In kurzen Hosen kommt Dennis Grassow zur Rezeption und führt umgehend in sein Büro. Es geht an einigen Tischgruppen im Empfangsbereich vorbei in einen Gang, von dem an beiden Seiten zahlreiche Zimmer abgehen. Ein Hausbewohner im Rollstuhl hält Grassow auf und fragt, ob er heute noch einmal kurz bei ihm vorbeischauen könne. Mit der Toilettenspülung stimme etwas nicht. "Natürlich", sagt Grassow, "aber erst gegen später."
Der betagte Senior weiß freilich ganz genau, dass er hier den Leiter der Haustechnik und gewissermaßen auch den Hausmeister vor sich hat. Weiß er auch von Grassows Vergangenheit? "Nein, er nicht", antwortet der 53-Jährige. "Einige hier schon, aber ich habe das nie groß zum Thema gemacht."
Doch nicht nur Grassows Hintergrund ist ein gewichtiger Grund für den Besuch in der Seniorenwohnanlage "Am Hachinger Bach", die sich in der Gemeinde Taufkirchen im Münchner Süden befindet. Grassow arbeitet hier seit dem 15. März 2012. Seitdem lässt sich Grassows Leben in zwei Abschnitte einteilen. Nur drei Jahre zuvor beendete er seine Karriere als Fußballprofi, die Ende der 1980er Jahre beim TSV 1860 München begann und Stationen in Unterhaching, Köln oder Regensburg beinhaltete - und beim großen FC Bayern.
Der deutsche Rekordmeister hat hier am Köglweg auch einen Platz gefunden, vorne im Foyer. Dort hängt ein gerahmtes Mannschaftsposter von der Saison 1997/98. "Das ist für Gäste zu einem echten Blickfang geworden", erzählt Grassow. "Einmal war ein Polizist im Haus, der hat sich das genau angeschaut. Ich lief zufällig vorbei und sagte: Schauen Sie mal, das hier oben bin ich! Der war völlig von den Socken."
Dennis Grassow kommt auf 176 Spiele in den ersten drei Ligen
Wäre es allerdings nach Grassow gegangen, das Poster würde heute noch auf dem Speicher vor sich hin gammeln. Erst vor zwei Jahren wurde es dort von seinem Chef und Regionalleiter Safet Pjanic entdeckt. "Er ist auf mein Abteil gestoßen und hat dort die Pokale und Poster gesehen. Er meinte dann, er würde das gerne aufhängen. Mir war es egal", sagt Grassow. Zehn Jahre lang wusste im Haus niemand von seiner zweifelsfrei beachtlichen sportlichen Vergangenheit.
Grassow absolvierte einst 176 Spiele in Deutschlands drei höchsten Ligen, zu seiner Glanzzeit gehörte er zu den besten Verteidigern der 2. Liga. Nun sitzt Grassow an seinem Schreibtisch in einem rund 30 Jahre alten Gebäude, bei dem laut seiner Aussage einiges im Argen liegt. "Arbeit und Verantwortung sind enorm", sagt er. Das Büro misst nicht viel mehr als 20 Quadratmeter. Direkt beim Eingang befindet sich eine Art Vorraum, in dem er allerhand Werkzeug lagert.
Mit Blick auf den grünen Vorhof der Anlage erzählt Grassow ruhig und bedächtig von den Anfängen seiner Laufbahn als Spieler. Manches Mal wirkt er dabei, als spreche er über ein vollkommen anderes, fast fremdes Leben.
"Hätte zum BVB gehen sollen": Dennis Grassow bereut Bayern-Wechsel
"Ich hätte zum BVB gehen sollen", sagt Grassow. "Ein Wechsel nach Dortmund wäre in vielerlei Hinsicht besser gewesen. Ich wäre mal aus meiner Komfortzone herausgekommen, hätte mich nur noch um den Fußball kümmern können und wäre nicht so abgelenkt gewesen. Ich hätte dort gewiss professioneller und fokussierter gearbeitet." Doch dann hat sich Bayern-Manager Uli Hoeneß gedacht: "Da ist einer direkt vor der Tür, wieso wechselt der nach Dortmund und nicht zu uns?", mutmaßt Grassow.
