NBA

Das Schweizer Taschenmesser

Von Timo Böckenhüser
Justise Winslow (r., im Duell mit Dennis Schröder) gilt schon jetzt als exzellenter Verteidiger
© getty

Auch wenn es seine Stats noch nicht aussagen: Miami hat beim Draft das große Los gezogen, denn Justise Winslow ist eine echte Allzweckwaffe - und eines der größen Talente des aktuellen Jahrgangs!

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Ja, ist denn schon Weihnachten?", denken sich Pat Riley und die Heat-Führungsetage beim Draft am 25. Juni 2015. Denn als die Hornets als neuntes Team Frank Kaminsky wählen, können die Macher der Florida-Truppe ihr Glück kaum fassen. Justise Winslow ist noch zu haben. Damit haben Riley und Co. so gar nicht gerechnet. Denn sie haben den 19-jährigen Swingman der Duke University so hoch auf ihrem Draft Board, dass sie ihn im Vorfeld gar nicht zum Workout einluden, obwohl sie einen vielseitigen Winnertypen suchen und Winslow damit genau ihrem Beuteschema bei der alljährlichen Talentwahl entspricht.

Die Konkurrenz sieht es ähnlich. Justise, der erst ab dem 26. März 2017 in den USA legal Bier bestellen darf, wird bei der traditionellen Saisonstart-Umfrage unter allen 30 Managern mit 31,0 Prozent der Stimmen zum "Steal des 2015er Drafts" gewählt. "Das ist wirklich ein großer, positiver Tag für -unsere Franchise und die Fans, denn -Justise ist ein sehr vielseitiger, athletischer, dynamischer Spieler. Wir sind sehr froh, ihn bekommen zu haben", jubelte Pat Riley im Anschluss überschwänglich. "Es ist ein Segen für uns, dass er so weit abgerutscht ist. Natürlich träumt man davon, einen seiner absoluten Lieblingsspieler zu bekommen. Doch um ehrlich zu sein, hat niemand von uns damit gerechnet, dass er an zehnter Stelle noch zu haben sein würde!"

Und die Freude beruht auf Gegenseitigkeit, denn Winslow ist ebenfalls begeistert, nicht bei -einer Franchise im Rebuild, wie den -Lakers, Magic, Kings, Nuggets oder Pistons, sondern den Heat gelandet zu sein. Denn im Gegensatz zu den anderen Teams peilt Miami, das nur aufgrund der massiven Verletzungsmisere (Chris Bosh verpasste 38 Spiele, Dwyane Wade 20, Luol Deng 10) auf der Zielgeraden auf Platz 10 ab- und damit noch gerade in die Draft Lottery -hineingerutscht war, die unmittelbare Rückkehr in die Erfolgsspur an.

Ein Winner für Winner

"Ich freue mich riesig, dass es die Heat geworden sind. Sie sind ein Winner-Team, das nach einem schweren Jahr direkt wieder Erfolg haben will. Denn ich habe mein Leben lang immer in guten Teams gespielt. Teil eines NBA-Clubs zu sein, der sich Erfolg auf die Fahne geschrieben hat und täglich dafür arbeitet, Titel zu gewinnen, ist fantastisch", sagt der Youngster. "Und das Sahnehäubchen ist, dass ich Top-Spieler wie Chris Bosh und Dwyane Wade im Team habe. So kann ich jeden Tag von zwei der besten Baller der Welt lernen."

Sein NBA-Einstand verläuft verheißungsvoll. Beim Auftakt gegen die Hornets spielt er in seinem ersten Angriff direkt -einen schönen Assist, kurz darauf versenkt er -einen offenen Dreier, den er keine 30 Sekunden später mit einem Dunk über Al Jefferson garniert. Am Ende stehen nach 26 Minuten beim 104:94-Sieg jene fünf Zähler (wobei er auch keinen weiteren Wurf nimmt), sieben Rebounds und zwei Assists zu Buche. -Typische Winslow-Stats, kann man inzwischen sagen. Denn der 19--jährige Allrounder ist kein Big-Time-Scorer - muss und soll er bei den Heat aber auch gar nicht sein -
und liefert in der ersten Saisonhälfte pro Partie nur 5,3 Punkte, 4,6 Rebounds und 1,3 Assists ab. Justise ist (noch) eher der Typ fleißige Arbeitsbiene mit besonderen Defensivaufgaben. So ist er etwa im dritten Spiel ein großer Grund dafür, dass Rockets-Guard James Harden beim 89:109 gegen Miami nur zwei seiner 15 Würfe versenkt.

