Ungarn wurde im Vorfeld der EM allerhöchstens die Rolle des Züngleins an der Waage eingeräumt, die Mannschaft von Trainer Marco Rossi sei maximal ein potenzieller Stolperstein für die großen Drei der so genannten Todesgruppe. Chancen auf ein Weiterkommen wurde den Magyaren mit Blick auf die hochdekorierten Kontrahenten Frankreich, Deutschland und Portugal beim besten Willen nicht eingeräumt.
Vor der letzten Gruppenbegegnung mit Deutschland besteht für den vermeintlichen Außenseiter aber sehr wohl noch die Möglichkeit, in die K.-o.-Runde einzuziehen. Ungarn hat sich mit guten Leistungen gegen Europameister Portugal (0:3, durch drei sehr späte Gegentore) und insbesondere gegen Weltmeister Frankreich (1:1) zu einem ernstzunehmenden Gegner gemausert.
Thomas Doll und Michael Boris, die beide lange als Trainer in Ungarn tätig waren und etliche der aktuellen Nationalspieler einst förderten, klären vor dem Duell mit Deutschland im Gespräch mit SPOX und Goal über die Stärken des Rossi-Teams auf.
Doll: "Ich bin wirklich überrascht"
"Ich bin wirklich überrascht, wie gut sie sich gegen Portugal und Frankreich präsentiert haben", sagt Doll, der zwischen 2013 und 2018 als Übungsleiter von Ferencvaros aktiv war. "Natürlich ist es immer etwas leichter, zu verteidigen, anstatt das Spiel selbst zu machen und ständig Ideen entwickeln zu müssen. Es ist nicht einfach, eine Mannschaft, die sensationell verteidigt, bei 35 Grad auseinanderzuspielen. Bei den Franzosen waren nur selten tiefe Läufe hinter die Kette erkennbar, sie haben sich die Bälle hin und her gespielt, aber keine Lücken gefunden."
Tatsächlich hatten einige Protagonisten der Equipe Tricolore im Anschluss an das Remis die hohen Temperaturen in Budapest beklagt und darin einen möglichen Grund für das uninspirierte Auftreten ausgemacht. "Der Rasen war trocken, es war heiß und schwül", sagte Torschütze Antoine Griezmann, Trainer Didier Deschamps erklärte: "Vielleicht hatten all diese Umstände mehr Einfluss auf uns als auf den Gegner."
Für Boris, der zwischen 2016 und 2019 Ungarns U17- und U19-Nationalmannschaft trainierte und später beim Erstligisten MTK Budapest unter Vertrag stand, keine akzeptable Entschuldigung. "Frankreich hat laut Transfermarkt einen Gesamt-Marktwert von knapp über einer Milliarde Euro, Ungarn kommt auf 74 Millionen Euro und belegt in der Weltrangliste Platz 37", sagt der 46-Jährige und ergänzt: "Die Unterschiede sind immens, aber ich hatte im Stadion das Gefühl, dass Frankreich einigermaßen lustlos agiert hat, insbesondere, wenn ich mir Griezmann angeschaut habe."
Mutmaßlich, weil Ungarn penetrant, ja beinahe eklig verteidigte, kaum Räume für die spielfreudigen Franzosen anbot und der Milliarden-Truppe so die Lust nahm. "Wenn man die letzten Minuten des Portugal-Spiels einmal ausklammert, hat Ungarn bisher wenig zugelassen", sagt Boris.
Ungarn: Parallelen zum Catenaccio-Stil
"Sie stehen tief und verteidigen kompakt, sind aber dennoch bereit, die Konter auszuspielen. Das ist die Idee von Marco Rossi. Er hat seine Mannschaft taktisch sehr gut ausgebildet." Boris sieht im Spiel des italienischen Coaches Parallelen zum Catenaccio-Stil.
"Bei Ballbesitz wird aus der Dreier- eine Fünferkette, die beiden Stürmer laufen die Innenverteidiger nicht an, sondern ziehen sich zurück, um Kompaktheit im Mittelfeld zu generieren", sagt er und ergänzt: "Das ist die einzige Möglichkeit, gegen die absoluten Top-Teams etwas zu holen - und diese Herangehensweise ist in den ersten beiden Spielen weitestgehend aufgegangen."