Nach der Umsiedlung von Niedersachsen nach Bayern ins Dörfchen Wörth bei Erding - der Plan der Familie sah eigentlich vor, von seiner Geburtsstadt Berlin ins Ausland auszuwandern - hatte es Grassow bereits beim deutschen Rekordmeister versucht. Doch anders als bei 1860 war dort niemand vom Auftritt des Heranwachsenden im Probetraining begeistert.
Von den Löwen ging es für zwei Jahre nach Starnberg und von dort nach Unterhaching, wo er 1995 mit 23 Jahren in die 2. Liga aufstieg. Grassow wurde bei der Spielvereinigung nicht nur seinem Ruf als beinharter Verteidiger, Toni Polster sollte ihn später in Köln "Eisenbieger" nennen, sondern auch als Leistungsträger und Führungsspieler gerecht.
Uli Hoeneß stockt Gehalt für Dennis Grassow auf
Vom Interesse aus Dortmund erfuhr Grassow beim Skifahren in Ischgl. Es war ein echter Ritterschlag für ihn. Der BVB hatte schließlich gerade erst die Champions League gewonnen und war in der Defensive mit Julio Cesar, Jürgen Kohler oder Stefan Reuter exzellent aufgestellt. Auch Reiner Calmund meldete sich bei Grassow, doch entschied sich letztlich für die Kovac-Brüder.
In Dortmund saß Grassow bereits mit Trainer Ottmar Hitzfeld und Manager Michael Meier zusammen. "Das war weit fortgeschritten, wir waren uns mündlich einig", erzählt er. "Die haben mich gefragt, in welche Gehaltskategorie ich mich einstufen würde. Ich habe gesagt: Lars Ricken. Der hatte kurz zuvor das entscheidende Tor im CL-Finale geschossen."
Beim Termin an der Säbener Straße hockte er wenig später vor Hoeneß, Karl-Heinz Rummenigge und Karl Hopfner. Grassow kam ohne Berater. "Das war sicherlich ein Fehler. Ich habe mich nicht gut verkauft und hätte mehr herausholen können", sagt er. "Ich war jung und naiv, aber zufrieden mit dem, was ich bekam. Zumal ich dem Hoeneß auch gesagt habe, dass die Dortmunder beim Gehalt vorne liegen." Hoeneß stockte auf, allerdings leistungsbezogen - und Grassow willigte ein: "Hätte ich Einsätze gehabt, wäre das ein sehr guter Verdienst gewesen."
Dennis Grassow: Die Stationen seiner Profikarriere
Zeitraum | Verein | Pflichtspiele | Tore | Vorlagen |
1991-1993 | FC Starnberg | 32 | 1 | - |
1993-1997 und 1999-2004 | SpVgg Unterhaching | 227 | 13 | 2 |
1997 | FC Bayern München | 1 | - | - |
1997-1999 | 1. FC Köln | 31 | - | - |
2004-2006 | SV Darmstadt 98 | 47 | 4 | - |
2006-2009 | SSV Jahn Regensburg | 69 | 13 | 1 |
Ein Spiel für den FC Bayern - über 45 Minuten
Schaut man heute darauf, hat Grassow durchaus ein kleines Plätzchen in der Bayern-Historie gefunden. Er firmiert als Pokalsieger 1998 und ist einer von 47 Spielern, die im Rahmen des DFB-Pokals immerhin ein Pflichtspiel für den FCB absolvierten. Das war am 15. August 1997. Trainer Giovanni Trapattoni wechselte ihn in der 1. Runde gegen die DJK Waldberg zur Pause beim Stand von 10:1 für Markus Babbel ein. Mit Grassow auf dem Feld erzielten die Bayern noch sechs Treffer. "Da war schon noch was zu tun, weil alle andere die ganze Zeit nur nach vorne rannten und keinen Bock auf Defensive hatten", schmunzelt er.
