Biathlon - Olympiasiegerin Laura Dahlmeier im Interview: "Ich dachte immer: Mei, ein Buch schreibt man, wenn man alt ist"

Laura Dahlmeier
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Mit zwei Olympiasiegen und 15 WM-Medaillen gehört Laura Dahlmeier zu den erfolgreichsten Biathletinnen der Geschichte. 2019 beendete die Garmischerin im Alter von gerade mal 25 Jahren überraschend ihre Karriere. Ruhiger oder gar langweiliger ist ihr Leben seitdem aber nicht geworden - im Gegenteil.

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Dieser Artikel wurde erstmals im Februar 2023 veröffentlicht.

Titeln jagt sie nicht mehr nach. Laura Dahlmeier studiert, macht eine Ausbildung zur Bergführerin und arbeitet als TV-Expertin. Ihre Liebe zum Bergsport hat sie zudem schon um den halben Globus geführt.

Im Interview mit SPOX spricht die mittlerweile 30-Jährige über ihr frisch erschienenes Buch "Wenn ich was mach, mach ich's gscheid - Über Herausforderungen, die Freiheit in den Bergen und warum es wichtig ist, sein Ding durchzuziehen" und gibt spannende Einblicke in ihr neues Leben nach der aktiven Karriere.

Außerdem analysiert sie das deutsche Abschneiden bei der Biathlon-WM in Oberhof, erklärt das Phänomen Johannes Thingnes Bö und verrät, warum die Kritik von Ole Einar Björndalen am deutschen Team in ihren Augen eine "Frechheit" war.

"Wenn ich was mach, mach ich's gscheid": Dahlmeiers Buch erschien am 21. Februar im riva-verlag.
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Biathlon, Dahlmeier: Björndalen-Aussage "eine Frechheit"

Frau Dahlmeier, Sie waren bei der Biathlon-WM in Oberhof als Expertin für das ZDF vor Ort. Lassen Sie uns mit dem größten Aufreger abseits der Strecke starten: Als Deutschland in der Single-Mixed-Staffel mit Sophia Schneider und Philipp Nawrath an den Start ging und am Ende auf Platz sechs landete, monierte Legende Ole Einar Björndalen im norwegischen Fernsehen, es habe sich um ein C-Team gehandelt. War die Kritik in Ihren Augen gerechtfertigt?

Laura Dahlmeier: Ich habe die Aussagen von Björndalen nicht direkt gehört, das wurde mir nur zugetragen. Ich würde aber ganz klar widersprechen, wenn er von einer deutschen C-Mannschaft spricht - eigentlich ist das für mich eine Frechheit.

Auf dem Papier war es aber nicht die Bestbesetzung, oder?

Dahlmeier: Wenn man nach den Ergebnissen vom Einzel geht, war Sophia besser als Denise, die noch dazu leichte Rückenprobleme hatte. Wenn du es nicht gewährleisten kannst, topfit an den Start zu gehen, ist es klüger, einer anderen Athletin den Vortritt zu lassen. Philipp Nawrath ist extrem stark gelaufen, er hat zudem viel Erfahrung. Was wären die Alternativen gewesen? Benni Doll hat sich während der kompletten WM recht schwer getan. Roman Rees hat schon sehr gute Rennen gezeigt, hatte in Oberhof aber auch nicht die allerbesten Rennen. Bei Johannes Kühn wissen wir auch um seine Schwierigkeiten am Schießstand. Es gibt verschiedene Besetzungsmöglichkeiten, aber für mich spricht überhaupt nichts dagegen, Philipp dort laufen zu lassen.

Wie fällt Ihr sportliches Fazit aus deutscher Sicht generell aus?

Dahlmeier: Sehr positiv, vor allen Dingen vom ersten Teil der Weltmeisterschaft. Gleich im ersten Rennen die Goldmedaille von Denise (Herrmann, Anm.d.R.), das war ein perfekter Start. Die Mädels haben überhaupt gut aufgetrumpft. Bei den Männern schaut es auf dem Papier nicht ganz so gut aus, aber es waren auch sehr gute Teilleistungen mit dabei, vor allem im Verfolgungsrennen. Es hat leider nicht ganz zur Medaille gereicht, das ist dann immer schade. Aber es war nicht so negativ, wie es im Medaillenspiegel am Ende ausgesehen hat.

