Fußball-Kolumne: Welcher Bundestrainer setzt sich durch - Mr. Jogi oder Doktor Löw?

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Die Bewertung von Joachim Löws Amtszeit als Bundestrainer hängt entscheidend am Abschneiden bei seinem letzten Turnier. Maßgeblich wird sein, ob er erneut an sich selbst scheitern wird oder sich noch einmal als Erfolgscoach früherer Zeiten präsentieren wird. Die Fußball-Kolumne.

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Bei manchem langjährigen Beobachter sind dieser Tage 15 Jahre zurückliegende Erinnerungen wieder hochgekommen.

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Damals bereitete sich der WM-Gastgeber Deutschland in Genf weit entfernt von der heimischen Euphorie auf die WM im eigenen Land vor und wusste ähnlich wie heute kurz vor dem Turnier nicht, wo man im Vergleich mit den Top-Nationen stand.

DFB-Team: Wackelige Abwehr damals wie heute das Problem

Ein Problem damals wie jetzt war die wackelige Abwehr. 2006 arbeitete Jogi Löw als Assistent von Jürgen Klinsmann beinahe täglich an der Abstimmung der Defensive. Legendär seine lautstarken Ansagen und beinahe wütenden Interaktionen bei einer Einheit vor den staunenden Journalisten im Stade de Geneve.

Danach hielt Löw eine seiner ersten Grundsatzreden, denen später noch unzählige folgen sollten. Seine Mission war nicht weniger als die Modernisierung des antiquierten Teutonen-Fußballs.

Jogi Löw: "Zurück zu deutschen Tugenden ist der falsche Ansatz"

"Es ist der falsche Ansatz zu sagen, wir müssen zurück zu den alten deutschen Tugenden laufen, rennen und kämpfen", sagte Löw. "Das sind die Grundlagen, um zu überleben. Das beherrscht jede kleine Nation. Aber wer rechnen kann, wird noch lange kein Mathematikprofessor."

Löw selbst sah sich damals vielleicht noch nicht als Professor, aber mindestens als Fußball-Lehrer auf "högschdem Niveau". Daran hat sich nichts geändert, das zeigt sein anhaltendes und meist sehr informatives Dozieren vor Journalisten ebenso wie vor Spielern, wenn er einmal in Fahrt kommt und ihm das Thema wichtig ist.

So konnte man als Zaungast im Trainingslager in Seefeld sehen, wie der Bundestrainer immer wieder minutenlang die Einheiten für ausführliche Erklärungen unterbrach. Es sei wieder "sehr viel Basisarbeit nötig", hat Löw dieser Tage gesagt. Und wie schon zu Beginn seiner nun endenden Amtszeit beim DFB ist die Defensive das Sorgenkind.

Jogi Löws Bewertung als Bundestrainer hängt am Abschneiden bei der EM 2021.
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Jogi Löws Bewertung als Bundestrainer hängt am Abschneiden bei der EM 2021.

DFB-Team: 16 Gegentore in acht Länderspielen 2020

In den acht Länderspielen 2020 musste die Nationalelf unglaubliche 16 Gegentore hinnehmen, vermeintliche Stammkräfte wie Niklas Süle oder Antonio Rüdiger machten teilweise anfängerhafte Fehler. Daher probierte Löw in den fünf Länderspielen vor der EM-Nominierung vier verschieden besetzte Viererketten aus, um nun wohl doch wieder auf eine Dreierkette zurückzuwechseln.

Es ist keine gewagte Prognose, dass diese taktische Entscheidung Löw massiv vorgeworfen werden wird, wenn die Mannschaft die "Todesgruppe" mit Weltmeister Frankreich, Europameister Portugal und Ungarn nicht überstehen sollte. Denn das öffentliche Vertrauen in den Bundestrainer ist nach den Rückschlägen der vergangenen Monate rapide gesunken, was ja letztlich auch der Grund für seinen vorzeitigen Abschied nach diesem Turnier war.

Jogi Löw: Selbst nach WM-Sieg nicht unumstritten

Unumstritten war Löw ohnehin nie in seiner Amtszeit, selbst nach dem WM-Triumph 2014 nicht. Dabei ist der 61-Jährige einer von nur vier deutschen Weltmeister-Coaches und statistisch einer der erfolgreichsten Bundestrainer der Verbandsgeschichte.

Aber nach Ansicht der Kritiker wurde der Triumph in Brasilien nicht wegen, sondern trotz Löw gewonnen. Zudem habe er weitere Titel teilweise leichtfertig durch Selbstüberschätzung und fachliche Fehleinschätzungen verschenkt.

DFB-Team: EM-Titel wurde 2012 und 2016 unnötig verspielt

Tatsächlich war die deutsche Elf schon bei der Europameisterschaft 2012 mindestens auf Augenhöhe mit dem späteren Sieger Spanien, doch Löw wechselte seine Startelf ungeachtet der Erfolge so häufig durch, dass Italiens Nationaltrainer Cesare Prandelli die fehlenden Automatismen im Halbfinale und den eklatanten Fehlgriff, Toni Kroos gegen Andrea Pirlo zu stellen, beim 2:0 böse bestrafte.