Der Auftritt im Frankenstadion sollte es für ihn jedoch gewesen sein. Zwar stand Grassow oft im Kader, doch gespielt haben andere: "Beim Champions-League-Spiel in Göteborg dachte ich wirklich, dass ich ran darf. Im Abschlusstraining war ich in der A-Mannschaft. Dann hat Trap aber wohl schlecht geschlafen und kam auf eine andere Idee."
Auch bei einem Auswärtsspiel in Karlsruhe war es einmal fast so weit. "Kurz vor unserer Ankunft sagte Hoeneß im Bus: Wenn ihr heute gewinnt, gibt es die doppelte Punktprämie. Ich stand dann auch schon zur Einwechslung an der Seitenlinie bereit, weil sich Sammy Kuffour verletzt hatte und draußen behandelt wurde", erinnert sich Grassow. "Plötzlich schrie er aber: Nicht auswechseln, das geht schon, ich gehe wieder rein. Und das tat er dann auch."
Dennis Grassow über den FC Bayern: "Ich habe mir viel erhofft"
Er sei bei den Bayern eher als Einzelgänger unterwegs gewesen, sagt Grassow heute. Wie Trapattoni seine Situation sah, danach hat er ihn nie gefragt. Der Italiener habe sich seiner aber durchaus angenommen und nach den Trainingseinheiten unter anderem Technikübungen mit ihm absolviert. Grassows Fazit: "Ich habe mir viel erhofft. Ich glaube auch, er fand mich nicht so schlecht, aber eingesetzt hat er mich nie."
Nach nur einem halben Jahr zog er die Reißleine und beendete seine unbefriedigende Situation. Sein Unterhachinger Ziehvater Lorenz-Günther Köstner holte ihn per Leihe nach Köln. "Er kannte meine Qualitäten. Dort sah ich die Chance, regelmäßig in der Bundesliga zu spielen", sagt Grassow.
Beim FC bekam Grassow das höchste Gehalt seiner Karriere und spielte endlich wieder, stieg mit dem Klub aber aus der Bundesliga ab. Köln kaufte ihn trotzdem, doch nach einem Jahr in Liga 2 unter Bernd Schuster ging Grassow 1999 zurück nach Unterhaching - in Liga 1, unter Trainer Köstner.
Michael Ballacks legendäres Eigentor und die Party mit den Bayern
Grassow war somit Teil der beiden glorreichen Hachinger Bundesligajahre. Am 27. Februar 2000 schoss er bei einem 3:1-Heimsieg gegen den FC Schalke 04 sein einziges Tor im Oberhaus. "Das war nach einem Eckball", weiß es Grassow noch ganz genau. "Dann gab's Getümmel und der Ball landete irgendwie bei mir - also habe ich ihn reingeknallt. Gegen Jens Lehmann und die Eurofighter!"
Knapp drei Monate später stand er auf dem Rasen, als Michael Ballack im Sportpark sein legendäres Eigentor unterlief und Bayer Leverkusen dramatisch die Meisterschaft vergeigte. "Ich habe nicht wirklich verstanden, warum die auf einmal so Nervenflattern hatten", sagt Grassow. "Wir wollten uns eigentlich nur achtbar aus der Affäre ziehen und nicht untergehen."
Die Schale ging somit an den FC Bayern, der die Meisterparty ganz in der Nähe abhielt - und die Hachinger Truppe kurzerhand einlud: "Das hat sich einfach angeboten. Ich bin dann zu Hoeneß hin und habe gesagt: Ich habe für Bayern zwar nicht ein Bundesligaspiel machen dürfen, aber heute habe ich für euch gespielt."
