Die Rekorde kann er schon selbst nicht mehr alle aufzählen. Roger Federer hat alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt im Tennis. Ein Mal, mehrfach. Oder sogar acht Mal - wie Wimbledon, das Turnier der Turniere. Er gewann bisher 20 Majors, gerade erst machte er die runde Zahl bei den Australian Open perfekt. Er ist vieles als Jäger der Bestleistungen, auch das Ausdauerwunder, der Marathonmann. 65 Grand Slams spielte er ununterbrochen und ist damit unübertroffen. Er stand auch 23 Mal hintereinander in Grand-Slam-Halbfinals. Und er war schon 302 Wochen an der Spitze der Weltrangliste, davon 287 Wochen in Serie.
Doch hat er dem Ganzen nun etwa noch die Krone aufgesetzt, der Held der ganzen Sportwelt? Als er am Freitagabend in der Rotterdamer Ahoy-Arena den Lokalmatador Robin Haase in drei Viertelfinalsätzen niedergerungen hatte und zur ältesten Nummer 1 der Tennisgeschichte geworden war, mit 36 Jahren und 195 Tagen, da war es nach Federers Selbsteinschätzung genau das - der ultimative Triumph, der Rekord der Rekorde überhaupt.
"Vielleicht der schönste Moment meiner Karriere"
Ein scheinbar unmöglicher Moment, wahr geworden nur dreizehn Monate nach Verletzungssorgen und ungewissem Comeback. "Das ist vielleicht der schönste Moment meiner Karriere. Weil ich weiß, was hinter diesem Erfolg steht", sagte Federer, "in diesem Alter musst du doppelt arbeiten für alles. Das verlangt absolute Disziplin und Hingabe."
Wenn am Montagmorgen die Computer-Weltrangliste veröffentlicht wird, hat sie ein vertrautes, aber seit Jahren nicht mehr gesehenes Bild. Federer wird dann vor Rafael Nadal stehen, seinem ewigen Rivalen. Mehr als fünf Jahre ist es her, dass Federer letztmals der Führungsspieler des Wanderzirkus war - und wenn etwas unmöglich schien, dann diese Rückkehr an die Spitze.
Denn die Eroberung von Platz eins ist so etwas wie die Königsdisziplin des Tennis, eine harte Anstrengung über Wochen und Monate, eine massive Prüfung für Psyche und Körper. "Die Nummer eins zu werden, hat nichts mit Glück oder Zufall zu tun. Es bestätigt, dass du wirklich ständig gutes Tennis spielst", sagt Federer.
An diesem Rotterdamer Wochenende blickte er selbst etwas ungläubig auf alles zurück, was er seit dem Comeback zu Saisonbeginn 2017 erreicht hat - und was mit dem Gipfelsturm seinen vorläufigen Abschluss fand. "Nichts von dem habe ich erwartet. Das macht es aber umso schöner. Es ist wirklich ein einziger großer Traum, den ich da gerade lebe", sagte Federer. Ein Traum auch deswegen, weil er zwischenzeitlich, lange vor den Verletzungsproblemen des Jahres 2016, an weiteren ganz großen Erfolgen gezweifelt hatte.
Als Konkurrenten wie Novak Djokovic oder Andy Murray ihn ein ums andere Mal distanzierten und immer wieder in großen Finals schlugen, sah mancher schon Federers Reputation in Gefahr, seinen Ruf beschädigt. "Es war schon eine Durststrecke. Aber ich habe nicht wirklich den Glauben verloren. Ich habe mich immer wieder neu motiviert", sagte der Schweizer.
Jungbrunnen Federer
Genau wie Andre Agassi, den er als ältesten Nummer 1-Spieler ablöste, erlebte Federer noch eine späte, wundersame Renaissance - in seinem Fall sogar erst jenseits des 35. Lebensjahres. Seit er in der letzten Saison zu den australischen Tenniswochen ins Tennisgeschäft zurückkehrte, entfaltete sich eine hollywoodreife Story - mit dem Maestro in der vortrefflichen Hauptrolle. Drei von vier Grand Slams, bei denen er antrat, gewann Federer, zwei Mal in Melbourne, ein Mal in Wimbledon.
Aber er holte sich auch Masters-Trophäen, gewann an Lieblingsschauplätzen wie in Halle - dort übrigens schon zum neunten Mal. Bei 74 Einsätzen ging er nur sechs Mal als Verlierer vom Platz, ein Mann, tief in seinen Dreißigern, aber jugendlich beschwingt, voller Lust am Spiel.
Seine Triumphe haben auch mit Federers Innovationskraft und Inspiration zu tun. Er hat sich immer wieder neu erfunden, sein Spiel den Notwendigkeiten neuer Tenniszeiten angepasst. Gerade in der Zusammenarbeit mit dem Schweden Stefan Edberg, einem Großmeister der 90er Jahre, erhielt der Maestro frische Impulse, stärkte da seine Offensivkraft. Hinzu kommt eine strategisch perfekte Planung über viele Karrierejahre, eine richtige Dosierung der Auftritte - und die Kunst des Verzichts.
Er ließ 2016 sogar die ganze Sandplatzsaison sausen, um seine Substanz für realistische Titelmissionen wie in Wimbledon zu bewahren. Nun schaffte es Federer, mit nur zwölf Turnierwertungen die Nummer-1-Position zurückzuerobern - wobei ihm allerdings auch die anhaltende Verletzungsmisere unter den Spitzenkräften half, bei Djokovic genau so wie jüngst noch einmal bei Nadal.
Der Spanier wird möglicher Weise Ende Februar wieder in den Tourbetrieb einsteigen, beim Wettbewerb in Acapulco. Weil Federer in den nächsten Wochen hohe Punktwertungen zu verteidigen hat, als 2017-Sieger der Events in Indian Wells und Miami, ist es nicht unwahrscheinlich, dass er dann wieder für Nadal Platz machen muss.
Ewiger "Maestro"
Aber dass er es auf seine sehr späten Tage noch einmal bis nach ganz oben geschafft hat, ist verbrieft und besiegelt, das kann ihm niemand mehr nehmen. "Er ist der Mann, der das ganze Tennis umschreibt. Der Rekorde immer neu definiert", sagt Agassi, bisher der Älteste auf Platz eins. Nur zum Vergleich: Agassi war damals 33 Jahre alt, Federer nun ist 36 Jahre alt.
Wer Federers Tennis-Langlauf, seinen Ultra-Marathon besser verstehen will, muss nur einen Blick auf die Weltrangliste des Februars 2004 werfen - also den Moment, in dem der Schweizer als 22-jähriger bei den Australian Open erstmals den Gipfel erklomm. Keiner der Spieler, die damals in den Top Ten rangierten, ist noch als Profi aktiv.
Einstige Konkurrenten wie Juan Carlos Ferrero oder Carlos Moya trainieren inzwischen Federers heutige Topgegner - Ferrero arbeitet für Alexander Zverev, Carlos Moya für Rafael Nadal. Andy Roddick, Agassi, Rainer Schüttler, David Nalbandian oder Mark Philippoussis - sie sind alle längst Tennisrentner. Nur Federer ist immer noch da. Immer noch und immer wieder spitze.