Da stand bei den Männern die Null - zum ersten Mal seit 1969. Was machen die anderen besser - oder haben wir gerade einfach keine Athleten in der Weltklasse?

Dahlmeier: Ich glaube schon, dass Deutschland auch bei den Männern weltklasse ist, nur halt nicht mehr ganz vorne. Im Biathlon entscheidet teilweise ein Millimeter rechts oder links zwischen Treffern und Fehlern, da geht es richtig knapp zu. Mit Johannes Thingnes Bö läuft aktuell einer vorweg, der unschlagbar ist. Dahinter klafft eine Lücke, das hat sich mit Ausnahme des Massenstarts Tag für Tag so durchgezogen: Gold war gebucht, es ging nur um die Plätze dahinter. Die deutschen Jungs haben schon das Potenzial für eine Medaille, aber es muss eben das perfekte Rennen werden und alles passen. Das haben sie nicht ganz abrufen können.

Biathlon, WM in Oberhof: Der Medaillenspiegel

PlatzNationGoldSilberBronzeGesamt
1.Norwegen55313
2.Schweden33511
3.Frankreich2024
4.Deutschland1203
5.Italien1124
6.Österreich0101
Ihr größter Triumph: 2018 gewann Dahlmeier bei den Olympischen Spielen in Pyengchang zweimal Gold und einmal Bronze.
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Biathlon, Dahlmeier: "Freuen, wenn es jemand in die Top 6 schafft"

Es gab schon immer Überflieger wie Ole Einar Björndalen oder Martin Fourcade, aber bei Johannes Thingnes Bö ist es gefühlt nochmal eine neue Dimension. Was ist sein Geheimnis?

Dahlmeier: Da kommen viele positive Dinge zusammen. Er kann sensationell gut laufen, aus den Beinen hat er ein unheimliches Ski-Gefühl. Sicherlich hat er gute körperliche Voraussetzungen, sonst schaffst du es nicht, so dominant zu sein. Was mich an Bö allerdings besonders fasziniert, ist seine Stärke am Schießstand: Bei der Staffel hat er stehend 15,9 Sekunden gebraucht, bei schwierigen Bedingungen kann er aber auch innehalten, bewusst die Böe abwarten und dann schießen und treffen. Für mich ist er der komplette Athlet, der in jeder Teildisziplin perfekt ist und dann noch diese mentale Cleverness hat. Als bester Athlet konnte er auf dieser anspruchsvollen Strecke und bei sehr schwierigen Bedingungen seine läuferische Dominanz voll ausspielen.

Macht der deutsche Nachwuchs Hoffnung darauf, die Lücke in den nächsten Jahren schließen zu können oder müssen wir uns auf magere Jahre einstellen?

Dahlmeier: Bei den Frauen hat man schon in Oberhof gesehen, dass viele junge Athletinnen den Anschluss geschafft haben. Die Debütantinnen haben mit hervorragenden Ergebnissen aufhorchen lassen. Bei den Männern kommen gute nach, aber nicht diese absoluten Überflieger. Darum wird es auch in Zukunft so sein, dass wir uns freuen, wenn es jemand in die Top-6 schafft und bei der Flower Ceremony dabei ist. Man hofft natürlich immer auf das eine perfekte Rennen beim Saisonhöhepunkt. Dann können wir auch eine Medaille gewinnen.

Wie bekommen wir im Wintersport denn wieder mehr Talente? Oder im Sport allgemein? Diese Diskussion wird normalerweise nur alle paar Jahre geführt, wenn es bei Olympischen Spielen nicht so läuft.

Dahlmeier: Schön wäre es, wenn der Sport in der Gesellschaft allgemein wieder einen höheren Stellenwert hätte und auch die Kinder zum Sport hingeführt werden - gerade diese Jahre sind doch entscheidend. Wenn man nach Skandinavien schaut, vor allem nach Norwegen: Dort machen die Kinder schon im Kindergarten einen Ausflug zum Langlauf und sausen am Holmenkollen herum. Wenn ich da an meine Kind- und Jugendzeit zurückdenke: Der Schulsport ist immer ausgefallen, die Lehrer hatten Angst, Ausflüge zu machen, denn es könnte ja was passieren, Versicherung, blabla. Da ist man in meinen Augen zu vorsichtig und zu distanziert zum Sport allgemein. Ich werde immer wieder damit konfrontiert, dass ich als Leistungssportlerin ja auf so viel verzichten musste, das sei ja so schlimm. Ich finde es überhaupt nicht schlimm! Es war eine unfassbar geile Zeit, ich würde es genauso wieder machen. Natürlich war ich am Ende erfolgreich, aber allein, was ich bis 17, 18 gelernt habe, das ist unfassbar. Dabei sind Fähigkeiten und Freundschaften fürs Leben entstanden.