Dennis Grassow beendete seine Profikarriere 2009
Eine Saison danach verabschiedete sich die SpVgg wieder aus der Beletage. Grassow hatte ein Haus gebaut und blieb. Selbst dann noch, als man drei Spielklassen tiefer in der Regionalliga Süd landete. "Es gab einfach keine Kontakte mehr zu höherklassigen Vereinen", sagt er. Nach fünf Jahren im Münchner Süden ließ Grassow seine Laufbahn in Darmstadt und als Kapitän bei Regensburg ausklingen. Im Mai 2009 stand er letztmals auf dem Platz.
Nach etwa einer Stunde Reminiszenz blickt Grassow auf die Uhr und unterbricht das Gespräch. Die Arbeit geht auch heute schließlich vor. Er hatte einer Frau auf Zimmer 39 versprochen, gegen 15 Uhr bei ihr vorbeizukommen. "Sie möchte, dass ich ihr einen Vorhang und ein paar Bilder aufhänge", sagt er.
Also los! Grassow geht in sein Kabuff, sammelt das nötige Werkzeug zusammen und schiebt dann einen Rollwagen gemächlich den Gang entlang. Im Raum gegenüber der anvisierten Wohnungstür herrscht reichlich Trubel. Einige Bewohner haben sich dort zum gemeinsamen Singen getroffen, ein Keyboard-Spieler heizt den Senioren ein.
Ein großer Zufall brachte Dennis Grassow ins Altenheim
Grassow klopft auch deshalb sehr nachdrücklich an, "sie hört aber auch nicht mehr so gut". Die betagte Dame öffnet im Rollstuhl sitzend, Grassow begrüßt sie herzlich. "Ich habe heute noch einiges zu tun. Den Vorhang mache ich dann morgen. Versprochen!", sagt er und schnappt sich die bereits sorgfältig aufgereihten Bilder, die in antiquierten Holzrahmen stecken.
Sie sind schwarz-weiß gehalten und zeigen Münchner Szenerien, im Englischen Garten oder am Viktualienmarkt. "Das sind wirklich schöne Rahmen", sagt Grassow. "Ja, sie sind wunderschön", sagt die Frau und strahlt übers ganze Gesicht. Dann bohrt er mehrere Löcher in die Wand und hält eine Schaufel unter die Bohrmaschine, um den abbröckelnden Putz aufzufangen. Nach wenigen Handgriffen sitzt alles am gewünschten Ort. Grassow packt zusammen und verabschiedet sich: "Bis morgen - versprochen!"
Dass Grassow bei der Arche Noris, einem überregional tätigen Träger von Altenhilfeeinrichtungen, ambulanten Pflege- und Betreuungsdiensten sowie Tagespflegen gelandet ist, verdankt er einem großen Zufall. Dabei schlug auch er zunächst den Weg ein, den viele Ex-Profis gehen: Er machte die B- und A-Lizenz und versuchte sich im Trainergeschäft.
Dennis Grassow nach der Laufbahn: Erst rat-, dann arbeitslos
Als Einstieg wählte er damals die B-Jugend beim TSV Gilching-Argelsried nahe seines Wohnortes. "Das war nichts für mich mit all den Pubertierenden. Die hatten zu viele Flausen im Kopf", sagt der zweifache Vater. Irgendwo musste es weitergehen, denn ausgesorgt hatte er nicht und der Kredit für das Haus wollte bedient werden. Günter Güttler, sein ehemaliger Chefcoach beim Jahn, machte ihn daraufhin zum Co-Trainer bei der SpVgg Weiden in der Regionalliga.
Es dauerte jedoch nicht lange, da ging der Verein kurz nach der Winterpause insolvent und stellte den Spielbetrieb ein. Grassow hatte genug: "Ich habe für mich erkannt: Trainer im Herrenbereich zu sein, ist etwas Feines, aber um Geld zu verdienen, muss man schon höherklassig unterwegs sein. Dazu weiß man nie, wo man am Ende landet und wie weit dann Familie und Freunde entfernt sind. Deshalb schloss ich mit dem Fußball ab und wollte etwas anderes machen."
