Ob Giovanni di Lorenzo irgendwann während dieses wahnsinnigen Kicks die Worte seines Trainers Luciano Spalletti in den Kopf schossen, als Nico Williams wieder einmal mit dem Tempo wie in einem Teilchenbeschleuniger auf ihn zudribbelte? "Spanien schafft großartige Dinge, wir haben Respekt vor ihnen. Aber wir dürfen sie nicht größer machen, als sie sind. Ihr seid nicht die einzigen, die großartigen Fußball spielen, überschätzt euch nicht", hatte Italiens Nationaltrainer am Vorabend dieses deutlichst möglichen 0:1 im zweiten Spiel der Gruppe B bei der Pressekonferenz zu den anwesenden spanischen Journalisten gesagt.
Womöglich hat Spalletti aber auch den Entwicklungsstand seiner Mannschaft ein wenig überschätzt.
Denn Spanien ist, das ist spätestens nach diesem zweiten überzeugenden Spiel bei dieser EM in Deutschland klar, längst da, wo Spalletti mit Italien irgendwann gerne hinmöchte: Die spanische Nationalmannschaft mit ihren jungen Wilden Lamine Yamal und Nico Williams, mit ihren Passmaschinen Rodri, Marc Cucurella und Fabián Ruiz spielt den gleichzeitig aufregendsten und reifsten Fußball des Turniers.
Trainer Luis de la Fuente hat in nur eineinhalb Jahren die Furia Roja auf links gedreht. Tiki-Taka war gestern, die Gegenwart ist superfurioser Direktfußball, der nur eine Richtung kennt: Nach vorne! Die Furia Roja unter de la Fuente ist ein völlig neues Spanien und erbringt den Beweis, dass fußballerische Revolutionen auch bei Nationalmannschaften stattfinden können.
Spanien, ein möglicher Gegner Deutschlands im Viertelfinale, sollte die DFB-Elf die Gruppe als Erster absolvieren und das Achtelfinale überstehen, spielte gegen Italien ein fast schon mörderisches Angriffspressing, attackierte sogar den gegnerischen Keeper Gigio Donnarumma, wenn der den Ball hatte.
Spanien bei der EM 2024: Rodri als Pass-Umschaltwerk
Vor allem Spaniens linke Seite mit Linksverteidiger Marc Cucurella und Linksaußen Nico Williams spielte die Azzurri regelrecht her. Rechtsverteidiger Giovanni di Lorenzo, der seine Stärken ohnehin eher im Spielaufbau hat als im Verteidigen, konnte einem wirklich nur leidtun. Er tat, was er konnte, ging am häufigsten ins Tackling (sechsmal), klärte zweimal in höchster Gefahr, doch man hätte es ihm nicht übel genommen, wenn er irgendwann einen kleinen Phantomschmerz gespürt und sich hätte auswechseln lassen.
Spanien hatte gegen Italien zur Pause 323 Pässe gespielt, davon atemberaubende 104 im letzten Spieldrittel. Die Spieler standen so hoch und pressten mit einer solchen Konsequenz und mit einem solchen Tempo, dass die Italiener gar nicht mehr rauskamen aus ihrer Hälfte. Und sicher nicht, weil sie sich da verkriechen wollten. Denn die Azzurri versuchten durchaus, sich aus der spanischen Umklammerung zu lösen, die Schlinge zu entfernen, aber sie schafften es einfach nicht.
Am Ende hatte Spanien 591 Pässe gespielt, wovon 91 Prozent auch da ankamen, wo sie ankommen sollten und 20 Schüsse abgegeben. Deutschland war beim 2:0 gegen Ungarn übrigens auf 716 Pässe gekommen, davon unfassbare 124 von Toni Kroos. Der spanische Kroos heißt Rodri, ist 27 Jahre alt, spielt bei Manchester City, und nahm den Ball gegen Italien meist einfach nur an und leitete ihn sofort weiter. Er gab das halsbrecherische Tempo vor. Eine Pass-Umschaltwerk in absoluter Perfektion. 100 Prozent Passquote zur Pause, 98 Prozent nach 90 Minuten.
Rodris Klasse ist seit Jahren unbestritten, doch generell finden sich in der spanischen Startelf gar nicht mal so viele Spieler, die nominell viel schwächer wären als die Spieler der bisher eher enttäuschenden Engländer und Franzosen. Selbst ein in Deutschland eher unbekannter Robin Le Normand von Real Sociedad hat eine herausragende Saison in der Liga und Champions League gespielt.