Malochende Allzweckwaffe

Heat-Coach Erik Spoelstra schickt ihn als Sechsten Mann der Heat im Schnitt 26,6 Minuten pro Partie aufs Parkett, Winslow dankt das Vertrauen mit harter, ehrlicher Verteidigungsarbeit und Rebounds, gepaart mit ein paar Fastbreak-Punkten. "Justise ist unser Schweizer Taschenmesser, eine echte Allzweckwaffe, die viele kleine Dinge erledigt, die nicht im Boxscore auftauchen", lobt Coach Spoelstra, der einen überraschenden Plan für den Rookie hat, bei dem vor dem Draft intensiv diskutiert wurde, ob er in der NBA als Shooting Guard oder als Small Forward den größten Erfolg haben werde. "Er schuftet viel, schiebt unentwegt mit uns Extraschichten. Noch habe ich ihn nicht viel auf der Vier spielen lassen, aber das ist eine Option, denn er kann mit seinem Körper auch Power Forwards verteidigen." Für den Erfolgscoach stellt sich also momentan gar nicht die Frage, ob Zwei oder Drei, sondern eher Drei oder Vier.

Möglich macht das neben seiner starken Physis auch seine Einstellung und seine ungewöhnliche -Reife. Winslow ist ein ruhiger, gewissenhafter Student des Spiels. "Er ist der älteste 19-Jährige, den ich je getroffen habe", bestätigt Chris Bosh. "Er ist sehr reif, sieht mindestens so alt aus wie ich, wenn nicht gar noch älter! Und er hat diesen besonderen jugendlichen Elan und Eifer, sich täglich zu verbessern, zudem ein ungewöhn-liches Gespür dafür, was er auf dem Court zu tun hat. Justise ist einfach ein unglaublicher 19-Jähriger und ein riesiges Basketball-Talent!"

Und zwar eines, das im ersten Profijahr noch nicht mal annähernd sein Potenzial ausschöpft. Auch weil der Distanzwurf des Lefty nicht hochprozentig fällt (24,0 % 3er). Dass in Winslow aber auch gute Offensivskills schlummern, hat er in seiner einzigen Saison an der Duke University gezeigt. Mit 14,3 Punkten und 9,3 Rebounds bei 57,1 Prozent Dreierquote im NCAA-Tournament hatte er maßgeblichen Anteil am Titel der Blue Devils. Über das Jahr gesehen, traf der 2,01 Meter -große Allrounder gute 41,8 Prozent -seiner "Three-Balls".

Das Talent wurde ihm übrigens in die Wiege gelegt. Sein Dad -Rickie hat von 1983 bis 1987 an der Uni von Houston gespielt - in jenem legendären Cougars-Team mit Hakeem Olajuwon und Clyde Drexler, besser bekannt unter dem Namen "Phi Slamma Jamma". Miami hat -also nicht irgendeinen Steal, sondern einen mit prominentem Namen und besten Bball-Genen gelandet.

SCOUTING REPORT

Stärken: Kräftiger, drahtiger Dreier. Verfügt für sein Alter schon über einen exzellenten Körper. Lange Arme (Spannweite: 2,09 Meter). Starker -Verteidiger, der sich nicht herumschubsen lässt. Guter Athlet. Wissbegieriger Arbeiter.

Schwächen: Hat trotz guter Wurftechnik in der NBA aus dem Dreier--Territorium noch nicht seinen Touch gefunden (24,0 %). Freiwurfquote (61,0 %) ist ebenfalls ausbaufähig. Kann offensiv aggressiver und öfter attackieren.

Prognose: Wird sich aufgrund seiner starken Defense erst mal als "Three-and-D"-Player etablieren, hat aber das Potenzial zu viel mehr. Winslow bringt alles mit, um ein überdurchschnittlicher NBA-Dreier zu werden.

Der Artikel erscheint in der BASKET 03/16

Justise Winslow im Steckbrief

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