FC Bayern München: Reibung mit Thomas Tuchel! Um Joshua Kimmich entsteht richtungsweisende Gretchenfrage

Von Justin Kraft
Joshua Kimmich, FC Bayern
© getty

Die Beziehung zwischen Joshua Kimmich und Thomas Tuchel könnte für den FC Bayern München ein Knackpunkt in dieser Saison werden. Gleichzeitig ist sie richtungsweisend für beide: Spieler und Trainer. Gerade Kimmich steht vor einem Jahr der Wahrheit.

Anzeige
Cookie-Einstellungen

"Ich bin ein Sechser." Vier Worte. Eigentlich ganz simpel und auch so wahr, schaut man auf die vergangenen Jahre beim FC Bayern München. Joshua Kimmich, vornehmlich von Hansi Flick, Julian Nagelsmann und bis jetzt auch Thomas Tuchel auf dieser Position eingesetzt, war und ist ein Sechser.

Doch ganz offenkundig ist er nicht der Sechser, den Tuchel beim Rekordmeister haben will. Mehrfach bekundete der 49-Jährige öffentlich, dass er sich dort einen Spielertypen wünsche, den der Kader derzeit nicht hergibt. Einen wie Declan Rice, der zu Beginn dieser Transferperiode als Wunschspieler galt - zweikampf- und laufstark, gut am Ball, aber in der Lage, diszipliniert seine Position zu halten.

Matthijs de Ligt bezeichnete diese Rolle als "Holding Six". Eine solche ist Kimmich nicht. "Joshua ist der strategische Typ, der am liebsten alles machen würde und auch prinzipiell alles machen könnte", sagte Tuchel auf der Asien-Reise: "Er bringt viel Qualität ins Team rein, aber hat immer noch nicht die DNA eines defensiven Sechsers. Er mag es zu gerne, sich frei zu bewegen, er versucht überall zu helfen und mag es, überall involviert zu sein."

Eine Qualität, die Julian Nagelsmann sehr geschätzt hat. Der Bayern-Trainer erklärte seinerzeit mehrfach, dass er den Nationalspieler sowohl offensiv als auch defensiv brauche und ihm die gefährlichen Chipbälle hinter die Abwehrkette des Gegners zu wichtig wären, um darauf zu verzichten.

nagelsmann-kimmich
© imago images

Joshua Kimmich und seine Beziehungen zu Julian Nagelsmann und Tim Lobinger

Ohnehin war die Beziehung zwischen den beiden besonders. "Julian Nagelsmann ist ein überragender Trainer", erklärte Kimmich nach dessen Aus in München: "Ich hatte schon viele Top-Trainer. Aber er ist in meiner persönlichen Top 3!" 2021 soll der Trainer laut Sport Bild seinem Führungsspieler im Österreich-Urlaub einen Weihnachtsbesuch abgestattet haben. Angeblich habe das intern für Unmut gesorgt.

Die Entlassung des Trainers nahm Kimmich dementsprechend besonders kritisch zur Kenntnis. Im ZDF sprach dieser damals von "wenig Liebe, wenig Herz" und erklärte: "Wir müssen lernen, damit umzugehen. Wenn es zu einem Trainerwechsel kommt, ist es immer enttäuschend." Für ihn vermutlich nochmal mehr.

Es würde nicht verwundern, hätte diese Entlassung zumindest leichte Risse hinterlassen. Was zudem nur selten betrachtet wird, sind die Geschehnisse außerhalb des grünen Rasens. Kimmich ist einerseits jemand, der sich selbst enorm viel Druck macht. Nach dem Aus bei der WM sprach er von der Angst, dass dieser Misserfolg eng mit seiner Person verbunden werden könnte.

Andererseits hat er auch privat einiges durchleben müssen. Im Februar 2023 erlag der ehemalige Spitzensportler Tim Lobinger seinem langen Kampf gegen den Krebs. Für Kimmich war er ein enger Vertrauter. Bei RB Leipzig arbeitete er intensiv mit dem damaligen Athletiktrainer zusammen, blieb auch danach in Kontakt und saß sogar am Sterbebett. Lobinger hatte eine zentrale Rolle in Kimmichs Karriere.