Nur was? Grassow war rat- und bald arbeitslos. "Ich bin mit meinem Geld immer solide umgegangen. Daher hatte ich schon einen Puffer, aber eben auch konstante finanzielle Aufwendungen. Ich brauchte schnell einen Job", sagt er und nennt diese Zeit in seinem Leben rückblickend eine "psychisch absolute Belastung".
"Ich habe den Weg zum Ziel nicht gefunden"
Er erhielt Arbeitslosengeld, womit er gerade so die laufenden Kosten decken konnte: "Alles andere ging von meinem Puffer ab. An Altersvorsorge hat man früher wenig gedacht. Ich habe den Weg zum Ziel nicht gefunden, weil ich nicht genau wusste, was ich machen möchte. Das war alles sehr unschön."
Das Arbeitsamt schlug ihm auch abwegige Dinge vor, darunter etwa einen Job in der IT in Köln. Er begann, einige Monate in der Firma des Onkels seiner Frau zu jobben. Dann veränderte ein Feierabend-Bierchen - und nicht, wie bereits kolportiert wurde, sein kaputtes Auto - alles.
Grassow besuchte einen Kumpel in Oberhaching in dessen Kfz-Werkstatt. "Er kannte meine Situation und zum Glück auch den Mann der damaligen Heimleiterin, deren Wagen zu dem Zeitpunkt in der Werkstatt war. Durch sie hat er erfahren, dass dort eventuell ein neuer Hausmeister gesucht wird", erinnert er sich.
Als Ex-Profi im Seniorenheim? "Ich habe nicht eine Minute gezögert"
Damit nicht genug: Der Kumpel bat daraufhin seine ehemalige Schwiegermutter, die früher bereits im Altenheim am Köglweg arbeitete, dort einmal anzurufen und nachzufragen. "Keine Woche später hieß es, ich solle einfach mal zu einem Vorstellungsgespräch vorbeikommen", sagt Grassow. "Wir haben uns sofort gut verstanden. Die sagten mir: Lass uns das probieren - inklusive einem Jahr Probezeit. Der bisherige Hausmeister war bei einer externen Firma angestellt und hat mich noch zwei Wochen lang eingelernt."
Völlig fachfremd war Grassow bei seiner neuen Arbeit nicht. Als er nach Bayern kam, absolvierte er eine Ausbildung zum Sanitärinstallateur. Jeden Morgen um 5.30 Uhr stieg er in die S-Bahn. Um sieben war Dienstbeginn, drei- bis viermal die Woche stand ab 18 Uhr noch das Training bei 1860 an. "Schon damals war es nie mein Ziel, Profifußballer zu werden. Und plötzlich stehe ich dutzende Jahre später hier im Haus, war handwerklich zwar begabt, aber hatte eigentlich keine große Ahnung", lacht er.
Hatte er als ehemaliger Profifußballer keine Vorbehalte gegen einen Job im Altersheim? Grassow wäre bei weitem nicht der erste Ex-Kicker, den man aufgrund dieses vermeintlichen Absturzes brandmarken würde. "Ich habe nicht eine Minute gezögert oder gedacht, dass ich das nicht machen kann, weil ich mal in der Bundesliga gespielt habe", entgegnet er entschieden. "Es gibt einige ehemalige Profis, die heute gar keine Arbeit haben. Das ist die Gier der Öffentlichkeit, das Schlechte im Gegenüber zu sehen, weil man ihm nichts gönnt. Man denkt an Absturz, wenn man meine Geschichte hört. Nach dem Motto: Der war mal ganz oben, jetzt ist er ganz unten. Das bin ich aber nicht."
