Wenn man auf die vergangenen Playoffs zurückblickt, dann kommen vor allem zwei individuelle Storylines in den Kopf: Die irren Aufholjagden von Patrick Mahomes und der Chiefs-Offense - und dann war da Derrick Henry, der in Foxboro gegen die Patriots und in Baltimore gegen die Ravens durch die Defense walzte und seinen Anteil daran hatte, dass Tennessee überraschend bis ins AFC Championship Game stürmte.
So weit, so unstrittig - doch wie so häufig, sind auch hier Details und Kontext entscheidend. Wie groß genau war der Anteil von Henry an den Playoff-Siegen? War die starke Titans-Defense nicht wichtiger? Hatte Ryan Tannehill nicht noch immer deutlich mehr kritische Big Plays? Hatten Defenses sich nicht vermehrt auf die Big-Play-Passing-Offense der Titans fokussiert?
Spult man ein paar Wochen vor, landet man bei der Free Agency und dem Draft, wo Teams unmissverständlich zeigten, wie sie die Position zunehmend einschätzen. Einzig Melvin Gordon erhielt von den Broncos mehr als sechs Millionen Dollar garantiert, alle anderen neuen Verträge nach Team-Wechseln bewegten sich darunter.
Mehr noch: Die Arizona Cardinals hatten es sich zur Offseason-Aufgabe gemacht, den Deal von David Johnson loszuwerden, was per Trade mit den Houston Texans funktionierte. Die Los Angeles Rams entließen Todd Gurley letztlich, um seinen Vertrag möglichst schnell aus den Büchern zu bekommen. Atlanta wählte den gleichen Weg mit Devonta Freeman.
Vier der sieben Running Backs mit den höchsten Cap Hits 2019 sind somit nicht mehr bei ihren Teams; neben Johnson, Freeman und Gurley gehörte auch Lamar Miller in diese Gruppe. Miller und Freeman haben noch immer kein neues Team gefunden. Leonard Fournette (Platz 4 in Cap Hits unter Running Backs 2019) und Le'Veon Bell (Platz 3) kommen aus enttäuschenden Saisons.
Running Backs: Wie viel wollen Teams investieren?
Einen Cap Hit von lediglich 6,2 Millionen Dollar investierten Teams im vergangenen Jahr im Schnitt für Fullbacks und Running Backs. Einzig Tight Ends sowie Kicker, Punter und Long Snapper rangierten noch darunter.
Die meisten Teams sind vorsichtiger geworden, was das finanzielle Investment in Running Backs eingeht. Bell war in der Free Agency 2019 die große Ausnahme, ansonsten kam kein Back auf mehr als 7,5 Millionen Dollar garantiert oder mehr als 15 Millionen Dollar Gesamtvolumen. Investiert wird eher in junge, frische Backs über den Draft, wo dieses Jahr am Ende der zweiten Runde bereits sechs Backs ausgewählt worden waren.
Lange wirkte es, als würde Tennessee auch in diese Kategorie fallen. Henry, der über die letzten drei Jahre 812 Runs angesammelt hat, würde noch ein Jahr unter dem Franchise Tag spielen, weitere 250 bis 300 Runs ansammeln und würde dann entweder abgegeben werden, oder könnte sogar noch ein Jahr unter einem zweiten Tag spielen.
Warum also jetzt doch ein langfristiger Vertrag, ohne Not oder Druck? Henry hatte nie einen Holdout angedroht und fällt der Salary Cap aufgrund der Auswirkungen durch Corona über die nächsten Jahre wirklich, wäre ein günstigerer Vertrag noch deutlich eher zu rechtfertigen gewesen.
Der Henry-Vertrag: Vier Jahre - oder doch eher zwei?
Die Struktur des neuen Deals bietet die heißeste Spur. Henrys neuer Vierjahresvertrag über 50 Millionen Dollar ist de facto ein Zweijahresvertrag über 25,5 Millionen Dollar, aus dem Tennessee nach 2021 mit sechs Millionen Dead Cap aussteigen kann. Die beiden anderen Jahre sind so gesehen im Prinzip eine Team-Option in Höhe von 24,5 Millionen Dollar.
Hätte Henry 2020 unter dem Tag gespielt und dann einen neuen Vertrag in Tennessee erhalten, wäre das Gesamtvolumen aus den Franchise-Tag-Jahr und dem Folgevertrag deutlich über 25,5 Millionen Dollar gegangen. Hätte er einen zweiten Franchise Tag erhalten, hätte Tennessee ihm über die nächsten beiden Jahre rund 23 Millionen Dollar gezahlt.
Vergleicht man den Vertrag mit den Running-Back-Deals der letzten Jahre von Elliott, Bell, Gurley und Johnson, ist Tennessee im Vergleich gut weggekommen, hat sich eine schnelle Option zum Ausstieg gelassen und zahlt Henry über die nächsten beiden Jahre letztlich nicht bedeutend mehr als man ihm ohnehin bezahlt hätte, wenn man Henry halten will.
