In tiefer Trauer richtete Remco Evenepoel den Blick nach oben und zeigte vor dem Zielstrich mit beiden Zeigefingern gen Himmel. Jubeln konnte der Radsport-Weltmeister über seinen Etappensieg bei der Tour de Suisse nicht. Zu schwer belastete ihn der Unfalltod seines Schweizer Kollegen Gino Mäder.
"Meiner Meinung nach war dies der beste Weg, um Gino und seine Person zu ehren, ihm Tribut zu zollen und meinen Respekt gegenüber seiner Familie in diesen schwierigen Momenten zum Ausdruck zu bringen", sagte Evenepoel nach der siebten Etappe am Samstag: "Dieser Sieg und diese Trophäe sind für sie. Es ändert nichts, aber ich möchte, dass sie wissen, dass wir alle im Peloton, in unserer kleinen Welt, an sie denken."
Seit Freitag ist in dieser Welt nichts mehr wie es war. Der Radsport ist in eine kollektive Schockstarre verfallen, nachdem der 26-jährige Mäder den Folgen seines Sturzes auf der fünften Etappe erlegen war. Fahrer lagen sich weinend in den Armen. Drei Teams, darunter Mäders Equipe Bahrain Victorious, zogen sich vom Rennen zurück. Man sei, so hieß es, "am Boden zerstört".
In der Tragödie beschwört der Radsport Einheit und Zusammenhalt. Sport und Rivalitäten rücken in den Hintergrund. Die vorletzte Etappe wurde mit einer Schweigeminute eingeläutet, eine weiße Taube stieg in den Himmel auf, die Zeit für die Gesamtwertung wurde bereits 25 Kilometer vor dem Ziel genommen.
Zeiten und Ergebnisse spielten auch am Sonntag nur eine Nebenrolle. Die Gedanken an Mäder waren allgegenwärtig, als das abschließende 25,7 km lange Einzelzeitfahren von St. Gallen nach Abtwil nur wenige Kilometer entfernt von seinem Geburtsort Flawil stattfand.
Ausgerechnet entlang der Straßen, die Mäder bestens kannte, waren die Fahrer im Kampf gegen die Uhr mit ihren Gedanken allein. Noch einmal hieß es Abschied nehmen von einem guten Kletterer und Allrounder auf dem Rad, von einem intelligenten jungen Mann mit Herz und Courage, der sich vor allem für klimapolitische Themen interessierte und für Nachhaltigkeit einsetzte. Der Verlust wiegt schwer.
Der Sieg bei der 86. Ausgabe der Schweiz-Rundfahrt ging derweil an den Dänen Mattias Skjelmose (Trek-Segafredo), der seine Führung in der Gesamtwertung beim Kampf gegen die Uhr verteidigte. Wirklich freuen konnte sich Skjelmose aber verständlicherweise nicht.
Mäder war am Donnerstag in einer Abfahrt in Richtung Ziel von der Straße abgekommen und in eine Schlucht gestürzt. Die Debatte, wie die Rennen sicherer gemacht werden können, dürfte vor der anstehenden Tour de France erneut Fahrt aufnehmen.
Ein Restgefahr, das ist unstrittig, wird immer bleiben. "Generell ist uns allen bewusst, was wir für ein Risiko eingehen auf den Straßen. Wir haben eben keine Fangzäune oder Kiesbetten wie in der Formel 1", hatte Rolf Aldag, Sportlicher Leiter beim deutschen Profiteam Bora-hansgrohe, vor der Todesnachricht gesagt.
Die Tour de Suisse sollte als wichtiges Vorbereitungsrennen auf die Frankreich-Rundfahrt dienen. Sie endete als Gedenkfahrt für Gino Mäder, in einem Unglück, das niemand vorsehen konnte.
Was passieren müsse, damit er nach dem Finale am Sonntag sagen könne, er sei glücklich, wurde Mäder nach dem Auftaktzeitfahren am vergangenen Wochenende gefragt. "Wenn ich gesund bleibe und mein Heimrennen genossen habe", sagte er.