"Regeln? Eigentliches Problem nicht gelöst"

Dr. Rolf Brack begann seine Trainerkarriere 1983 beim TSV Zuffenhausen
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Er bildet Trainer aus, coachte jahrelang den HBL-Klub HBW Balingen-Weilstetten und war Schweizer Nationaltrainer: Dr. Rolf Brack. Vor dem Saisonstart (Sa., 15 Uhr live auf DAZN und im LIVETICKER) spricht der 62-Jährige über die neuen Möglichkeiten durch den siebten Feldspieler, die Verkomplizierung des Handballs und die großen Nachwuchs-Hoffnungen unter den deutschen Trainern. Zudem verrät Brack, warum er den THW Kiel als Favorit auf die Meisterschaft sieht.

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SPOX: Herr Dr. Brack, die anstehende Saison wird auch deshalb besonders spannend, weil es im Handball mehrere Regeländerungen gibt. Die taktisch wohl gravierendste Neuigkeit ist die Möglichkeit, einen vollwertigen siebten Feldspieler ohne Leibchen auf die Platte zu schicken. Wie revolutionär ist das denn nun?

Dr. Rolf Brack: Das ist insofern revolutionär, dass es von vielen Trainern taktisch so umgesetzt werden wird, dass es eine andere Art von Angriffsspiel gibt: Weniger zweikampforientiert, weniger abhängig von der Wurfqualität aus neun oder zehn Metern. Allerdings ist die Voraussetzung, dass diese Änderung von den Trainern entsprechend aufgegriffen wird. Sie müssen den Mut und das Know-how haben, diese Regel auszunutzen.

SPOX: Darin haben Sie eine riesige Erfahrung. Sie waren eigentlich der erste Coach in Deutschland, der mit einem siebten Feldspieler spielen ließ.

Brack: 1997 habe ich das erstmals gemacht. Seither gab es unter mir über 2.000 Anwendungen im Spiel und wahrscheinlich 10.000 oder 15.000 Wiederholungen im Training. Damals galt ja noch die Regel mit dem Leibchen. Allerdings habe ich in den letzten Monaten fünf oder sechs Trainerlehrgänge dazu abgehalten, hatte auch einen Lehrgang für das Spiel Sieben gegen Sechs privat ausgeschrieben. Ich habe mich also auch mit der neuen Regel wahnsinnig intensiv beschäftigt.

SPOX: Was ändert sich im Vergleich zum siebten Feldspieler mit Leibchen?

Brack: Grundsätzlich ändert sich im taktischen Bereich eigentlich nicht viel. Diese sehr breite Orientierung des Spiels, die Notwendigkeit, mit mindestens zwei oder auch mit drei Kreisläufern zu spielen, das Spiel weit auseinanderzuziehen. Dann ist das im Prinzip gleich, wie es schon im Sieben gegen Sechs mit Leibchen war, nur dass es die Möglichkeit gibt, das noch besser zu nutzen. Früher konnte der mit Leibchen ja nicht auf das Tor werfen, zumindest nicht aus der Nahdistanz. Er musste immer schauen, möglichst schnell beim Wechsel sein zu können.

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SPOX: Also erhöht sich die Erfolgswahrscheinlichkeit?

Brack: Ich habe über die Jahrzehnte die Quoten meiner Mannschaften akribisch ausgewertet, auch mit Hilfe von vielen Zulassungs-, Magister- und Diplomarbeiten meiner Studenten. Beim Sechs gegen Fünf war mit einer Mannschaft wie Balingen der Tor-Schnitt bei fast 75 Prozent. Beim Sechs gegen Sechs hatten wir eine Tor-Quote von rund 45 Prozent, wenn man Tempogegenstöße weglässt. In den letzten zwei Jahren mit Balingen haben wir über 400 Angriffe ohne Torhüter gespielt, da hatten wir eine Quote von 56 Prozent im Sieben gegen Sechs. Wenn man das gut spielt, gut trainiert und den nötigen Mut mitbringt, dann können im Sieben gegen Sechs auch bei mittelmäßigen Mannschaften Angriffsquoten von sogar 70 bis 75 Prozent entstehen, glaube ich.

SPOX: Gehen durch ein permanentes Überzahlspiel dem Handball nicht wichtige Elemente verloren, die die Sportart bisher auszeichneten? Stichwort Zweikampf.

Brack: Der Zweikampf als vielleicht prägendstes Element des bisherigen Handballs, Mann gegen Mann, Eins gegen Eins - diese Qualität fällt teilweise mehr oder weniger weg. Das ist das Grundproblem. Diese zweikampforientierte Spielweise, die Handball vom Basketball unterscheidet und einen Großteil der Attraktivität des Männer-Handballs ausmacht, geht teilweise verloren. Andererseits geht das körperbetonte Spiel auch dadurch verloren, wie die Schiedsrichter beispielsweise bei Olympia gepfiffen haben, als sie Zeitstrafen ohne Ende verteilten. Da wurde der Abwehrspieler in jeder etwas härteren Zweikampfsituation bestraft. Man muss mal abwarten, wie die im Durchschnitt wirklich sehr guten HBL-Schiedsrichter das handhaben. Ich glaube und hoffe, dass sie nicht überziehen werden.

SPOX: Bei Olympia war schon zu beobachten, dass es viel mehr Treffer über das gesamte Feld hinweg ins blanke Tor gibt. Es gibt Kritiker, die bemängeln, dass dies - wenn es vier oder fünf Mal pro Spiel vorkommt - nicht mehr viel mit Handball zu tun habe.

Brack: Es ist doch so: Die Effektivität des Empty-Net-Goals war in der Zeit, in der ich das spielen lassen habe, bei 50 oder 60 Prozent. Also zumindest in der Zeitspanne 2011, 2012, 2013. Von 50 Würfen auf das leere Tor waren nur knapp 30 drin. Dieses Element wird mehr ins Bewusstsein gerückt durch die neue Regel. Die Situation wird im Training ständig passieren, sie kommt im Spiel viel häufiger vor. Deshalb wird sich die Effektivität erhöhen. Es wird so sein, dass wahrscheinlich vier von fünf Würfen auf das leere Tor reingehen. Aber es gibt ja auch noch die Möglichkeit, sich zu überlegen, wie man es hinbekommt, dem Gegner dieses Empty-Net-Goal schwieriger zu machen. Vielleicht mit dem Kreisläufer, der sofort den Torwart stört. Man kann sich fragen: Wie kann ich nach einem Tor beim Anspiel in der Mitte zwei Spieler im Abstand von drei Metern so positionieren, dass der Wurf viel schwieriger wird. Die abwehrende Mannschaft kann ein Bewusstsein entwickeln, wie man zu reagieren hat, um es komplizierter zu machen. Ich sehe darin kein großes Problem für die Attraktivität.

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