Doll zufolge habe Rossi neben seiner passenden Taktik "eine unglaublich gute Mischung aus erfahreneren Spielern und jungen Wilden gefunden".
Der ehemalige Dortmund- und Hamburg-Trainer hebt besonders die beiden Bundesliga-Akteure Peter Gulacsi und Roland Sallai aus dem starken Kollektiv hervor: "Sie leben natürlich von ihrer mannschaftlichen Geschlossenheit, einer kämpft für den anderen und alle wissen, was sie zu tun haben. Aber, um zwei wichtige Einzelspieler zu nennen: Gulacsi von RB Leipzig strahlt unglaubliche Sicherheit aus und ist ein Fixpunkt in dieser Mannschaft. Wer mir auch sehr gut gefallen hat, ist der Freiburger Sallai. Er ist sehr beweglich und sorgt immer für Unruhe."
Gulacsi ein ganz wichtiger Faktor
Auch aus Boris' Sicht ist die Mannschaft der Star. Vor allem, weil der namhafteste Ungar, Dominik Szoboszlai, verletzungsbedingt nicht für das Turnier zur Verfügung stand. "Sie kommen eher über das Kollektiv und haben nicht den einen Schlüsselspieler", sagt der ehemalige U-Nationaltrainer.
Er sieht vielmehr in jedem Mannschaftsteil wichtige Akteure. "Sallai darf man nicht unterschätzen, im Mittelfeld sind Nagy, Schäfer und Kleinheisler unermüdliche Arbeitstiere, hinten hat Botka gegen Mbappe ein tolles Spiel abgeliefert, Orban hat seine Fähigkeiten schon in der Bundesliga und Champions League unter Beweis gestellt und Torwart Gulacsi ist natürlich auch ein ganz wichtiger Faktor."
Das DFB-Team sieht sich am Mittwochabend in München also mit einer giftigen, geschlossenen Einheit konfrontiert. Welche Marschrichtung Bundestrainer Joachim Löw seiner Mannschaft an die Hand geben sollte, damit Serge Gnabry, Kai Havertz und Co. nicht ein ähnliches Schicksal wie die Franzosen ereilt, ist laut Boris offensichtlich.
"Wenn Deutschland immer wieder auf den Ball tritt, langsam spielt und nicht den Weg nach vorne sucht, wird es schwierig. Die Ungarn sind bestens geschult, wenn es ums Verschieben geht", prophezeit der gebürtige Bottroper.
"Die sind imstande, alles abzuräumen"
Boris weiter: "Außerdem dürften sich Bälle hinter die Kette als kompliziert gestalten, eben weil Ungarn so tief steht und Gulacsi sehr gut mitspielt. Mit hohen Bällen in den Strafraum dürfte ebenfalls nicht viel zu holen sein, wenn Orban, Attila Szalai und Botka sich postiert haben. Die sind imstande, alles abzuräumen." Rossi stelle seine Schützlinge "gegnerorientiert" auf, die Vorgabe laute klar: "Gezielt einzelne Spieler aus dem Spiel zu nehmen."
Doll ist sich indes sicher, dass sich Ungarn in München in einer noch größeren Underdog-Rolle wiederfindet als in den ersten beiden Partien. "Die Jungs sind in Budapest auch vom Publikum getragen worden, da waren über 60.000 Fans, die die Mannschaft angepeitscht haben. Das fällt in München weg, es sind auch keine 35 Grad mehr."
Die Abstinenz der Anhänger und die etwas gesunkenen Temperaturen kämen "der deutschen Mannschaft entgegen. Ich glaube nicht, dass Deutschland sich das Achtelfinale noch nehmen lässt, obwohl die Ungarn natürlich vom Weiterkommen träumen."
Trotz seines Optimismus bezüglich eines deutschen Sieges warnt Doll: "Bei Ungarn ist etwas zusammengewachsen. Die schlägst du nicht mehr im Vorbeigehen. Diese Zeiten sind vorbei, das geht nicht mehr."