Kommentar zum Fan-Chaos: UEFA macht erneut Opfer zu Tätern

Von Justin Kraft
Die Fans des FC Liverpool erlebten einen Horrorabend in Paris.
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Beim Fan-Chaos rund um das Champions-League-Finale wurden hunderte Menschen verletzt. Statt die eigene Organisation zu hinterfragen, sucht die UEFA die Schuld bei den Opfern. Ein Kommentar.

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Das Champions-League-Finale 2022 hätte ein ganz besonderes werden sollen. Für viele Liverpool-Fans wurde es aber zum Horrorerlebnis. Nicht, weil ihr Team mit 0:1 verlor, sondern weil die UEFA ihnen abermals zeigte, wie egal ihr das Wohlergehen der Menschen am und im Stadion ist - solange es nicht dem eigenen Marketing dient.

Mehrere Anhängerinnen und Anhänger berichteten noch vor Anpfiff in den sozialen Netzwerken von verschlossenen Zugängen, extrem langen Schlangen und vor allem auch großer Enge. Auf einem Video war zu sehen, wie viel zu viele Fans sich gegenseitig erdrückten. Einige versuchten, über einen Zaun zu klettern.

Statt zu deeskalieren, setzte die Pariser Polizei Pfefferspray gegen Menschen ein, die vor den Toren auf ihren Einlass warteten. Ein konkreter Grund war nicht ersichtlich.

Hier geht es zu den Geschehnissen des Abends.

Die UEFA gab zunächst als Grund für die Verzögerung an, dass Fans erst verspätet angereist wären.
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Die UEFA gab zunächst als Grund für die Verzögerung an, dass Fans erst verspätet angereist wären.

UEFA zeigt ihr wahres Gesicht: Täter-Opfer-Umkehr bei Fan-Chaos

Während draußen viele Menschen panisch wurden und darum kämpften, diesem Chaos zu entkommen, zeigte die UEFA ihr wahres Gesicht. "Wegen der späten Ankunft von Fans am Stadion ist der Anstoß verschoben worden", stand in englischer Sprache auf den Videoleinwänden. Die Informationen, die an die in Deutschland übertragenden Sender DAZN und ZDF weitergegeben wurden, schienen zudem spärlich und falsch zu sein. Es dauerte über eine halbe Stunde, bis beide erstmals über die wahren Gründe der Verzögerung berichteten.

Dass der europäische Fußballverband sowie hochrangige Politiker abermals Opfer zu Tätern machten, wird mit Blick auf die zahlreichen Berichte von Fans, Journalisten und Journalistinnen deutlich. Dass viele Menschen erst spät zum Stadion gekommen wären, wurde nicht beobachtet. Stattdessen sei die schlechte Organisation beim Einlass der Grund für die Panik gewesen. Unter den Anhängerinnen und Anhängern waren zudem auch Kinder, die sichtlich überfordert waren mit der Situation.

Als sich der Verdacht erhärtete, dass das Narrativ von den spät anreisenden Fans sich nicht lange halten würde, brachte die UEFA eine neue Begründung. "Im Vorfeld des Spiels wurden die Drehkreuze an der Liverpool-Kurve von Tausenden Fans blockiert, die gefälschte Tickets gekauft hatten, die an den Drehkreuzen nicht funktionierten", heißt es in einer Stellungnahme.

Nach Recherchen der Sportschau kann auch dieses Argument nicht eindeutig bestätigt werden. Statt ihre eigenen Fehler bei der Organisation dieses Großevents aufzuarbeiten und zu hinterfragen, tritt die UEFA nach unten. Über 200 Menschen wurden verletzt, die meisten von ihnen leicht. Der Umgang mit ihnen war unwürdig.

UEFA: Die Probleme beim Champions-League-Finale waren nicht neu

Es wäre sicher einfacher, den Begründungen des Verbandes Glauben zu schenken, wenn es das erste Mal wäre, dass derartiges passiert. Erst vor einigen Wochen versagte die UEFA aber schon beim Europa-League-Finale zwischen Eintracht Frankfurt und den Glasgow Rangers.

Wie SPOX und GOAL berichteten, kam es auch damals zu einem Massenaufkommen auf engem Raum. Im Stadion ging der Ärger weiter: Das Ordnungspersonal versuchte, die 50.000 Euro teure Choreografie der Hessen an den Banden zwischen den Rängen zu entfernen - wohl, um die Werbebanner darunter nicht zu verdecken.