Dennis Grassow wohnt, wo er arbeitet
Mittlerweile ist Grassow so lange hier, dass er gar nicht weiß, wo all die Zeit hin sein soll. Er wohnt im selben Gebäude, in dem er arbeitet. Seine kleine Mitarbeiterwohnung hat keine Küche, aber einen großen Balkon. Gekocht wird bei seiner Freundin. Sie haben sich bei der Arbeit kennengelernt und wohnen nur wenige Meter voneinander entfernt.
"Ich habe nicht damit gerechnet, dass ich so lange hier bleibe. Im ersten halben Jahr bin ich ordentlich ins Schwitzen gekommen. Ich war nervös und wollte keine Fehler machen. Das war schon ziemlich stressig", sagt Grassow. Nach zwei, drei Jahren hatte er Routine, wenngleich das Haus viele Überraschungen parat hat, wie er sagt: "Einiges wiederholt sich aber auch. Teilweise sehr regelmäßig sogar. Ich bin bestrebt, durch meine Tätigkeit auch dabei zu helfen, dass das Haus finanziell gut dasteht."
Die Arbeit in diesem besonderen Kosmos habe sein Leben bereichert, versichert er glaubhaft. Älteren Menschen gegenüber zeigt er sich nun auch außerhalb des Altenheims gefälliger als früher, hilft ihnen über die Straße oder trägt im Supermarkt auch mal ein paar Einkaufstüten. Dass Grassow bei den Senioren beliebt ist, merkt man schnell. Mit manchen Bewohnern plaudert er auch über Fußball.
Der schmerzhafte Verlust das Trikot-Koffers
Er hat gelernt, wie wichtig solche Einrichtungen sind: "Das Bild, das ich von einem Altenheim hatte, veränderte sich ziemlich schnell komplett. Man braucht solche Heime, weil es schlichtweg viele hilfsbedürftige ältere Menschen gibt. Die sind hier sehr gut aufgehoben und finden auch wieder zu einer Gemeinschaft. Alleine zu Hause altert man noch viel schneller, dort kann auch immer etwas passieren. Hier wird man betreut und versorgt. Niemand ist alleine. Hier herrscht bei den allermeisten eine große Lebensfreude."
Grassow erfreut sich besonders an der Vielfältigkeit seines Jobs. Im Winter kümmert er sich um die Schneeräumung, in den wärmeren Monaten gehört die Pflege des Gartens rund um das Gebäude zu seinen Aufgaben. "Das Geilste aber ist, dass ich um acht Uhr gerne in die Arbeit gehe", sagt er.
Nur zwei Aspekte haben ihm in all den Jahren nicht gefallen. Da wäre zunächst der Raub im eigenen Haus. Grassow lagerte einen großen Reisekoffer "mit bestimmt 30 Trikots, Wimpeln und allem möglichen Zeug" aus der Zeit als Profi auf dem Speicher. Auf einmal war er verschwunden. "Ich habe überall gesucht, ob ich ihn vielleicht doch einmal irgendwo anders hin getan habe. Was will man auch mit einem Haufen alter Leibchen, die kauft doch niemand? Für mich haben sie aber brutalen Wert. Da war auch das Champions-League-Trikot drin, das ich damals bei Bayern trug", sagt er.
Das Sterben ist ein steter Begleiter im Altenheim
Ein viel elementarer Verlust als dieser ist freilich der von Menschen. Das Sterben ist ein steter Begleiter im Altenheim, "schließlich ist das in der Regel für viele hier die Endstation", sagt Grassow. Schön sei es natürlich nie, wenn ein Bewohner des Hauses stirbt. Doch Grassow hat sich damit arrangiert, es bleibt ja kaum eine andere Wahl: "Man sieht, wie die Menschen abbauen und bekommt ein Gefühl dafür, wenn es nicht mehr lange geht."
