EM

Jorginho: Italiens Gott der kleinen Dinge - den Mancini verhindern wollte

Jorginho ist im italienischen Mittelfeld längst unersetzlich.
© getty

Jorginho führte in dieser Saison als Metronom im Mittelfeld schon den FC Chelsea zum Champions-League-Titel, nun kann er auch Europameister mit Italien werden. Er ist der unersetzbarste Spieler in der Mannschaft von Trainer Roberto Mancini. Dabei hatte der Coach die Nationalmannschaftskarriere des 29-Jährigen einst verhindern wollen.

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Ende Oktober 2020, als die Aussicht auf das Finale einer EM vor 60.000 Zuschauern in Wembley (Sonntag, 21 Uhr, LIVETICKER)noch absurder schien als die Vorstellung, dass sich in besagtem Finale England und Italien gegenüberstehen und die Azzurri darin die Rolle der Botschafter des schönen Fußballs übernehmen würden, befand sich Roberto Mancini im Zentrum der Kritik.

Italiens Nationaltrainer hatte es zu Beginn der zweiten Infektionswelle für eine gute Idee gehalten, in den sozialen Netzwerken ein Comic zu teilen, in dem die Gefahr einer Erkrankung mit Covid-19 maximal heruntergespielt und als hysterische Erfindung der Medien dargestellt wurde. Zwei Wochen später infizierte sich Mancini selbst - und verpasste drei Länderspiele.

Spätestens wenn die Azzurri am Sonntag auch ihr 34. Spiel hintereinander nicht verlieren und sich zu den Königen Europas aufschwingen sollten, wird Mancini zu einem der Säulenheiligen des Calcio werden. Unfehlbar ist der Schöpfer der "mannschaftlichsten Mannschaft aller Zeiten", wie Innenverteidiger Leonardo Bonucci diese fabelhaften Azzurri zuletzt bezeichnete, aber nicht.

Und damit zu Jorginho. In einem breit aufgestellten und harmonischen italienischen Kader ist der im brasilianischen Imbituba geborene 29-Jährige "im Mittelfeld der einzige Unersetzliche", wie der frühere italienische Nationalspieler und neue DAZN-Experte Massimo Ambrosini SPOX und Goal sagte.

Jorginho bei der EM: Mehr Spielminuten als alle anderen

In der Tat absolvierte Jorginho bisher 585 von möglichen 610 Spielminuten für Italien, mehr als alle anderen Feldspieler.

Dabei hätte es den italienischen Nationalspieler Jorginho gar nicht geben dürfen. Genauso wenig wie es die italienischen Nationalspieler und EM-Teilnehmer Emerson Palmieri und Rafael Toloi hätte geben dürfen. Die wurden auch in Brasilien geboren und sollten daher wie Jorginho keine Azzurri sein.

Befand zumindest Roberto Mancini im Jahr 2015: "Die italienische Nationalmannschaft muss italienisch sein. Ich denke, dass es ein italienischer Spieler verdient, in der Nationalelf zu spielen, während derjenige, der nicht in Italien geboren ist, auch wenn er italienische Verwandte hat, es nicht verdient. Das ist meine Meinung."

Es war eine seiner zweifelhaftesten Aussagen in einer seiner unglücklicheren Amtszeiten: Mancini versuchte sich damals zum zweiten Mal als Trainer bei Inter Mailand.

Jorginho war Anfang 2015 23 Jahre alt und der neue Star im Mittelfeld von Maurizio Sarris SSC Neapel. Seit acht Jahren lebte er damals schon in Italien. Als er in die Jugendmannschaft von Hellas Verona kam, war er fast noch ein Kind. Er hatte in einem Kloster gelebt und 20 Euro Taschengeld in der Woche erhalten, zwischenzeitlich spielte er in der vierten Liga.

Der italienische Ur-Ur-Großvater mag Jorginho formal bei der Einbürgerung geholfen haben. Aber auch nur auf die Idee zu kommen, dass einer wie Jorginho das Nationaltrikot wegen seines Geburtsortes "nicht verdient" haben könnte, ist unabhängig von realitätsverweigernden persönlichen politischen Ansichten verwegen.

Fehlerloser Jorginho: Einer für den Ballon d'Or?

Mancini mag sich manchmal verirren, doch er besitzt die Größe, Fehleinschätzungen einzugestehen und korrigieren zu können. Als er die Azzurri 2018 in den Trümmern der gescheiterten WM-Qualifikation übernahm, machte er Jorginho sofort zum wichtigsten Spieler im Mittelfeld. Nachdem Jorginho 2016 vor der EM in Frankreich unter Antonio Conte seine ersten zwei Länderspiele gemacht hatte, war er von Contes Nachfolger Gian Piero Ventura standhaft ignoriert worden - bis zu Venturas letztem Spiel: Das 0:0 im Rückspiel der WM-Playoffs war Jorginhos erstes Spiel für Italien über 90 Minuten. Inmitten der Katastrophe begann so bereits die italienische Katharsis.

