Deutschland - Schweden 2:1: "... und am Ende gewinnen die Deutschen."

Alle wollen zu Toni Kroos: Matthias Ginter und Mario Gomez gratulieren.
© getty

Mit einem Last-Second-Sieg über Schweden hat sich Weltmeister Deutschland den Weg ins WM-Achtelfinale offen gehalten. Dabei schien nach einem starken Beginn wenig für die Elf von Bundestrainer Joachim Löw zu laufen - bis am Ende doch der legendäre Spruch von Gary Lineker griff. Wenn auch nicht in seiner ursprünglichen Version.

Anzeige
Cookie-Einstellungen

28 Jahre lang hatte Gary Linekers Kultspruch mittlerweile unbeschadet überdauert. Fußball sei ein einfaches Spiel, hatte der englische Nationalspieler 1990 philosophiert, nachdem sein Team im WM-Halbfinale an Deutschland gescheitert war: 22 Spieler jagen 90 Minuten lang einem Ball nach und am Ende gewinnen immer die Deutschen.

In diesen 28 Jahren hatte Deutschland beileibe nicht immer gewonnen. Trotzdem: Alle Höhen und Tiefen, von Berti Vogts über Erich Ribbeck, Jürgen Klinsmann und Joachim Löw, hatten Linekers Weisheit nichts anhaben können. 22 Spieler, 90 Minuten, Sieg für Deutschland

Bis zu diesem denkwürdigen Abend im Olympiastadion von Sotschi. Da waren es keine 22 Mann mehr, denn Jerome Boateng hatte nach wiederholtem Foulspiel die Gelb-Rote Karte gesehen. Es waren auch längst keine 90 Minuten mehr: Fast 95 Minuten waren bereits gespielt, als Toni Kroos und Marco Reus den Freistoß an der linken Strafraumkante ausführten - so spät war in der gesamten WM-Geschichte noch kein Siegtreffer gefallen.

Vom üblichen, standesgemäßen, laut Lineker in den Grundfesten des Weltfußballs festgeschriebenen Sieg für Deutschland war ebenfalls nichts zu sehen.

Es roch vielmehr nach Blamage. Nach einem zweiten Spiel in Folge ohne Sieg zum Beginn einer WM-Endrunde - das hatte es für den DFB zuletzt vor 80 Jahren gegeben. Nach einem bedeutungslosen dritten Gruppenspiel in Kasan gegen Südkorea und einem deprimierten, schweigsamen Heimflug in Richtung Frankfurt.

Deutschland mit gutem Beginn gegen Schweden - aber ohne frühes Tor

Dabei hatte alles so gut angefangen. Joachim Löw hatte vor dem Schicksalsspiel gegen Schweden mit eisernen Traditionen gebrochen, viermal gewechselt und unter anderem Spielmacher Mesut Özil bei einem großen Turnier zum ersten Mal nach 26 Startelf-Einsätzen in Folge auf der Bank gelassen.

Es schien sich auszuzahlen: Mit schwindelerregendem Tempo kombinierte sich der Noch-Weltmeister in der ersten Viertelstunde teilweise in den gelb-blau-bewachten Strafraum. Man setzte all das um, was nach der Auftaktniederlage gegen Mexiko gefordert worden war: schnelles Spiel in die Tiefe, Variabilität, aber auch Leidenschaft, Einsatzfreude und Körpersprache.

Als die deutschen Schlachtenbummler - auf der Tribüne ebenfalls sehr viel präsenter als noch im Luschniki-Stadion sechs Tage zuvor - nach viereinhalb gespielten Minuten ein "Hurra, hurra, die Deutschen, die sind da!" anstimmten, hatte Schweden noch keine einzige Ballbesitzphase verzeichnet, Julian Draxler aber bereits eine Hundertprozentige vergeben. Die Zeichen standen auf Wiedergutmachung.

Altbekannte Schwächen bei der DFB-Elf - Kroos wird zum Unglücksraben

Aber auch der Strand der Schwarzmeerküste, vom Confed Cup 2017 noch in guter Erinnerung, konnte die altbekannten Schwächen der DFB-Elf nicht vergessen machen. Zweimal waren die Schweden in den ersten 13 Minuten am Ball, zweimal wurde es prompt brandgefährlich. Einmal hätte es sogar Elfmeter geben können, wenn nicht sogar müssen. Die gute Anfangsphase, sie verstrich ohne ein frühes Tor.

