dass in der Woche 80 Prozent für das reine Spielen aufgebracht werden und die restlichen 20 Prozent für die Dinge, die die Jungs auf ihrem Weg zum Profi ebenfalls benötigen, genutzt werden.

Sie sind seit Eröffnung des Campus in München. Wie fällt Ihr Zwischenfazit nach über zweieinhalb Jahren aus?

Hoeneß: Positiv. Die Zusammenarbeit und Atmosphäre am Campus imponieren mir sehr. Es gibt ein gemeinsames Ziel, das im Vordergrund steht. Das heißt: Spieler entwickeln. Wir haben schon über ein paar Namen gesprochen, die sich in den vergangenen zwei Jahren ins Rampenlicht gespielt haben. Das können wir nutzen, um für uns zu werben. Die richtigen Weichen wurden gestellt.

Hat der FC Bayern im Vergleich zu anderen großen Vereinen trotzdem zu spät reagiert?

Hoeneß: Zu spät sicherlich nicht. Wir sind froh, dass der Campus steht und wir von diesen großartigen Bedingungen profitieren können. Jetzt wollen wir unserem Auftrag gerecht werden und Spieler entwickeln, die in naher Zukunft für den Profi-Kader infrage kommen könnten.

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