"Er ist für uns ein sehr wichtiger Spieler, da er das Tempo vorgibt und die ganze Mannschaft zum Ticken bringt", lobte Mancini Jorginho während der EM.

Auch wenn in seiner Statistik weder Tor noch Vorlage stehen, ist er tatsächlich der wichtigste Spieler der Azzurri. Jorginho ist das Metronom des italienischen Spiels. Er gibt den Takt vor, er orchestriert das bärenstarke italienische Pressing und das noch stärkere Gegenpressing. Er ist das laufstarke Bindeglied zwischen Leonardo Bonucci und Giorgio Chiellini, den Senatoren in der Innenverteidigung, und den quirligen Offensivspielern. Jorginho spricht auf dem Platz ununterbrochen, ein italienisch-brasilianischer "Radio Müller", nur dass er ständig präzise Regieanweisungen gibt und keine Sprüche von sich lässt.

"Jorginho macht fast nie Fehler, er wählt immer die richtige Lösung", sagte etwa sein Mittelfeldkollege Nicolo Barella bewundernd. Die Gazzetta dello Sport bezeichnete Jorginho als neuen Maestro. Für Maurizio Sarri, seinen Ex-Trainer beim SSC Neapel und dem FC Chelsea ist Jorginho gar ein Kandidat für den Ballon d'Or.

Jorginho bei der EM: Seine Leistungsdaten

SpielKreierte ChancenPässePassgenauigkeitPässe gegnerische HälftePassgenauigkeit gegn. HälfteZweikämpfeErfolgreiche Zweikämpfe
Türkei - Italien (0:3)38293.9 Prozent6095 Prozent683.33 Prozent
Italien - Schweiz (2:0)070904085977.78
Italien - Wales (1:0)25198.043096.67862.5
Italien - Österreich (2:1 n.V.)011291.967291.671060
Belgium - Italien (1:2)17298.614797.87955.56
Italien - Spanien (5:3 i.E.)03378.791145.451241.67
Gesamt:6420-260-54-
Durchschnitt:17092.8643.3391.159.0061.11

Jorginho: Einfache Pässe, komplexe Ideen

Er ist einer jener Spieler, deren ganze Klasse sich vor allem erst erschließt, wenn man sie im Stadion oder zumindest im Taktik-Feed spielen sieht. Weil man da erst mitbekommt, was für weite und vor allem kluge Wege sie gehen, wie sie ihre Kameraden in die richtigen Räume schicken, wie sie schon vor dem Anspiel zu wissen scheinen, was ihre Mitspieler anschließend damit machen werden.

Jorginho ist kein neuer Andrea Pirlo. Ihm fehlt es ein wenig an der lässigen Grandezza des Altmeisters, seine Pässe wirken nicht so gemalt wie Pirlos Pässe es taten. Jorginho ist auch kein italienischer Toni Kroos, der messerscharf genau in die Schnittstellen passt. Aber Jorginho ist Kopf und Herz der italienischen Mannschaft bei dieser EM.

Jorginho ist auf dem Fußballplatz so etwas wie ein Gott der kleinen Dinge. Seine Pässe sind selten kompliziert, seine Ideen umso komplexer. Aber er schafft es, dass Idee und Ausführung gleichsam einfach, mühelos und leicht verständlich wirken. Jorginho ist das Gegenteil eines spektakulären Spielers. Aber eben auch das Gegenteil von langweilig. Er macht eigentlich immer die gleichen Dinge, und doch sind seine Gegenspieler immer wieder machtlos gegen seine Aktionen.

Sein entscheidender Elfmeter im Halbfinale gegen Spanien, ansonsten sein schwächstes EM-Spiel, war symptomatisch. Jorginho lief an, verzögerte die Bewegung mit einem weiten Satz, schaute dem Torwart dabei die ganze Zeit direkt in die Augen, wartete, bis der sich für eine Ecke entschieden hatte und schob den Ball in die freie Ecke. Ein Elfmeter, der fast schon aufreizend einfach aussah, den sich aber fast keiner traut. Jorginho schießt seine Elfmeter dagegen schon immer so. Auf YouTube lassen sich etliche Zusammenschnitte all seiner Elfmeter und ausführliche Analysen seiner Schusstechnik finden. Von seinen 33 Elfmetern während der regulären Spielzeit verschoss er trotzdem nur vier.