Musste er sich auch schon von echten Freunden verabschieden? "Es gibt große Sympathien, das schon. Freundschaft würde ich es nicht nennen. Mit manchen Bewohnern ist der Kontakt intensiver, die wachsen dir dann mehr ans Herz. Ich erinnere mich besonders an eine Dame, die ich regelmäßig besucht habe. Wir haben uns immer sehr nett unterhalten. Sie starb dann überraschend. Das hat schon wehgetan. Leider bleibt in der Regel nicht viel Zeit, um persönlich Abschied zu nehmen", sagt Grassow.
Wehmut überkommt ihn nicht, wenn er über solche Fälle spricht. Auch nicht beim Blick zurück auf seine vielen Jahre im Profifußball. "Diese Zeit war geil, aber sie ist vorbei", sagt Grassow. Mit Teamkollegen von früher hat er kaum noch Kontakt, das Treffen der alten Hachinger Garde zum 25. Jubiläum des Bundesligaaufstiegs am Chiemsee empfand er aber als wunderschön: "Wir haben uns alle umarmt. Es herrschte eine große Herzlichkeit."
"Mein Bruder kann es manchmal gar nicht glauben"
Heute verfolgt Grassow das Geschehen noch im Fernsehen, ins Stadion geht er nur noch selten. Auch das eigene Kicken, zuletzt hatte er fünf Jahre lang bei den Senioren des TSV Neuried mitgetan, beendete er. Er mache eine Pause, sagt Grassow: "Ich müsste mehr trainieren, bin aber etwas faul geworden. Mir fehlt es schon. Gerade die Kameradschaft. Du stehst auf dem Platz und bist ehrgeizig, danach folgt die dritte Halbzeit in der Kabine. Das ist wunderbar."
Bald bricht so etwas wie die dritte Halbzeit in seinem Leben an. Die Rente ist in Sicht. Die Vorstellung, wie er einmal selbst im Alter leben wird, "die verdränge ich", sagt Grassow: "Einige Arbeitskollegen machen sich schon mehr Gedanken und Sorgen, wenn sie das hier sehen. Die möchten so nicht enden."
An einen anderen Job denkt er nicht. So lange die Gesundheit mitspielt, sieht sich Grassow im Altenheim. "Mein Bruder kann es manchmal gar nicht glauben, was ich jetzt als ehemaliger Bundesligaspieler so mache", erzählt er mit einem Lächeln. Bis heute bekommt er Autogrammpost. Wie zum Beweis kramt Grassow zwei Briefumschläge hervor, öffnet sie und unterschreibt die beiden ausgedruckten Bilder, die ihn im Haching- und Köln-Trikot zeigen.
Das Markenzeichen von Dennis Grassow: Kurze Hose bei jedem Wetter
"Keine Ahnung", sagt Grassow energisch auf die Frage, was ohne den Zufall in der Kfz-Werkstatt passiert wäre: "Irgendetwas hätte sich bestimmt ergeben, aber wohin mein Weg dann geführt hätte, kann ich absolut nicht sagen." Grassow bereut nichts. Warum auch? "Mir geht es gut und ich bin vor allem glücklich", sagt er.
Zum Abschied geht Grassow mit Richtung Empfangsbereich. Dorthin, wo das Bayern-Poster hängt. Bereitwillig lässt er sich davor fotografieren. Was könnte er für Anekdoten über Oliver Kahn, Mario Basler und Co. erzählen, "aber die darf man alle nicht schreiben", lacht er.
Na gut. Eine Sache ist da aber noch. Während an diesem trüben Herbsttag jeder mit Jacke, Pulli und Jeans durch die Gegend rennt, trägt Grassow kurze Hose. "Immer, das ganze Jahr über!", erklärt er. "Mich stören lange Hosen, selbst im Winter. Ich saß schon auf dem Traktor und habe in kurzer Hose den Schnee geräumt." Dann hält er inne, überlegt kurz und sagt: "Vielleicht hängt das noch mit meiner Vergangenheit zusammen."