Das Phantom mit dem Porsche

Sven Ottke trat als ungeschlagener Weltmeister zurück
© getty

Am 3. Juni feiert Sven Ottke seinen 50. Geburtstag. Der gebürtige Berliner hat im Ring eine Karriere hingelegt, die ihm als Amateur nur die wenigsten Experten zugetraut hätten. Als einziger Boxer aus Deutschland konnte das Phantom, das unter Trainer-Legende Ulli Wegner in 34 Kämpfen ungeschlagen blieb, seine Laufbahn als amtierender Doppel-Champion beenden. Statt Fäusten schwang er Schläger. Dass alte Liebe nicht rostet, zeigt Ottke aber auch Jahre später.

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Es sind hohe Wellen, die Sven Ottke 1997 ins Gesicht schlagen. Nach langem Hadern hat sich der junge Boxer aus Berlin zu einem Wechsel zu den Profis entschieden. All die ausufernden Gespräche mit Trainer Ulli Wegner, der Ottke bereits als Amateur unter seinen Fittichen hatte, haben ihre Wirkung gezeigt. Der Vertragsabschluss mit dem Stall von Wilfried Sauerland ist Formsache.

Dass Ottke im Geschäft der Großen an seine Leistungen aus den Jahren zuvor anknüpfen kann, daran hat Wegner keinen Zweifel. Die Boxwelt allerdings schon.

Als zu unspektakulär, kontrolliert und zurückhaltend für die breite Masse wird Ottke eingeordnet. In einer Welt, in der vor allem zu Beginn einer Karriere knallharte Knockouts den Weg nach oben ebnen und stets die Show mit dem Sport konkurriert, sei einfach kein Platz für den 30-Jährigen, so die weitläufige Meinung.

Die ersten Kämpfe scheinen diese Einschätzung zu untermauern. Ottke boxt zumeist über die volle Distanz, lediglich ein vorzeitiger Sieg steht nach zwölf Kämpfen zu Buche, lässt man die Disqualifikation des US-Amerikaners Allen Smith außen vor. Beirren lässt er sich davon aber nicht, sondern setzt mit Wegner alles auf eine Karte: Ein Duell, das alle Kritiker verstummen lassen soll.

Vorbei, bevor es überhaupt begonnen hat

Als der Sauerland-Stall im Sommer 1998 den Kampf zwischen Charles Brewer und Ottke bekanntgab, glaubten viele an einen Scherz. Nur 17 Monate nach dem Debüt sollte Ottke gegen The Hatchet bestehen? Wo der US-Amerikaner hinlangte, wuchs kein Gras mehr. Kaum ein Spitzname war passender.

Brewer trat als Weltmeister der IBF mit 32 Siegen in 37 Kämpfen den Weg nach Düsseldorf an. Der Ausgang schien klar: Ein einziger Treffer und die Karriere von Ottke wäre vorbei, bevor sie richtig begonnen hat. Geschlagen, ausgeknockt und ein gefundenes Fressen für alle Kritiker.

Selbst eine beeindruckende Amateurzeit hätte dem Außenseiter nicht helfen können. Die Bilanz von 286 Siegen in 335 Kämpfen sowie elf Titel als Deutscher Meister, erkämpft im Mittel- und Halbschwergewicht, und Medaillen bei Welt- sowie Europameisterschaften? Wertlos. Drei Teilnahmen bei den Olympischen Spielen in den Jahren 1988, 1992 und 1996? Nicht mehr als ein netter Eintrag im Lebenslauf des gelernten Stuckateurs.

Die Darbietung, die Ottke dann aber in der Landeshauptstadt Nordrhein-Westfalens ablieferte, änderte alles. Mit einer überragenden Beinarbeit, unvergleichbaren Meidbewegungen und flinken Händen, die überfallartige Attacken einleiteten, brachte der Deutsche seinen Gegner in einer über zwölf Runden andauernden Schlacht nicht nur zur Verzweiflung, sondern sicherte sich mit einer 2:1-Entscheidung der Punktrichter auch das Gold der IBF. Die Sensation war perfekt, aus Kritik wurde Anerkennung.

Auf dem Boden der Tatsachen

Die Wahrnehmung änderte sich, der Mensch jedoch nicht. Ottke trat während seiner Karriere stets als ehrlicher und sympathischer Kerl in Erscheinung, der für seine Überzeugungen einstand und auch bei kontroversen Themen nie ein Blatt vor den Mund nahm. "Ich bin weit davon entfernt zu denken: Mensch, Junge, jetzt bist du aber der Schärfste. Im Moment interessieren sich eine Menge Menschen für mich, aber ich weiß, dass das schnell wieder vorbei ist", zeigte er sich im Spiegel bodenständig. Als viele über die Kondom-Werbung auf seinem Rücken schmunzelten, quittierte Ottke dies mit einem Lächeln.

Er wusste über seine gesamte Laufbahn hinweg genau, was er dem Sport, mit dem ihn von Beginn an eine Hassliebe verband, zu verdanken hatte.

Absicherung war wichtiger als Statussymbole, wenngleich er als Amateur mit seinem "billig erworbenen" Porsche im Osten durchaus auffiel. Bei einem Amateur-Duell mit Henry Maske, das Ottke verlor, soll von Fans gar zu hören gewesen sein: "Henry, hau nicht zu dolle, dann lässt er dich mal mit dem Porsche fahren."