Es ist von außen nicht zu beurteilen, wie der Mensch Kimmich mit diesem Verlust auf dem Platz umgehen konnte und welche Auswirkungen der Mix aus Formschwäche und persönlichen Rückschlägen tatsächlich hatte und noch hat. Das kann nur er beantworten. Doch gerade in der Welt des männlichen Profifußballs, in der Themen wie Menschlichkeit oder der Umgang mit psychischen Problemen oft immer noch zu kurz kommen, sollte dieser Teil der Geschichte zumindest in der Gesamtbetrachtung nicht außen vor bleiben.

Thomas Tuchel, Joshua Kimmich
© imago images

Joshua Kimmich: Unterkühltes Verhältnis zu Thomas Tuchel beim FC Bayern

So vertraut die Zusammenarbeit mit Nagelsmann auch war, so unterkühlt wirkt nun sein Verhältnis zu Tuchel. Die Diskussionen um seine Rolle beim FC Bayern sind neu entfacht, haben eine Dimension erreicht, die zuvor noch nicht da gewesen ist. Denn erstmals scheint auch intern intensiv darüber debattiert zu werden.

Laut der Bild sieht der Trainer seinen Spieler eher als Achter, dieser sich wiederum auf der Sechs. In einem persönlichen Gespräch soll Tuchel ihm vorgeworfen haben, dass er das Spiel zu langsam mache.

Zu Beginn der Vorbereitung, als es Gerüchte um einen Kimmich-Wechsel gab, sagte der Coach: "Ich fange nicht an, zu dementieren. Es macht gar keinen Sinn, dann muss man die Kaderliste durchgehen." Eine überraschend unklare Aussage.

Joshua Kimmich, FC Bayern
© getty

FC Bayern München: Stärken und Schwächen von Joshua Kimmich

Mehrere Medien berichteten damals, dass Kimmich den Status der Unantastbarkeit verloren habe. Tuchel, so könnte man es positiv auslegen, sorgt für Reibung beim FC Bayern und nimmt keine Rücksicht auf Befindlichkeiten und Machtpositionen. Es dürfte kein Zufall sein, dass einige Trainer seit Pep Guardiola auch über einzelne Spieler stolperten.

Wie groß die Reibung zwischen Tuchel und Kimmich wirklich ist, wird sich noch zeigen. Doch sie ist für den 28-Jährigen auch als Chance zu begreifen, den finalen Schritt innerhalb der eigenen Karriere zu gehen, der ihm bisher nicht gelang. Kimmich agierte in den letzten Jahren stets an der Schwelle zur Weltklasse. In einzelnen Bereichen der Spielgestaltung zählt er längst zu den besten Mittelfeldspielern. Weltweit gehört er laut dem Statistikportal FBref zu den obersten zehn Prozent auf seiner Position, wenn es um Assists (0,21 pro 90 Minuten) und abschlusskreierende Aktionen (4,27 pro 90 Minuten) geht. Mit 86,91 Pässen pro 90 Minuten (bestes Prozent der Welt) und darunter 9,97 erfolgreichen Pässen mit umgerechnet mindestens neun Metern vertikalem Raumgewinn (beste zwei Prozent) untermauert er diesen Status.

Kimmich hat Übersicht, findet gute Lösungen unter Druck, ist fast immer anspielbar und leitet so viele Angriffe seiner Teams klug ein, die im Nachhinein kaum Beachtung finden. Doch da ist die Kehrseite, die Tuchel zu Recht anspricht: Seine Ambitionen im Offensivspiel führen zu defensiver Anfälligkeit. Wenn es um Defensivaktionen geht, ist Kimmich statistisch gesehen eher oberer Durchschnitt.

Dazu gehört aber auch, dass Bayern überdurchschnittlich viel Ballbesitz hat und es dementsprechend nicht verwundert, dass er deutlich weniger Zweikämpfe führt als andere Sechser. Dennoch ist die Verwundbarkeit des FC Bayern im Bereich zwischen Abwehr und Mittelfeld nicht von der Hand zu weisen.

kimmich-1200-copy-001
© getty

FC Bayern München: Gretchenfrage rund um Joshua Kimmich

Um Kimmich hat sich die bayerische Gretchenfrage gebildet: Wie hast du's mit der Religion? Da wäre einerseits die Religion der Nagelsmänner und Flicks: Temporeich, dynamisch, bisweilen wild und immer offensiv. Doch es gibt eben auch jene der Tuchels und Guardiolas: Strukturierter, geduldiger und vor allem disziplinierter.