Dahlmeier arbeitet bei Biathlon-Übertragungen als Expertin für das ZDF.
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Biathlon, Dahlmeier: "Langweilig wird mir nicht"

Immerhin: Die Stimmung in Oberhof war trotz wechselhafter deutscher Ergebnisse hervorragend.

Dahlmeier: Es ist immer beeindruckend zu sehen, wie viele Menschen eigentlich Biathlon-begeistert sind. Wie sie ins Stadion strömen und dort ausharren, egal ob das Wetter mitspielt oder nicht. Am Anfang war es neblig, dann gab es ein paar Tage perfekte Bedingungen, mit Frühlingsgefühlen und ausgelassener Stimmung - das war wie in Oslo am Holmenkollen. Am Schluss-Sonntag bei den Massenstarts war es mit Wind und Regen natürlich zäh. Trotzdem war die Hütte voll, 23.500 Zuschauer haben von frühmorgens bis abends Gas gegeben und alle Athleten fair unterstützt. Besser geht es nicht.

Sie selbst hätten mit 29 Jahren in Oberhof problemlos selbst noch antreten können. Hat es Sie nicht in den Fingern gejuckt, nach dem Motto: "Mensch, eigentlich könnte ich noch mithalten!"

Dahlmeier: Nein, diese Gedanken hat es nicht gegeben. Das kann ich ganz nüchtern sagen. Es war eine sehr coole Atmosphäre, es hat mir unheimlich viel Spaß gemacht, dabei sein zu dürfen. Wenn man aber am Start stehen möchte, muss man das ganze Jahr über sehr diszipliniert trainieren, es lastet ein unheimlicher Druck auf den Schultern. Ganz ehrlich: Mir taugt die neue Rolle auch. Ich war als Expertin dabei, war selbst auf der Strecke und danach im DSV-Zelt und hatte Zeit, die Atmosphäre zu genießen und nicht als Athlet von A nach B zu hetzen. Ich hätte nicht tauschen wollen.

Sie sind 2019 zurückgetreten, weil Sie im Biathlon alles erreicht hatten. Wären Sie heute vielleicht noch dabei, wenn es die Olympiasiege 2018 in Pyeongchang nicht gegeben hätte?

Dahlmeier: Hätte, hätte, Fahrradkette. (lacht) Das ist schwer zu sagen. Der Olympiasieg war mein großer Traum. Wenn ich ganz knapp gescheitert wäre, kann es durchaus sein, dass mich das motiviert hätte, noch weiterzumachen. Es ist aber bei mir auch oft eine spontane Entscheidung. Als ich von Pyeongchang nach Hause geflogen bin, war für mich recht schnell klar: Die Olympischen Spiele, das war jetzt perfekt - aber ich brauche sie nicht unbedingt nochmal.

Hat Ihnen der Job als TV-Expertin neue Perspektiven auf den Biathlon-Sport ermöglicht?

Dahlmeier: Es steckt viel mehr dahinter als man denkt, um solche Veranstaltungen überhaupt organisieren zu können. Wenn ich höre, dass eintausend freiwillige Helfer am Start waren, oder das ZDF in der ersten Woche mit 240 Personen und 43 Kameras vor Ort war - das ist schon gigantisch. Das bekommt man als Athlet gar nicht mit. Es ist schön, diese andere Seite jetzt auch aktiv mitzuerleben.

Sie sind auch jenseits der TV-Kameras nicht weniger beschäftigt als in Ihrer aktiven Karriere. Wie sieht der Alltag im Leben der Laura Dahlmeier aus? Gibt es den überhaupt?