Spanien bei der EM 2024: Viel mehr Spaß kann eine Nationalmannschaft nicht machen
Bei den Azzurri war kaum etwas von ihrem konsequenten Steil-Klatsch-Spiel zu sehen, das gegen Albanien so spektakulär ausgesehen hatte, die wenigen Konterchancen in der ersten Halbzeit versandeten meist, ehe sie von spanischen Spielern abgeblockt werden mussten. Fast sah es so aus, als ob die Spieler ihre Angriffsbemühungen aus Angst vor dem Pressing der Spanier stoppen würden.
Spanien und Italien spielten nominell das gleiche System mit den gleichen Ideen. Beide Mannschaften wollen eigentlich das gleiche, de la Fuente hatte vor dem Spiel gemeint, es sei als würde er in einen Spiegel sehen, wenn er Italien und Spalletti sähe. Aber die Azzurri bekamen einfach keinen Fuß auf den Boden an diesem Abend in Gelsenkirchen, in der ersten Halbzeit gelang gar kein Torschuss, in der zweiten auch kein gefährlicher. Da half auch die numerische und akustische Überlegenheit ihrer Fans nichts. Dass es nur 0:1 endete, lag am überragenden Donnrarumma und an einer gewissen Sorglosigkeit Spaniens vor dem Tor. Und doch: Viel mehr Spaß kann eine Nationalmannschaft nicht machen als an diesem Abend.
De la Fuentes Aufstieg zum Nationaltrainer war nicht vorherbestimmt. Nach neun äußerst erfolgreichen Jahren als Trainer der spanischen Nachwuchsmannschaften - mit dem Höhepunkt des EM-Gewinns der U21 im Jahr 2019 im Finale gegen Deutschland - übernahm er La Furia Roja nach dem Achtelfinal-Aus bei der WM in Katar gegen Marokko fast als Verlegenheitslösung von Luis Enrique. De La Fuente bekam den Job auch ein wenig, weil der Markt an verfügbaren einheimischen Trainern nicht gerade üppig war. Allerdings auch, weil er für einen anderen Fußballstil steht als Enrique und seine Vorgänger.
Spanien bei der WM in Katar: 1000 Pässe, ein Torschuss
In Katar hatte Spanien gegen Marokko zwar 1000 (!) Pässe gespielt und dreimal so viel Ballbesitz wie der Gegner gehabt, sich aber nur einen Torschuss erarbeitet in 120 Minuten und war schließlich im Elfmeterschießen ausgeschieden. Selbst in Spanien hatten sie da genug vom Tiki-Taka in seiner Reinform. Also gaben sie den Job de la Fuente, der ein paar Dinge anders machen sollte. Dass er praktisch alles umwerfen würde, damit hatte wohl keiner gerechnet.
Es klappte auch nicht alles auf Anhieb: Nach einem 0:2 gegen Schottland im März 2023 in der Nations League stand der Trainer schon kurz vor dem Rauswurf. Doch ähnlich wie Julian Nagelsmann in Deutschland - und trotz der klaren Niederlage auch Spalletti in Italien - hatte de la Fuente eine klare Idee und einen Plan, der nun zweimal perfekt funktioniert hat. Wie Deutschland ist Spanien eine Trainermannschaft.
Der Spieler de la Fuente wurde groß bei Athletic Bilbao in den 1980er- und 1990er-Jahren, als der baskische Klub unter Trainer Javier Clemente und dem Linksverteidiger de la Fuente mit reinstem Kick-and-Rush zweimal spanischer Meister wurde. Mit "patapúm parriba", wie Kick-and-Rush in Spanien genannt wird, hat das Spiel der Roja bei der EM nichts zu tun. Aber: Es ist eben deutlich geradliniger und zielstrebiger als in den vergangenen 15 Jahren. Das hat auch viel mit de la Fuentes Selbstverständnis zu tun. Der Coach betrachtet "jedes Spiel, als wäre es mein letztes".
Sein Credo: Nur in solchen Do-or-Die-Momenten würde man seine "Aufgaben mit maximaler Energie" angehen. Das könnte bei einer Klubmannschaft auf Dauer ein wenig anstrengend sein (frag nach bei den von Antonio Conte oder José Mourinho trainierten Teams im zweiten oder dritten Jahr), aber für Turniere könnte das genau die richtige Strategie sein.
EM 2024: Die Tabelle der Gruppe B im Überblick
Platz | Mannschaft | Sp. | S | U | N | Tore | Diff. | Pkt. |
1 | Spanien | 2 | 2 | 0 | 0 | 4:0 | 4 | 6 |
2 | Italien | 2 | 1 | 0 | 1 | 2:2 | 0 | 3 |
3 | Albanien | 2 | 0 | 1 | 1 | 3:4 | -1 | 1 |
4 | Kroatien | 2 | 0 | 1 | 1 | 2:5 | -3 | 1 |