Gelingt es Tuchel nicht, aus Kimmich doch noch diese "Holding Six" zu machen, muss er umstrukturieren. Und dann wird der Spieler seine neue Rolle entweder akzeptieren müssen - oder irgendwann gehen. Dass Kimmich Probleme damit hat, ein Spiel allein auf seinen Schultern zu tragen, ist nicht neu. Probleme, die auch Toni Kroos bei Real Madrid gehabt hätte, wäre da nicht ein Casemiro neben ihm gewesen. Probleme, die sogar Xabi Alonso in München hatte, weil er älter wurde.

Akzeptiert Kimmich, dass er mit entsprechender Unterstützung und Einbindung noch besser werden kann, kann er die unverzichtbare Waffe des FC Bayern werden, die er gern wäre, im Moment aber nicht (mehr) ist. Entweder in einer Achterrolle, oder in Anlehnung an Philipp Lahm in einer für ihn geschaffenen Hybridrolle. Guardiola erkannte damals die Defensivprobleme im bayerischen Mittelfeld und ließ Lahm in Ballbesitz von der Rechtsverteidigerposition aus einrücken.

kimmich-kommentar-1200
© getty

FC Bayern München: Joshua Kimmich und Thomas Tuchel müssen Lösungen finden

Nur ist Kimmich nicht annähernd so gut im Verteidigen wie der damalige FCB-Kapitän. Insofern wäre die Achterposition mit weniger Umstellungen verbunden. So oder so: Kimmich mag in der Vergangenheit der Sechser des FC Bayern gewesen sein. Und Debatten über seine grundsätzlichen Fähigkeiten haben in Deutschland ungefähr die Qualität der Ecken des FCB angenommen: Mal flach, mal hoch hinaus, aber selten zielführend.

Es geht eher weniger darum, ob Kimmich ein überragender Fußballer sein kann. Es geht vor allem darum, ob man beim FC Bayern endlich eine Rolle für ihn findet, in der er seine vielen Qualitäten bestmöglich einbringen kann, ohne seine wenigen Schwächen ständig offenbaren zu müssen.

Vielleicht ist es sogar die größte Herausforderung für Tuchel beim FC Bayern. Er braucht dafür keine weihnachtlich-enge Beziehung zu seinem Spieler. Aber er sollte sich bei seinen öffentlichen Aussagen zumindest bewusst sein, welchen Stellenwert Kimmich für den deutschen Fußball hat - und welchen er haben kann, wenn er für ihn die richtigen Entscheidungen trifft.

Doch auch für Kimmich ist es die bisher größte Herausforderung beim FC Bayern. Seit der berühmten Szene mit Pep Guardiola, als dieser ihn in Dortmund noch auf dem Spielfeld zurechtwies, gab ihm kein Trainer mehr öffentlich so viel Contra. Doch damals war Kimmich ein ungeschliffener Diamant, er schien jedes Wort zu verinnerlichen, er schien lernwilliger als heute, wo er sich womöglich als fertigen Spieler sieht.

Das ist er aber nicht. Im Gegenteil: Arbeiten Trainer und Spieler konstruktiv zusammen, kann die aktuelle Reibung schnell zum Katalysator werden. Vielleicht geht Kimmich dann den letzten Schritt von der Schwelle hin zur Gruppe der wenigen tatsächlichen Weltklassespieler.

FC Bayern München: Die wichtigsten Termine der Vorbereitung des FCB

DatumEreignis
15. - 20. Juli 2023Trainingslager am Tegernsee
18. Juli 2023Testspiel gegen FC Rottach-Egern (27:0)
23. Juli 2023Teampräsentation in der Allianz Arena
24. Juli - 3. August 2023"Audi Summer Tour" in Japan und Singapur
26. Juli 2023Testspiel gegen Manchester City in Tokio, Japan (1:2)
29. Juli 2023Testspiel gegen Kawasaki Frontale in Tokio, Japan (1:0)
2. August 2023Testspiel gegen den FC Liverpool in Singapur (4:3)
7. August 2023Testspiel gegen AS Monaco in Unterhaching (4:2)
12. August 2023Supercup gegen RB Leipzig in München (0:3)
18.-20. August 2023Start der Bundesliga-Saison 2023/24
Artikel und Videos zum Thema