Dahlmeier: Nein, den gibt es wirklich nicht. Ich habe viele verschiedene Projekte, die mich allesamt faszinieren. Mein Sportwissenschafts-Studium steht kurz vor dem Abschluss, meine Bergführer-Ausbildung ist auch in den letzten Zügen. Dazu natürlich das Buch. So ist es dann auch schön, wenn ich wieder mehr Luft zum Durchatmen habe. Langweilig wird mir nicht.

Wintersport, Biathlon, Laura Dahlmeier
© Daniel Hug

Laura Dahlmeier: Erfolge ihrer Karriere

Dauer der Karriere2013 - 2019
Olympia-Medaillen3 (Gold im Sprint und der Verfolgung 2018, Bronzel im Einzel 2018)
WM-Medaillen15 (7x Gold, 3x Silber, 5x Bronze)
Weltcupsiege33 (20 im Einzel)
Podestplatzierungen78 (57 im Einzel)
Sieg im Gesamtweltcup1 (2016/17)
Laura Dahlmeier beim Mountaineering.
© adidas Terrex

Biathlon, Dahlmeier: "Ein Buch schreibt man irgendwann, wenn man alt ist"

Dann lassen Sie uns über ihr Buch sprechen. Wann kam Ihnen zum ersten Mal der Gedanke, es zu schreiben - oder kam der Impuls von außen?

Dahlmeier: Definitiv von außen. Ich habe immer gedacht: "Mei, ein Buch schreibt man irgendwann, wenn man alt ist. So alt fühle ich mich aber aktuell noch nicht. Das kann ich immer noch irgendwann später machen." Dann kam der Verlag mit der Idee auf mich zu, ein Buch in unabhängigen, themenbezogenen Kapiteln zu schreiben, nicht rein autobiographisch. Wir haben uns zusammengesetzt und herumgesponnen - und irgendwann dachte ich: Warum nicht? Das kann richtig gut werden!

Welchem Genre würden Sie das Buch zuordnen? Wie Sie schon sagten: Eine klassische Autobiographie ist es nicht.

Dahlmeier: Es ist schwierig, das Buch zu kategorisieren, weil es schwierig ist, mich als Person in eine Schublade zu stecken. Es macht mir Spaß, mit verschiedenen Bällen zu jonglieren. Insofern ist es ein wilder Mix. (lacht) Die Intention war, einen Einblick in mein Leben zu geben: Wie sieht es jetzt aus? Was ist mir wichtig, was hat mich beschäftigt und beschäftigt mich heute? Daran wollte ich die Menschen teilhaben lassen. Ich reise unheimlich gerne, es ist also auch ein bisschen ein Reiseführer, wenn ich von meinen Touren erzähle. Sie noch einmal zu durchleben, hat mir im Schreibprozess am meisten Spaß gemacht.

Ihre Biathlon-Karriere ist dagegen nur ein Randthema. War das eine bewusste Entscheidung?

Dahlmeier: Ja, unbedingt. Ich habe im Laufe meiner Karriere viele Interviews gegeben, zum Biathlon ist eigentlich schon alles gesagt. Es gibt da kein Kapitel mehr, bei dem ich sage: Das muss ich jetzt auch noch ausplaudern. Ich wollte auch nicht anfangen, alte Geschichten aufzuwärmen oder am Schluss noch gegen irgendjemanden zu wettern ... Das bringt nichts. Man muss die Leute irgendwo abholen, natürlich kennt man mich aus dem Biathlon. Ich habe dort eine tolle Zeit erleben müssen, der Sport wird in meinem Herzen immer weiterschlagen. Ich wollte aber kein klassisches "Biathlon-Buch" schreiben, sondern zeigen, wer ich jetzt bin. Da ist Biathlon immer noch ein kleiner Teil, aber sicherlich nicht mehr der große.

Diesen großen Teil nehmen jetzt die Berge ein. Gibt es Parallelen zwischen dem Bergsport und dem Biathlon?

