Vorbolzen und hinterherfetzen

Markus Gisdol übernahm beim HSV von Bruno Labbadia
© getty

Der Hamburger SV vollzog unter Trainer Markus Gisdol einige taktische Änderungen. Vor dem Spiel im DFB-Pokal gegen Borussia Mönchengladbach (18.30 Uhr im LIVETICKER) blickt SPOX auf die Taktiktafel des Labbadia-Nachfolgers.

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Der dem HSV zugeneigte Leser mag beim Lesen des Titels direkt aufschrecken. Vorbolzen und hinterherfetzen. Kann das wirklich die Herangehensweise eines Bundesligisten sein? Ja und nein. Ganz so einfach ist die Strategie von Markus Gisdol bei den Hanseaten sicherlich nicht zu erklären. Wenngleich die Essenz doch gut getroffen sein sollte.

Mit seiner Übernahme im September 2016 hat Gisdol beim HSV keine Revolution ausgelöst, gleichwohl aber das Spiel des abstiegsbedrohten Klubs stabilisiert. Dabei kamen Voraussetzungen des Kaders, Vorarbeit von Bruno Labbadia und die eigenen Vorstellung des neuen Mannes zusammen.

Letztlich ergibt sich ein Bild, das bisher einen Punkteschnitt von 1,32 ermöglicht und Hamburg zumindest vorübergehend aus dem Tabellenkeller geholt hat. Nach der winterlichen Transferperiode sind zudem weitere Entwicklungen zu beobachten, die auch langfristig Verbesserung bedeuten könnten - das 0:8 bei den Bayern ausgeklammert.

Strategische Grundzüge

Gisdol hat seiner Mannschaft im Spiel mit dem Ball ein relativ einfaches Gesicht gegeben. Der Ball fliegt vermehrt aus der ersten Aufbaulinie direkt in die Spitze und wird dort entweder verarbeitet oder über den zweiten Ball zurückerobert.

Auf den langen Ball folgen zahlreiche Luftduelle sowie ein recht unübersichtliches Gegenpressing, das es nicht nur vermag, den Ball in fortgeschrittenen Zonen zu sichern, sondern auch den Gegner aus seiner Ordnung zu zwingen und damit hektische Umschaltaktionen zu provozieren.

Gegen den Ball lässt Gisdol wenige Meter vor der Mittellinie auf den Gegner warten und ihn anschließend Richtung Seitenlinie lenken. Dabei verändert der HSV die Grundordnung des 4-2-3-1 nur selten. Ein Überbleibsel aus der Zeit von Labbadia, der die selbe Zahlenfolge bevorzugte.

Lange Eröffnung aus erster Linie

Somit mutet das Spiel der Hamburger einfach an und ist es in vielen Szenen auch. Doch selbst eine derart vereinfachte Form des Aufbauspiels oder des Pressings erfordert akribische Detailarbeit. Ein Spielzug der Hanseaten beginnt meist über den Torwart oder seltener die Innenverteidiger.

Opta-Widget: Rene Adler (1), Kyriakos Papadopoulos (9) und Mergim Mavraj (13) spielten gegen RB Leipzig jede Menge lange Bälle vor die gegnerische Defensive. Die Statistik zeigt, dass die langen Bälle nur selten ankommen.

Eine kurze Zirkulation in der Viererkette gibt den eigenen Spielern Zeit, aufzurücken und sich für einen langen Ball vorzubereiten. Die äußeren Mittelfeldspieler ziehen etwas in die Mitte, der Zehner orientiert sich eng am Mittelstürmer. Dieser ist meist das Ziel der hohen Bälle, gelegentlich werden jedoch auch andere Spieler gesucht.

Erfolgt der lange Ball, geht der Zielspieler in das Kopfballduell und versucht primär, den Ball in seinen Rücken zu verlängern. Einer der äußeren Mittelfeldspieler startet derweil in die Tiefe und pokert auf eben jene Verlängerung. Durch den Start aus der Tiefe hat er einen Tempovorteil und vermeidet das Abseits.

Kombinationen an den Seiten

Der andere äußere Mittelfeldspieler und der Zehner lauern dagegen auf einen möglichen zweiten Ball, sollte der Stürmer das Kopfballduell nicht gewinnen. Spielt beispielsweise Michael Gregoritsch, sieht die Organisation der Spieler etwas anders aus, das Prinzip bleibt aber gleich: einer tief, zwei sichern.

In zweiter Reihe der Absicherung stehen die Außenverteidiger relativ eng, die Sechser sichern zentral ab. Somit verengt der HSV das Spielfeld und sichert sich so gute Chancen auf die Balleroberung. Wird dieser gewonnen, fächern die Spieler jedoch schnell auf und versuchen anschließend, Chancen zu kreieren.

Das funktioniert meist über kleine, kurze Kombinationen in den Halbräumen über einen Dritten, der in die Tiefe startet. Von den Räumen neben dem Sechzehner erfolgen dann Hereingaben in den Strafraum, die in Art und Weise stark variieren. Die individuelle Qualität von Filip Kostic erzeugt hierbei einen leichten Fokus auf die linke Seite.

Grafik 1: Eine kleine Kombination über den rechten Flügel des HSV im Spiel gegen Freiburg: Zehner Holtby ist ausgewichen, rechter Mittelfeldspieler Hunt läuft den Weg für Sakai frei. Dessen Hereingabe endet im 2:1.

Für mobile Nutzer: Eine Kombination über rechts kurz vor dem 2:1-Treffer Hamburgs gegen den SC Freiburg

Training mit Mittelfelddiamant

Das ergibt eine leichte Asymmetrie im Kader des HSV. Mit Gotoku Sakai spielt der beste Aufbauspieler auf der rechten Seite, während der fokussierte Offensivspieler auf links unterwegs ist. Gisdol löst das mit einer hohen und zentralen Einbindung Sakais sowie regelmäßigem Hinterlaufen des rechten Mittelfeldspielers.