Ein Grund für Ottkes Art war seine Kindheit. In der Schule hatte er Probleme. Er war in Schlägereien verwickelt, flog aus dem Klassenzimmer oder blieb dem Unterreicht einfach fern. Ottke war hyperaktiv. "Zu meiner Zeit kannte man ADHS noch nicht. Ich war als Kind sehr unruhig und konnte nicht stillsitzen. Einige Lehrer ließen mich im Unterricht rumlaufen, andere schmissen mich raus. Ich habe viel Mist gebaut. Ich war ein extremes Problemkind", erinnerte er sich in der Zeit.

Sport als Medikament

Die Trainingseinheiten halfen ihm, seine Energie in die richtige Bahn zu lenken. "Mein damaliger Trainer musste mich dauernd bremsen. Ich konnte nie genug kriegen. Das Training hat mir einfach wahnsinnig viel Spaß gemacht. Jede Laufeinheit war ein Wettkampf unter uns Sportlern", erzählte Ottke, dessen Eltern sich getrennt hatten, als er zehn Jahre alt wurde und der bei seinen Großeltern aufwuchs.

Seine ersten Schritte machte er aber außerhalb des Rings. "Ich habe Fußball gespielt. Ich bin aber nie in die erste Mannschaft des Vereins gekommen. Außerdem habe ich mich in der Leichtathletik versucht. Zwar war ich nicht schlecht, aber eben auch nicht richtig gut", blickte er zurück.

Erst mit 14 Jahren fand er in der Folge den Weg in das Seilgeviert. Dort wurde aus einem Rohdiamanten, der sich als Trainingsfanatiker entpuppte, der wohl stilistisch beste Boxer seiner Gewichtsklasse seiner Zeit. Vor allem die Klarheit war entscheidend. "Boxen ist der fairste Sport überhaupt. Du hast einen Gegner und weißt von vornherein, was der von dir will: dich ausknocken", erklärte Ottke.

Von den Tempowechseln und der defensiven Klasse des siebenfachen Berliner Sportler des Jahres, der die Lücke im deutschen Boxsport, die nach dem Rücktritt von Maske im Jahr 1996 und dem Absturz von Axel Schulz mit Leichtigkeit entstanden war, ausfüllte, schwärmen Fans noch heute.

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Show? Kein Zirkusaffe

Dass der Name Ottke dennoch niemals mit dem ganz großen Spektakel verbunden wurde, störte ihn ebenso wenig wie all der Gegenwind Jahre zuvor. "Boxen heißt für mich zuallererst, nicht getroffen zu werden", definierte Ottke einst seine Herangehensweise. Auch außerhalb des Rings war er nie ein Freund von großem Trubel. Für seine Gegner entwickelten sich Kämpfe zum Albtraum, Ottke war kaum zu greifen. Alle drei Monate stand das Phantom im Ring und lieferte Boxen auf höchstem Niveau ab.

Auf den Abend in Düsseldorf folgten 21 weitere Kämpfe in 65 Monaten. Am Ende jedes Auftritts bot sich den Fans das gleiche Bild. Ottke lächelte, die Hände in die Höhe gerissen. Gegner wie Glen Johnson, Silvio Branco, Anthony Mundine und Rudy Markussen hatten das Nachsehen.

Der Mann, der in seiner Amateurzeit bereits spätere Weltmeister wie Dariusz Michalczewski, Michael Moorer, Chris Byrd oder Antonio Tarver bezwungen hatte, räumte alle Herausforderungen aus dem Weg, sicherte sich gegen Byron Mitchell im Jahr 2003 sogar zusätzlich den Gürtel der WBA und trat ein Jahr sowie vier Titelverteidigungen später ungeschlagen zurück.

Statt den Fäusten schwang er die Schläger. Bereits während dem zweiten Teil seiner Karriere war Ottke dem Golfsport verfallen. "Ich war gleich begeistert. Golfen ist genial. Denn man spielt eigentlich gegen sich selbst - gegen seine eigenen Fehler und Schwächen. Außerdem bist du immer an der frischen Luft und lernst viele Leute kennen. Nach 18 Löchern kannst du dann meist genau einschätzen, was für eine Art Typ dein Mitspieler ist", schilderte der damals 36-Jährige nach dem Ende seiner aktiven Laufbahn.

Alte Liebe rostet nicht

Gänzlich loslösen vom Boxsport kann und will sich Ottke aber dennoch nicht. Nach Auftritten als TV-Experte oder auf Veranstaltungen rund um seine alte Liebe versucht er sich inzwischen auch auf der anderen Seite der Seile. Er stand bei Nina Meinke und bei Serdar Sahin in der Ecke. Die Berlinerin, deren Patenonkel Ottke ist, kennt er von klein auf und will sie auf ihrem Weg an die Weltspitze begleiten. "Ich spüre immer, wie viel ich von meinem Trainer gelernt habe. Wegner ist immer dabei", erklärte Ottke.

Dass es ihn manchmal noch selbst in den Fäusten juckt, kann er dabei kaum verbergen. "Vielleicht hätte ich ein halbes Jahr Pause machen und danach weiterboxen sollen. Aber später ist man immer schlauer. Zum damaligen Zeitpunkt war meine Entscheidung richtig, ich war müde", sagte Ottke, der seit 2009 nach der Scheidung von seiner Ex-Frau mit Freundin eine Tochter hat, der Bild.

Trubel geht er aber auch Jahre später gerne aus dem Weg. Eine Feier etwa wird es zum 50. Geburtstag nicht geben. "Geburtstage sind mir völlig egal. Man ist so alt, wie man sich fühlt. Und ich fühle mich fantastisch", sagte Ottke. "Auch in diesem Jahr werde ich nichts Besonderes machen. Ich habe keinen Bock auf Halligalli und keine Lust, so eine Feier zu organisieren." Von hohen Wellen hat er genug.

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