Dahlmeier: Beim Schreiben ist dieser Vergleich immer wieder aufgekommen: die Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede. Es kommt immer ein bisschen auf den Blickwinkel an und darauf, wie man den Bergsport betreibt: Gehe ich nur zum Wandern in die Natur? Steckt ein größerer sportlicher Ehrgeiz dahinter? Bei mir persönlich gehört die Herausforderung immer mit dazu, aber der Genussfaktor ist deutlich höher als beim Biathlon. Die Fähigkeiten aus dem Leistungssport kann ich dabei nutzen. Umgekehrt habe ich durch den Bergsport viel für meine Biathlon-Karriere lernen dürfen, gerade was die Fokussierung betrifft. Jedoch auch die Erdung: Die Berge sind für mich immer Kraftquelle und Rückzugsort gewesen. Das ist bis heute so: Jetzt war ich drei Wochen am Stück unterwegs und freue mich wahnsinnig darauf, heimzukommen und morgen früh als Erstes eine Skitour in die Berge zu machen.

Haben die Berge für Sie auch eine spirituelle Dimension?

Dahlmeier: Ja, das würde ich schon sagen. Ich fühle mich dort sehr stark mit der Natur verbunden. Ein solches Erlebnis ist für mich auch spiritueller Natur.

Ein Biwak beim Aufstieg zum Mont Blanc.
© adidas Terrex

Biathlon, Dahlmeier: "Am Berg ist es okay, auch mal Angst zu haben"

Sie berichten an einer Stelle von einem ziemlich üblen Kletterunfall. In Ihrer Clique gab es zudem schon mehrere Todesfälle. Wie ist Ihr Verhältnis zur Gefahr?

Dahlmeier: Die Gefahr ist da, ganz klar. Ich glaube aber, dass wir in unserem Alltag immer und überall Gefahren ausgesetzt sind. Wenn ich jetzt im Auto heimfahre, setze ich mich auch einer gewissen Gefahr aus. Die nötige Portion Respekt am Berg gehört dazu, eine gewisse Anspannung. Und es ist okay, auch mal Angst zu haben. Wichtig ist es, nicht in Panik zu geraten, denn dann werde ich handlungsunfähig und komme aus der Situation nicht mehr heraus. Bergsport ist aber auch sehr vielfältig: Ich kann mein Risikolevel bewusst auswählen. Beim Sportklettern ist das Risiko äußerst gering, da kann ich mich getrost ins Seil stürzen. Wenn ich andererseits eine wilde Abenteuertour an der Laliderer Nordwand mache, weiß ich, dass ich ein sehr hohes Risiko eingehe. Man muss sich immer hinterfragen: Möchte ich das wirklich? Bin ich bereit? Denn wenn ich das nicht bin, darf ich die Tour nicht machen oder muss sie abbrechen.

Im Buch beschreiben Sie Trips in den Iran, in den Kaukasus oder nach Peru. Da geht es um Kontaktmänner, um Angst vor Wölfen und sogar einen Zusammenstoß mit russischen Soldaten. Sind Sie ein mutiger Mensch?

Dahlmeier: Ich weiß nicht, ob ich mich als mutig bezeichnen würde. Eher "unerschrocken". Mir wird recht schnell langweilig, das geht mir schon beim Joggen so, wenn es immer die gleiche Runde ist. Vielleicht ist das auch der Grund, warum mich Biathlon nicht mehr so gereizt hat: Das ist sehr planbar und dann irgendwo immer ein bisschen das Gleiche. (lacht) Ich bin immer auf der Suche nach etwas Neuem und einem gewissen Abenteuer. Unterwegs zu sein, nicht genau zu wissen, wie der Tag verlaufen wird und darauf zu reagieren, dabei lerne ich auch viel über mich selbst.

Sie haben im Yosemite-Nationalpark den berüchtigten El Capitan bestiegen. War das ein noch größerer Triumph als der Olympiasieg?

Dahlmeier: Im Biathlon habe ich ein Ziel über Jahre hinweg verfolgt. Der Kindertraum aus dem Stockbett ist irgendwann Realität geworden. Dieser Erfolg, dieser intensive Moment wird mir ein Leben lang bleiben. Das Rennen an sich dauert ja aber nur 20 bis 45 Minuten. Beim El Capitan habe ich mich monatelang mit der Tour und den Gegebenheiten beschäftigt. Die Besteigung dauert dann drei Tage, du schläfst sogar in der Wand. Diese drei Tage waren unglaublich intensiv. Als wir uns oben in die Arme gefallen sind, war das auch höchst emotional, aber man kann das nicht mit dem Olympiasieg vergleichen.

Weshalb?