Das wollten die Titans offensichtlich, und die sehr späte Einigung mit diesen finanziellen Details legt nahe, dass Henry letztlich eingelenkt hat. In Zeiten, in denen nicht einmal sicher ist, ob im Herbst eine Saison stattfindet, sind 25,5 Millionen Dollar garantiert über die nächsten zwei Jahre womöglich auch für ihn reizvoller als die Aussicht auf die Free Agency im Frühjahr 2021.
Der Worst Case ist verkraftbar
Der Deal ist somit für Tennessee zwar kein Schnäppchen, aber doch zumindest finanziell und vom zeitlichen Umfang her in einem Rahmen, der die Titans Cap-technisch nicht vor ernsthafte Probleme stellt. Es wird hier keinen Trade geben, um Henrys Vertrag loszuwerden und auch keine Entlassung mit riesigen Dead-Cap-Summen in den eigenen Büchern. Der Worst Case aus finanzieller Sicht wäre die bereits angesprochene Entlassung nach zwei Jahren.
Die Umsetzung ist somit letztlich mit Netz und doppeltem Boden, doch ändert das nichts daran, dass der grundlegende Prozess der Titans hinterfragt werden sollte. Sich aus - mutmaßlich - finanziellen Gründen von Defensive Tackle Jurrell Casey zum Spottpreis per Trade zu trennen, Jack Conklin in der Free Agency gehen zu lassen um ultimativ den Running Back zu priorisieren ist dann doch wieder ein aus Cap-Management-Sicht sehr zweifelhaftes Vorgehen.
Derrick Henry ist ein exzellenter Contact-Runner, der als Receiver nahezu keine Rolle spielt. Generell spielt er schon fast kein Third Down, 2019 stand er für 24 von 187 Third Downs auf dem Feld. Denn auch Tennessee wirft in über 75 Prozent der Fälle, wenn bei Third Down noch zwei bis fünf Yards zum neuen First Down fehlen. Und dann ist Henry kein Teil der Gleichung.
Auch lässt sich klar festmachen, wo der Umbruch in der Titans-Offense im Vorjahr kam: Das war, als Ryan Tannehill übernahm und sich zusätzlich dazu die Offensive Line stabilisierte. Auch seine Yards pro Run (Woche 1-6: 3,6 - Woche 7 bis zum Playoff-Aus: 5,7) und Yards pro Run nach Kontakt (2,8 auf 4,5) gingen dramatisch nach oben, nachdem Tannehill in Woche 7 den Starting-Quarterback-Job von Marcus Mariota übernommen hatte.
Henry, bei all seinen unbestreitbaren Qualitäten als Runner, war ein Nutznießer der verbesserten Umstände. Mit seinen Qualitäten holt er aus guten Umständen dann bisweilen noch mehr raus - die Frage muss dennoch gestellt werden, ob Tennessee, das mit dem Versuch, den Erfolg der Vorjahres-Offense zu wiederholen ohnehin schon riskant unterwegs ist, nicht besser beraten gewesen wäre, diese Umstände zu priorisieren.
Wie etwa mit Conklin, wie womöglich mit einem neuen Receiver im Draft um Tannehill dabei zu helfen, ansatzweise das Vorjahres-Level wiederholen zu können. Oder wie womöglich mit mehr Verstärkungen für die eigene Defense, um dafür zu sorgen, dass man möglichst selten Rückstände aufholen muss.
Und selbst der Playoff-Mythos lässt sich zumindest rational einordnen. In einer ausführlichen Playoff-Analyse hatte Pro Football Focus die wertvollsten Plays der Titans-Offense gemessen an Expected Points Added (genaue Erklärung hier) in den beiden Playoff-Siegen ausgewertet. Von den zwölf wertvollsten Plays kamen nach dieser Metrik drei bei Runs von Henry, der Rest waren Pässe und insbesondere im Spiel gegen die Patriots profitierte er maßgeblich davon, dass er gegen viel mehr leichte Boxes arbeiten konnte, weil sich New England auf das Passspiel fokussierte.
Ein blaues Auge für beide Seiten
Henry hat zwar nicht den nächsten Mega-Vertrag abgeräumt, geht aber doch mit deutlich mehr Sicherheit in eine ganz besonders unsichere NFL-Saison, statt um ein Haar auf einem Einjahresvertrag in die zweifellos Corona-geprägte Saison zu gehen.
Die Titans derweil haben einen ihrer Leader für deutlich weniger Geld gehalten, als man vor einem halben Jahr noch vermutet hätte und garantiert dafür zwei Jahre und ein noch immer stolzes Jahresgehalt.
Es ist kein Homerun, es ist kein Steal, es ist kein Desaster. Es ist ein Kompromiss, ein blaues Auge für beide Seiten, mit dem beide aber auch vernünftig weitermachen können.