Kein Mbappé, schwere Verletzungen und Schwachstellen im Kader: Wie Real Madrid trotzdem ein perfekter Start in die Saison gelang

Von Thomas Hindle / Patrik Eisenacher
Real Madrid
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Ins Derby mit Atlético Madrid geht Real Madrid (21 Uhr im LIVETICKER) mit sechs Siegen aus sechs Spielen. Die Gründe für den guten Start der Königlichen sind vielfältig.

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Vor der Saison von Real Madrid herrschte große Unsicherheit. Los Blancos, obwohl im Mittelfeld gut besetzt und auf beiden Flügeln mit Talenten gespickt, haben bis heute einige klar erkennbare Lücken in ihrem Kader. Die Niederlage im Clásico (0:3) in der Vorbereitung und die schwere Verletzung von Weltklasse-Keeper Thibaut Courtois noch vor Saisonbeginn machten die Lage noch prekärer.

Während der offensichtlichste Herausforderer um den LaLiga-Titel, der FC Barcelona, sich im Sommer weiter verstärkte, schien Madrid zu stagnieren. Doch die Saison ist, zumindest zu Beginn, erfolgreicher verlaufen als von vielen vorhergesagt. Die Madrilenen haben bisher jedes Spiel gewonnen, dreimal einen 0:1-Rückstand wettgemacht und zwei Siege in der Nachspielzeit errungen. Ob mit Glück oder Mentalität, diese Mannschaft ist vor dem Derbi madrileño am Sonntag (21 Uhr) bei Atlético Madrid im Estadio Metropolitano weitaus besser, als sie sein sollte.

Wie haben die Königlichen das geschafft? Sicherlich hat vor allem Jude Bellingham seinen Teil dazu beigetragen. Aber wie hat es die Mannschaft ohne Karim Benzema und ohne ihren besten Flügelspieler Vinícius Jr., Innenverteidiger Éder Militão und Keeper Courtois hinbekommen, nach fünf Spielen an der Tabellenspitze zu stehen?

Jude Bellingham
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Real Madrid: Bellingham, Bellingham und nochmal Bellingham

Wo stünde Real in dieser Saison ohne Jude Bellingham, der für 103 Millionen Euro vom BVB kam? Die Statistiken sprechen eine deutliche Sprache. Seit seiner Ankunft hat er in sechs Spielen in LaLiga und der Champions League insgesamt sechs Tore geschossen und ein Tor vorbereitet, womit er an sieben von Reals elf Saisontoren direkt beteiligt war.

Aber das ist noch nicht alles. Bellingham hat die Madrider Mannschaft in Abwesenheit des verletzten Vinícius Jr. und ohne einen namhaften Stürmer, der Benzema hätte ersetzen sollen, zu seiner eigenen gemacht. Die Mannschaft von Trainer Carlo Ancelotti sollte in dieser Saison in den vorderen Bereichen Probleme haben. Theoretisch hätte eine Mannschaft mit zwei exzellenten Flügelspielern, aber ohne Mittelstürmer, Probleme, die engen Abwehrreihen zu knacken. Es war schließlich Benzema, der Vinícius in den letzten beiden Spielzeiten zu Höchstleistungen verholfen hatte.

Bellingham so offensiv spielen zu lassen, schien wenig passend. Er ist ein Spieler, der so oft wie möglich in der Mitte des Spielfelds am Ball sein sollte. Zumindest dachten wir das. Bellingham hat aber die meiste Zeit der bisherigen Saison als "falsche Neun" fungiert. Dort kann der 20-Jährige nicht nur abschließen, sondern auch kreativ werden.

So talentiert er auch ist, Bellingham kann nicht alles allein machen und wird unweigerlich nachlassen. Im Moment trägt er jedoch eine der besten Mannschaften Europas auf seinem 20-jährigen Rücken.

Dani Carvajal
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Real Madrid: Dani Carvajal spielt wie eine jüngere Version von sich selbst

Da der bisherige Kapitän Benzema nicht mehr da ist, Nacho oft Ersatz ist und Courtois verletzt fehlt, brauchten die Blancos einen neuen Spielführer. Rechtsverteidiger Dani Carvajal trägt die Binde nun und tut dies mit Bravour. Der Spanier war gegen Ende der letzten Saison noch zeitweise eine Schwachstelle. Seine alternden Beine machten ihm in einigen wichtigen Spielen einen Strich durch die Rechnung, vor allem bei der Halbfinalniederlage in der Champions League gegen Manchester City und Jack Grealish.