Dahlmeier: Wenn du beim Sport dein Ziel erreicht hast, bist du selten allein: Das Publikum, die Kameras, du stehst auf dem Podium, anschließend die Interviews. Es ist von außen vielleicht auch ein bisschen gepusht. Wenn du am Berg oben ankommst, ist es meistens total ruhig, maximal dein Kletterpartner ist an deiner Seite. Dann kommt der Moment des Innehaltens. Es ist ein anderes Erfolgsgefühl, ich bin da viel mehr in mich gekehrt.

Dahlmeier beim Aufstieg zum Mont Blanc 2021.
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Biathlon, Dahlmeier: "Bei 20 Grad plus brauchen wir nicht mit Kunstschnee anfangen"

Es gibt im Buch eine Passage, in der Sie sich mit dem Thema "Ziele" beschäftigen. Welche Ziele haben Sie noch? Einmal rauf auf den Mount Everest?

Dahlmeier: Ich habe auf der einen Seite konkrete Ziele wie mein Sportstudium und die Ausbildung zum Bergführer. Andererseits habe ich mir immer wieder ein paar Ziele notiert, die mich reizen: Wo will ich noch hin? Was will ich noch sehen? Ich habe das aber nicht immer präsent. Ich habe auch schon nach zwei Jahren besagten College-Block aufgeschlagen und festgestellt: Cool, drei oder vier dieser Touren habe ich schon machen dürfen. Der Mount Everest steht aber nicht drin, da kann ich sie beruhigen. (lacht)

Der Klimawandel macht auch vor dem Wintersport nicht Halt. Haben Sie Angst, dass es Ihren Sport in 20 Jahren so nicht mehr geben wird?

Dahlmeier: (überlegt) Das ist ein großes Thema. Ich bin so realistisch, dass ich weiß: Es wird sich verändern. In 20 Jahren wird es anders sein als 2013 zu Beginn meiner Karriere. Ich hoffe, dass wir uns als Menschheit gute Lösungen einfallen lassen, um den Klimawandel zu stoppen oder die Auswirkungen möglichst gering zu halten. Ein Winter wie der aktuelle ist für mich als Schnee-Liebhaberin und Wintersportlerin schon sehr schwer zu akzeptieren, wenn es wochenlang nicht schneit und man bei zehn Grad mit dem T-Shirt in der Sonne liegen kann. Ich hoffe, wir ziehen alle am gleichen Strang, um die Klimaziele zu erreichen und die Faszination Wintersport zu erhalten. Ganz sicher bin ich mir da aber nicht.

Was kann der Biathlon-Sport besser machen, was den Klimaschutz angeht?

Dahlmeier: Im Vergleich zu anderen Weltverbänden steht die IBU gar nicht so schlecht da und nimmt sogar eine aktive Vorreiterrolle ein: bis 2030 klimaneutral, bis 2040 Net Zero. Das sind ambitionierte Ziele. Der größte Part ist aktuell die Reiserei zu den Weltcups mit dem Auto oder Flugzeug. Was das Energiethema betrifft - Beheizung der Stadien, Schneeproduktion - ist das gar nicht so schlimm, wie man immer meint. Aktuell ist es schon so, dass auch in den Skigebieten bereits zu 70 Prozent auf erneuerbare Energien gesetzt wird, Tendenz steigend. Nachhaltigkeit betrifft aber auch die Frage, wie Wettkampfstrecken von anderen Disziplinen genutzt werden können. Wie können wir da clevere Konzepte schaffen? Da haben wir definitiv noch Potenzial.

Sonst bleibt irgendwann nur noch Sommerbiathlon auf Skirollern ...

Dahlmeier: Das ist natürlich ein wichtiges Trainingsmittel, auch ich habe darauf unzählige Kilometer abgespult. Es ist dem Langlauf von der muskulären Beanspruchung sehr ähnlich, es ist Laufen und Schießen, es funktioniert auch. Es ist aber nicht das Biathlon mit der Faszination Winter, wie ich es kenne und liebe. Wenn es irgendwann keinen Schnee mehr geben sollte und wir auf den Sommer ausweichen müssen, ist das eine Möglichkeit. Ich hoffe, dass Biathlon noch sehr lange mit Schnee stattfinden kann. Jedoch nicht um jeden Preis. Bei 20 Grad plus brauchen wir nicht anfangen, Kunstschnee zu produzieren.

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