Vier Jahre später bei der bislang letzten EM waren Löws Fehler nicht so gravierend, aber am Ende musste er doch massive Kritik ertragen, auch von Experten wie Ralf Rangnick. Denn obwohl die DFB-Elf die klar stärkste Mannschaft des Turniers stellte, war aufgrund von Ballbesitzfixierung, individueller Patzer und offensiver Harmlosigkeit erneut im Halbfinale Schluss.

Jogi Löw: Letztes Turnier entscheidet über Bewertung der Amtszeit

Dagegen würde das Erreichen der Finalrunde der letzten vier Teams in London nach der historischen WM-Blamage 2018 diesmal als Erfolg bewertet. Nach den jüngsten Pleiten beim 0:6 in Spanien und dem 1:2 gegen Nordmazedonien hat Löw so viel Kredit eingebüßt, dass nun sein letztes Turnier über die öffentliche Bewertung der gesamten Amtszeit entscheidet.

Die entscheidende Frage wird dabei sein, welcher Bundestrainer sich am Ende durchsetzen wird: Der von sich selbst überzeugte, leicht abgehobene Mr. Jogi wie bei der EM 2012 und der WM 2018 oder der akribische und fokussierte Doktor Löw der WM 2010 und 2014.

Möglich scheint beides, selbst die größten Fachleute tun sich aufgrund der zahlreichen Unsicherheiten aktuell schwer mit einer Prognose. "Wir müssen uns auch hinter Frankreich nicht verstecken", sagte Rekordnationalspieler und Super-Experte Lothar Matthäus im Interview mit SPOX und Goal und hält einerseits den Halbfinal-Einzug für möglich, rechnet aber andererseits nur mit Platz drei in der Vorrundengruppe.

DFB-Kader unrund: Außen und vorne schwach, Überangebot in der Mitte

Maßgeblich wird also werden, ob Löw auf den letzten Metern noch einmal das bestmögliche aus seinem "unrunden" Team herausholen kann. Die Außenpositionen und die Sturmspitze sind unverändert die großen Problemzonen, dafür herrscht im Mittelfeld ein totales Überangebot an Spitzenkickern.

Daher dürften Löws Taktik und vor allem Aufstellung der Schlüssel werden. Entscheidet er sich dafür, die beste Startelf positionsgetreu einzusetzen oder die besten elf Spieler bestmöglich auf dem Platz zu verteilen?

Aktuell sieht es eher nach dem letzteren Fall aus: Die Entscheidung für eine Dreierkette ist der fehlenden Defensivqualität der Außenspieler geschuldet, davor finden sich dann eigentlich nur noch Mittelfeldspieler. Daher muss Joshua Kimmich, obwohl er der einzige Sechser auf Topniveau ist, wohl nach rechts weichen, während ganz vorne ein echter Angreifer fehlen wird.

"Frankreich und Portugal sind typische Kontermannschaften, sie leben vom Gegenpressing", sagte Löw Anfang vergangenen Jahres in einem Interview mit SPOX und Goal.

Großes Risiko ohne echten Sechser

Umso größer ist das Risiko, auf Kimmich als Wellenbrecher vor der Abwehr zu verzichten und stattdessen die Doppel-6 mit Ilkay Gündogan und Toni Kroos zu besetzen. Denn das ging beim 0:6 in Spanien komplett nach hinten los, als die DFB-Elf nach Ballverlust ein ums andere Mal überrannt wurde.

Und auch Pep Guardiola erlebte im Champions-League-Finale mit ManCity gegen Chelsea durch den Verzicht auf einen echten defensiven Mittelfeldspieler und die Zurücksetzung des torgfährlichen Gündogan zuletzt Schiffbruch.

Man darf daher gespannt sein, ob der bei den jüngsten Rückschlägen oft teilnahmslos wirkende Mr. Jogi einem möglichen Scheitern zuschauen wird oder dann der pragmatische Doktor Löw eine Art Wiedergeburt erlebt.

DFB-Team: Auch bei WM 2014 erst spät Bestbesetzung gefunden

So wie bei seinem Meisterstück, dem WM-Erfolg, als er erst im Laufe des Turniers die Bestbesetzung fand mit den anfänglichen Edelreservisten Bastian Schweinsteiger, Sami Khedira und Miroslav Klose in der Startelf und der Rückbeorderung von Kapitän Philipp Lahm aus dem Mittelfeld auf die rechte Abwehrseite.

Auch in Brasilien hätte die spätere Erfolgsstory mit etwas Pech schon in der Vorrunde oder im Achtelfinale gegen Algerien enden können. Wie auch immer nun diese letzte Dienstreise des Freiburgers enden wird, danach wird er wie nach allen bisherigen sieben Turnieren erstmal in seine südbadische Heimat abtauchen und alles in Ruhe verarbeiten.

Die gute Nachricht für Löw: Hier kennt man ihn, hier lässt man ihn in Ruhe - egal, ob er als gescheiterter Mr. Jogi oder als triumphaler Doktor Löw zurückkehren wird.

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