Im Sommer spielte nur 24 Minuten bei Spaniens Final-Sieg in der Nations League gegen Italien. Doch die anschließende Pause hat Carvajal neues Leben eingehaucht. Der Rechtsverteidiger gehört nun wieder zu den besten Spielern der Madrilenen. Er läuft auf der rechten Seite des Spielfelds auf und ab wie eine jüngere Version seiner selbst und sorgt für Offensivdrang.

Seine Leistungen und sein Einfluss spiegeln sich nicht immer in den Statistiken wider, in der neuen Saison hat er einen Assist zu verbuchen. Aber wenn es bei einem Kapitän um Einsatz, Laufbereitschaft und solide Leistungen geht, dann ist Carvajal mit Sicherheit ein guter Mannschaftsführer.

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Real Madrid: Aurélien Tchouaméni entwickelt sich wieder prächtig

Aurélien Tchouaméni verlor am Ende der Vorsaison 2022/23 seinen Platz in der Startelf und wurde im Sommer sogar mit einem Wechsel in Verbindung gebracht. Doch der Franzose entschied sich, zu bleiben und um seinen Platz zu kämpfen.

Die ersten Anzeichen deuten darauf hin, dass Tchouaméni die richtige Entscheidung getroffen hat. Er hat sich in dieser Saison wieder zurückgekämpft, stand in jedem Spiel in der Startelf und zeigte gute Leistungen. In der vergangenen Saison war Real wegen seines Mittelfelds sehr anfällig für Konterangriffe. Da Eduardo Camavinga - der einzige wirkliche defensive Mittelfeldspieler - als Linksverteidiger aufgeboten wurde, musste Toni Kroos in eine für ihn unbequeme Rolle als Abräumer schlüpfen. Das führte dazu, dass die Mannschaft über weite Strecken schlecht abgesichert war und Real viel zu leicht von offensiveren Gegnern ausgekontert werden konnte.

In dieser Saison sieht es jedoch anders aus. Tchouaménis Stabilität gibt Kroos die Möglichkeit, sich frei zu bewegen. Außerdem sichert der Franzose auch für Linksverteidiger Fran García ab, wenn der sich in der Offensive einschaltet.

Doch vor Tchouaméni liegt noch ein weiter Weg. Vor allem wenn man bedenkt, dass er erst 23 Jahre alt ist. Aber im Moment macht er Real zu einer weitaus schlagkräftigeren Mannschaft als noch vor ein paar Monaten.

Vinícius Jr.
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Real Madrid trotzt allen Verletzungssorgen

Als Vinícius in der 15. Minute des Spiels zwischen Real und Celta Vigo Anfang September verletzt zu Boden ging, sah die Stimmungslage im weißen Teil der spanischen Hauptstadt nicht gerade gut aus. Der beste Spieler des Vereins sollte die Hauptlast an Toren tragen - doch nun fiel er verletzt aus.

Real gewann das Spiel letztlich dank eines Treffers von Bellingham in der 81. Minute. Und in diesem Spiel zeigte Stürmer Joselu eine solide Leistung, während Rodrygo auch in Abwesenheit seines brasilianischen Nationalmannschaftskollegen Vini eine gute Figur machte.

Die Verletzung von Vinícius, die ihn noch einige Wochen außer Gefecht setzen wird, war im Vergleich zu denen von Courtois und Militão eher harmlos. Zwei Tage vor dem Auftaktspiel in LaLiga verletzte sich der Belgier, der damals wohl beste Keeper der Welt, im Training mit einem Kreuzbandriss.

Militão konnte am ersten Spieltag gegen Athletic Bilbao nur eine Halbzeit spielen, bevor er sich ebenfalls schwer am Knie verletzte. Ihn vertritt nun der deutsche Nationalspieler Antonio Rüdiger, der einen hervorragenden Job macht.

Der Ersatzmann von Courtois, Kepa Arrizabalaga, hinterlässt auf Anhieb einen guten Eindruck.

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Real Madrid: Joselu ist ordentlich unterwegs

Warum sollte ein 33-jähriger Stürmer auf Abstiegskampf-Niveau, der einst für Hannover 96, Eintracht Frankfurt, 1899 Hoffenheim kickte und nur ein einziges Mal in einer Saison mehr als 15 Tore geschossen hat, geeignet für Reals Angriff sein? Gerade, weil die Fans auf Kylian Mbappé (PSG) gehofft hatte, scheint das unmöglich.