Und dann entwich die Luft Schritt für Schritt aus dem deutschen Spiel, als sei es von einem erbarmungslosen schwedischen Schraubstollen punktiert worden: Erst Antonio Rüdigers Fehler und die Schreie nach einem Elfmeter. Gute zehn Minuten später musste Sebastian Rudy mit heftig blutender Nase raus. Und während an der Seitenlinie verzweifelt versucht wurde, die Blutung zu stoppen, schob sich der Außenseiter mehrere Minuten lang den Ball zu, wurde sicherer und war endgültig im Spiel angekommen.

Der Gegentreffer wenige Minuten später passte ins Bild. Ausgerechnet Passmaschine Kroos gab den Ball mit einem Aussetzer her, den man vom ihm im Trikot von Real Madrid seit Jahren nicht mehr gesehen hat. Ausgerechnet Ola Toivonen, der zuvor Rudy ausgeknockt hatte, kam zum Abschluss, und ausgerechnet Antonio Rüdiger, für den angeschlagenen Mats Hummels in die Mannschaft gerückt, fälschte dessen Versuch so unglücklich ab, dass sich für Manuel Neuer keine Abwehrchance bot.

22 Spieler jagen 90 Minuten einem Ball hinterher und am Ende gewinnen immer die Deutschen - ja, es sei denn, diese Deutschen sind Weltmeister, dann ereilt sie nämlich das gleiche Schicksal wie schon Italien 2010 und Spanien 2014: Aus in der Gruppenphase.

Deutschlands Aufholjagd scheinbar nicht von Erfolg gekrönt

Bis auf "Kniehöhe" seien die Köpfe in diesem Augenblick gesunken, verriet Timo Werner. Plötzlich sah man einen frustrierten Kroos wieder im Mittelfeld gestikulieren, blind geschlagene Flanken nach vorn und offene Flanken in der Rückwärtsbewegung. 75 Prozent Ballbesitz zur Pause, 53 Prozent Zweikämpfe, 7:4 Schüsse, 4:1 Ecken, 9:3 Flanken ... aber 0:1 Tore.

Das schnelle 1:1 von Marco Reus nach dem Seitenwechsel gab Hoffnung. Die nächste Drangphase des Titelverteidigers, die nächsten, diesmal etwas trotzig klingenden Rufe aus der Kurve: "Hurra, hurra, die Deutschen, die sind da!"

Nur schien es bei diesem einen Tor zu bleiben: Schweden rührte hinten Beton an, Boateng holte sich die Ampelkarte ab, Kopfball von Mario Gomez gehalten, Weitschuss von Julian Brandt an den Pfosten. Die DFB-Elf schien zu verzweifelten Rechenspielen verdammt: Das Achtelfinale ist noch möglich, wenn ...

Kroos in der Nachspielzeit: Erinnerungen an David Beckham?

Bis sich Kroos nach gespielten 94 Minuten und 42 Sekunden den Ball von Reus vorlegen ließ und von links im Strafraum die lange, obere Ecke anvisierte. Es hatte etwas von David Beckham, wie er den Ball streichelte, mit minimaler Rücklage und enormer Beschleunigung aus dem Fußgelenk, wie die Ausholbewegung kurz nach der Ballberührung stoppte. Wie der Telstar 18, ein für Freistöße äußerst dankbares Spielgerät, über die ausgestreckten Arme Robin Olsens hinwegflog.

Womöglich fühlte sich Lineker in diesem Augenblick an Beckhams Freistoß gegen Griechenland erinnert, ebenfalls in der Nachspielzeit, der den Three Lions in letzter Sekunde die Teilnahme an der WM-Endrunde 2002 bescherte.

Ganz sicher jedoch erinnerte sich der heutige TV-Experte an sein 28 Jahre altes Bonmot. Während Kroos trunken vor Glück und Erleichterung beide Fäuste in den Rasen hämmerte, vor jener Kurve, die ihn und sein Team fast 95 Minuten lang nach vorn gepeitscht hatte, machte sich der 57-Jährige also daran, ein Update seiner berühmten Fußballweisheit zu entwerfen:

"Fußball ist ein einfaches Spiel: 22 Mann jagen 82 Minuten lang dem Ball nach, dann gibt es einen Platzverweis für einen Deutschen und 21 Mann jagen 13 Minuten lang dem Ball nach. Und am Ende gewinnen die Deutschen irgendwie verdammt nochmal trotzdem."

Artikel und Videos zum Thema