Die beiden zentralen Mitteldspieler im 4-2-3-1 werden dagegen nicht annähernd so oft gesucht oder im Spielaufbau genutzt, wie es bei anderen Mannschaften der Fall ist. Mit Gideon Jung und Walace kristallisierte sich zuletzt zwar eine recht ballsichere Doppelsechs heraus, große Bedeutung nimmt diese aber weiterhin vor allem defensiv ein.

Gisdol lässt im Training bisweilen die Mitte des Feldes ausschneiden. Mit einem Diamanten, der sich zwischen den Strafräumen zentral erstreckt, wird das Spiel nach außen gezwungen. Eventuell eine Reaktion darauf, dass in der Bundesliga die Mitte vorrangig gesichert wird und seine Spieler qualitativ (noch) nicht in der Lage sind, dort erfolgreich zu kombinieren.

Grafik 2: Eine Spielform im Training des HSV. Gisdol blockiert mit seinem Diamanten die Mitte für seine Spieler. Damit muss entweder lang über den Diamanten weg oder aber über die Flügel aufgebaut werden.

Für mobile Nutzer: Vereinfachter Aufbau einer Spielform von Markus Gisdol zum Spielaufbau

Chaos erzeugen und Chaos nutzen

Insgesamt ist der Spielansatz des HSV sehr "gisdolig." Der 47-Jährige stand schon bei der TSG 1899 Hoffenheim dafür, mit seinem Team regelmäßig Chaos auszulösen und so für unsortierte Momente beim Gegner zu sorgen, die seinem eigenen Team - gewohnter an das Chaos - zu Vorteilen verhalfen.

Der gleiche Ansatz findet sich auch in der Defensivarbeit der Hamburger wieder. Der HSV bringt eine sehr laufintensive, körperbetonte Spielweise auf den Platz, was einige Balleroberungen einbringen kann, gleichzeitig aber auch in einem oft zerfahrenen Spiel endet. Das muss nicht unbedingt schlecht sein für das Gisdol-Team.

Was allerdings definitiv nicht auf der positiven Seite eingeordnet werden darf, sind die zahlreichen Fouls, die selbst in gefährlichen Zonen noch begangen werden. Diese sind ebenso Resultat der aggressiven Spielweise als auch des selbst erzeugten Umschaltmoments, in dem viele Situationen durch ein Foul beendet werden müssen.

Schwierigkeiten im Zwischenlinienraum

Der HSV versucht grundsätzlich, den Spielaufbau des Gegners nach außen zu lenken. Der Zehner kann dazu etwas nach vorne stoßen und ein 4-4-2 herstellen, oft verteidigt die Mannschaft aber in ihrer Grundordnung. Auf den Außen wird dann gedoppelt, entweder mit äußerem Mittelfeldspieler und Sechser oder mit Außenverteidiger und äußerem Mittelfeldspieler.

Da die zentralen Mittelfeldspieler jedoch oft mannorientiert verteidigen, lässt sich nicht immer eine saubere Ordnung erkennen. Schafft es eine Mannschaft, in die Ordnung hinein und wieder herauszuspielen, kann sie den HSV auseinander ziehen und Lücken öffnen.

Diese entstehen regelmäßig vor der Viererkette und müssen dann durch herausrückende Verteidiger aufgefangen werden. Ist die Anpassungsbewegung der restlichen drei Defensivspieler nicht ideal, ergeben sich Chancen zum Durchbruch. Interessant ist die Rolle der Außenverteidiger.

Grafik 3 (animiert): Freiburg konnte vor die Viererkette spielen. Mavraj rückt raus, Djourou und Sakai nehmen den gleichen Mann. Dadurch wird eine Lücke in der Kette frei, die der SCF zum 2:2 nutzt.

Für mobile Nutzer: Freiburgs Treffer zum 2:2 gegen den Hamburger SV nach Fehler in der Viererkette

Zukünftige Entwicklungen

Besteht kein Druck auf den Ball, rücken sie heraus und erzeugen so eine sichelförmige Linie der Viererkette. Ist der Ball außen jedoch unter Druck, bleibt auch der ballnahe Außenverteidiger sehr zentral neben den Innenverteidigern. Kleinere Anpassungen sind dabei stets auf den jeweiligen Gegner ausgerichtet.

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Gegen den SC Freiburg versuchte sich Hamburg beispielsweise gelegentlich am Schließen der Passwege zu den Außenverteidigern und provozierte so Bälle in die Halbräume zwischen Außenmittelfeldspieler und Zehner hindurch. Die Sechser sollten dorthin herausrücken und so wohl günstige Balleroberungen zum Konter erzwingen.

Grafik 4: Kostic versperrt den Weg zum Rechtsverteidiger. Freiburg wählt den Pass durch die Gasse, Jung kann nicht entscheidend stören. Freiburg kann die Situation auflösen und spielt die Situation aus Grafik 3 aus.

Für mobile Nutzer: Versperren der SCF-Außenverteidiger durch die Mittelfeldspieler des Hamburger SV

Dies könnte eine weitere Entwicklung bedeuten. Ein trichterförmiges Pressing wie dieses ist riskanter, sorgt aber zugleich für erfolgsversprechendere Balleroberungen. Sollte Gisdol hier eine Änderung anstreben, wäre das wohl auf die im Winter verbesserte Zentrale zurückzuführen - und damit etwas Abstand nehmen vom 'Vorbolzen und Hinterherfetzen'.

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