Der eigentliche Skandal war aber, dass es im Stadion trotz der Hitze bereits nach zehn Minuten keine Getränke mehr gab. Die Fans versuchten, ihre Flaschen auf den Toiletten aufzufüllen, woraufhin die Wasserhähne abgedreht wurden. Ein Vorgehen, das trotz mehrerer Verantwortungsbereiche auf die Veranstalter zurückzuführen ist.

Es waren mitunter menschenunwürdige Verhältnisse, die dieses Fußballfest begleiteten. Wenn es darum geht, die großartigen Bilder in die Welt zu senden, die beide Fanlager in Sevilla produzierten, ist die UEFA ganz vorne mit dabei. Denn das ist die Perspektive, mit der der Verband auf die Anhängerinnen und Anhänger blickt: Sie sind Mittel zum Zweck. Ein Marketingtool. Ihr Befinden ist hingegen zweitrangig.

EM 2020: Offenbarungseid eines scheinheiligen Veranstalters

Auch bei der paneuropäischen Europameisterschaft der Männer wurde das 2021 überdeutlich. Inmitten einer Pandemie ging es der UEFA vorrangig darum, um jeden Preis volle Stadien zeigen zu können. Das Turnier, angedacht als Großveranstaltung für ein geeintes Europa, verkam zum Offenbarungseid eines scheinheiligen Veranstalters.

Themen wie die Coronapandemie, Menschenrechte oder Inklusion und Diversität werden bei der UEFA nur dann großgeschrieben, wenn es der eigenen Kampagne dient und gleichzeitig niemandem vor den Kopf gestoßen wird. Allein der Kuschelkurs mit dem ungarischen Diktator Viktor Orban konterkariert die vermeintlichen Werte der UEFA bereits.

Das Verbot der Regenbogenaktionen in München, die Verlegung zahlreicher Spiele nach Ungarn, um den Maßnahmen gegen Corona zu entfliehen, sowie die Betonung einer politisch neutralen Haltung, die alles andere als das ist, charakterisieren die europäische Fußballunion.

Auch beim EM-Finale in London gab es dann organisatorische Probleme. Menschen hatten damals versucht, das Wembley-Stadion zu stürmen. Die Ränge waren anschließend voller und enger, als eigentlich zugelassen. Hygienemaßnahmen? Irrelevant.

Die UEFA hatte bei der EM 2020 verboten, dass die Allianz Arena gegen Ungarn in Regenbogenfarben leuchtet.
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Die UEFA hatte bei der EM 2020 verboten, dass die Allianz Arena gegen Ungarn in Regenbogenfarben leuchtet.

UEFA hätte längst aus den Fehlern lernen können

Gelernt hat die UEFA aus all diesen Ereignissen nichts. Wobei dieser Satz impliziert, dass dem Verband etwas am Wohl der Fans liegen würde. Wäre das der Fall, würden sie anders handeln. Sie hätten beim Champions-League-Finale womöglich darauf verzichtet, ihre eigene Verantwortung für das Chaos auf jene zu übertragen, die dort mitunter panisch vor Pfeffersprayattacken fliehen mussten.

Vielleicht hätten sie auch auf die absurde Show verzichtet, die kurz vor dem Anpfiff stattfand. Als wäre nichts weiter passiert, ließen sie Camila Cabello auftreten. Ein Auftritt, der die Diskrepanz zwischen einer geld- und machtbesessenen Organisation wie der UEFA einerseits und den Faninteressen andererseits wunderbar aufzeigt. Die Kubanerin hatte noch kein Wort gesungen, da hallten schon laute Pfiffe durch das Rund.

Laut The Liverpool Echo hatte die weltbekannte Sängerin anschließend zwei Tweets verfasst, in denen sie sich über dieses Verhalten beschwerte. "Ich habe meine Performance nochmals angeschaut und kann es nicht glauben, dass Leute ihre Vereinslieder so laut während meines Auftritts gesungen haben", schrieb die 25-Jährige.

Mittlerweile sind die Tweets wieder gelöscht. Es ist die absurde Kirsche auf einer weltfremden Torte, die nicht weiter vom Geschmacksempfinden der meisten Fußball-Fans entfernt sein könnte. Und es wird nicht das letzte Mal gewesen sein, dass die UEFA mit solchen Aktionen auffällt. Statt eines besonderen Finals lieferte sie einen weiteren Beweis auf einer sehr langen Liste. Dafür, dass Fans nur dann einen Wert für sie haben, wenn sie davon profitieren kann.

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