Joselu hatte es von Anfang an schwer. Er konnte auf keinen Fall mit den Fähigkeiten seines Vorgängers Karim Benzema mithalten oder auch nur annähernd so einflussreich spielen wie Mbappé.

Joselu hat seine Sache bisher ordentlich gemacht - und in seinen beiden LaLiga-Startelfeinsätzen sogar jeweils getroffen. Nur von der Bank aus kommend zeigte sich der gebürtige Stuttgarter bisher nicht effizient. Gerade gegen Union Berlin erlebte er allerdings einen schlechten Tag. Elfmal versuchte er es, elfmal scheiterte er.

Es wird viel davon gesprochen, dass Stürmer in der vordersten Reihe 'präsent' sein sollen. Und genau das ist es, was Joselu ausmacht: ein 1,90 Meter großer Mann, der die Aufmerksamkeit etwas von Bellingham, Rodrygo und Co. ablenkt. Das hat bisher gereicht.

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Real Madrid: Späte Tore auch dank Edeljoker Luka Modric

Es ist nicht einfach, Luka Modric auf die Bank zu setzen. Auch mit 38 Jahren kann der Kroate im zentralen Mittelfeld immer noch Weltklasse spielen - das hat er in der Champions League gegen Union Berlin bewiesen. Modric wird in dieser Saison nicht mehr jede Partie bestreiten. Ancelotti hatte schon gegen Ende der letzten Spielzeit angedeutet, dass sowohl er als auch Kroos ihre Auszeiten bekommen würden. Doch nur wenige hätten vorausgesagt, dass der Ballon-d'Or-Gewinner von 2018 in nur zwei der ersten sechs Spiele der Blancos in der Startelf stehen würde.

Diese taktische Entscheidung kam zwar unerwartet, ist aber aufgegangen. Modrić sorgte von der Bank aus kommend für die nötige Ruhe und trug dazu bei, dass Real das Tempo der Spiele bis in die Schlussminuten hinein diktierte. Es ist kein Zufall, dass die späten Tore von Los Blancos immer dann fielen, wenn der Kroate eingewechselt wurde.

Und es gibt weitere Änderungen. Youngster und Linksverteidiger Fran García hat trotz durchwachsener Leistungen bisher viele Minuten bekommen. Camavinga kann dadurch im Mittelfeld auflaufen, auch wenn er als Linksverteidiger effektiver und besser sein könnte als der Neuzugang. Reals Leistungen waren nicht perfekt - die Mannschaft hat immer noch ihre Schwächen - aber Ancelotti hat mit seiner Aufstellung bisher die richtigen Entscheidungen getroffen.

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Real Madrid hat das Glück des Tüchtigen

Real ist in der Lage, bis zum Ende der Spiele durchzuhalten, weil es unermüdlich den Ball hält, statt ihm nachzulaufen. Die Blancos lassen den Ball 90 Minuten lang zirkulieren, suchen nach passenden Spielzügen, winzigen Lücken und den richtigen Räumen. Sie haben sicherlich ein hohes Tempo, aber ohne Vinícius muss sich Madrid mehr auf die Raffinesse im Umgang mit dem Ball verlassen, als auf überfallartige Angriffe.

Eine solche Spielweise kann bezaubern, wenn die Blancos den Gegner links und rechts an den Ohren ziehen und dann ein Traumtor für Fußballperfektionisten erzielt. Die Realität ist jedoch weniger schön, oft lassen Ancelottis Schützlinge Chancen liegen oder haben Probleme gegen tiefstehende Gegner. So haben sie bisher auch definitiv eine ordentliche Portion Glück benötigt.

Bellinghams Siegtreffer gegen Union Berlin (1:0) resultierte aus zwei Abprallern eines Schusses von Fede Valverde. Sein Treffer in der 95. Minute gegen Getafe (2:1) war ebenso glücklich: In Mittelstürmermanier netzte der ehemalige Dortmunder klassisch bei Abstauber.

Das sind vielleicht opportunistische Momente, und man kann Bellingham für seinen Instinkt im Strafraum nichts vorwerfen. Aber es sind diese kleinen Momente mit viel Fortune, die über das Ergebnis entscheiden. Und bisher ist die Münze immer auf der Seite gelandet, die sich Real gewünscht hatte.