"Der Pokal hat mich verfolgt"

Von Interview: Christoph Köckeis
Der Grund für Janckers schlaflose Nächte: Sein Fallrückzieher an die Latte im CL-Finale '99
© getty

1999 war er der Unsterblichkeit nahe. Doch ein Fallrückzieher und Manchester United fügten ihm die wohl größten Qualen der Final-Historie zu. Zwei Jahre danach schloss er mit der Königsklasse Frieden, krönte die Karriere. Vor dem Clash zwischen Bayern München und Borussia Dortmund erinnert sich "Fußballgott" Carsten Jancker: An den Sekundentod von Camp Nou, Schlafstörungen und den surrealen Triumphzug. Plus: Bei SPOX spricht der 38-Jährige über bayrischen Sinneswandel und Impulse von damals.

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SPOX: Herr Jancker, nach 120 dramatischen Minuten und zehn Elfmetern stürmten Sie im Finale 2001 völlig losgelöst auf Oliver Kahn zu. Der schönste Sprint Ihrer Laufbahn?

Carsten Jancker: Über den Sprint habe ich überhaupt nicht nachgedacht. Wichtig war einfach nur, dass wir nach der bitteren Niederlage von '99 endlich diesen Pott eroberten.

SPOX: Sie waren als erster Gratulant bei Kahn, der damals zum Titan wurde. Usain Bolt wäre stolz gewesen...

Jancker: (lacht) Ich war damals nicht langsam. Die Kollegen haben wohl nicht damit gerechnet, dass Oli den dritten Elfmeter hält. Deshalb lief ich etwas früher los. Aber es ging nicht darum, wer Erster oder Letzter war. Wir hatten diesen Erfolg gemeinsam errungen und ließen unseren Emotionen freien Lauf.

SPOX: Dabei begann es denkbar ungünstig: Schon nach drei Minuten bescherte Gaizka Mendieta dem FC Valencia einen Traumstart. Mehmet Scholl scheiterte vom Punkt. Wie unterdrückt man die Angst, abermals zu versagen?

Jancker: Wir hatten keine Angst, sonst wäre es schon vorbei gewesen, verschwendeten keine Gedanken an 1999. Wir gerieten 0:1 in Rückstand, über die Berechtigung des Elfmeters lässt sich diskutieren. Das war ein Schock für uns. Gleichwohl waren wir derart von uns überzeugt, mental unglaublich stark. Wir machten dort weiter, wo wir aufhörten, übernahmen für 120 Minuten das Kommando. Im Elfmeterschießen liegen Glück und Pech sehr dicht beisammen. Wir hatte es uns einfach verdient.

SPOX: Ottmar Hitzfeld reagierte früh, Ihre Zeit war gekommen: Sie ersetzten Außenverteidiger Willy Sagnol nach der Pause, ein klares Zeichen. Welche Worte wurden Ihnen mitgegeben?

Jancker: Er meinte, wir können das Finale drehen. Ich solle mich voll auf die Aufgabe konzentrieren, in die Richtung ging seine Vorgabe. Du musst als Trainer gar nicht viel erzählen. Ich war 1999 dabei, stand vor der Erfüllung meines Traums. Das verleiht dir ausreichend Motivation.

SPOX: Sie erfüllten Ihre Mission, sorgten für Unruhe neben Giovane Elber. Und holten den Strafstoß zum Ausgleich durch Stefan Effenberg heraus...

Jancker: Die persönliche Zufriedenheit war komplett unbedeutend. 1999 erlebte die gleiche Mannschaft eine der schlimmsten Niederlagen im Sport. Im Jahr danach standen wir im Halbfinale, scheiterten an Real Madrid. Das hat uns getrieben. So wie im Camp Nou gegen Manchester United verliert man nicht. Eine solch dramatische Entscheidung wird es nicht oft geben. Damals waren wir besser, drängten auf das zweite oder dritte Tor, doch erzielten es nicht. Auch für Außenstehende war es hart. Jeder wusste: Mit 2001 ist diese Mannschaft fertig.

SPOX: Was meinen Sie damit?

Jancker: Oli, Effe, Scholli, Giovane, vielleicht ich - alle hatten ihren Höhepunkt erreicht. Die Möglichkeit, es in der Besetzung zu schaffen, war vorhanden. Nach 2001 das Finale zu realisieren, wäre schwer geworden.

SPOX: Schweißte die Tragödie von 1999 zusammen?

Jancker: Das Gefüge war intakt, obwohl wir gemeinsam trainierten, reisten und im Drei-Tages-Rhythmus ran mussten. Ich verbrachte wahrscheinlich mehr Zeit mit den Mitspielern als mit meiner Frau. Die Stimmung passte. Ich denke, das würde jeder aus diesem Jahrgang bestätigen. Und jeder zog seine Lehren.

SPOX: Inwiefern?

Jancker: Es hört sich gut an, wenn man sagt, man lernt aus Niederlagen. Womöglich sind es dann weniger die Lehren, als vielmehr der Antrieb. Der Pott war unser Impuls, er verfolgte uns. Ich bin einfach froh, ihn zu haben. Nach 1999 waren wir betrübt, am Boden zerstört. Du willst ins Finale und siegen, weil es das Größte ist.

SPOX: Und plötzlich streckt man die begehrteste Trophäe im Klubfußball gen Nachthimmel. Wie und wann begriffen Sie, was in Mailand geschehen war?

Jancker: Das hat gedauert. Man freut sich, wartet auf die Pokalübergabe, holt sich die Medaille ab. Um es zu verstehen, das 99er-Trauma zu vergessen, benötigt man Zeit. Irgendwann in der Nacht, würde ich sagen, war es soweit. Danach brauchten wir unsere Reserven auf (lacht).

SPOX: Für den Feiermarathon: München befand sich im Ausnahmezustand. Eine Million Fans bereiteten tags darauf einen würdigen Empfang. Ein emotionales Highlight?

Jancker: Genial! Mit dem Autokorso durch die jubelnde Menge bis zum Marienplatz zu fahren - das war ein ganz besonderes Erlebnis. Wir genossen die Minuten auf dem Rathaus-Balkon. Ein kurzer Zwischenstopp zu Hause folgte. Abends ging es ins Käfer, danach noch weiter. Ehe der Abflug nach New York anstand.

SPOX: Sie durften dem Ablösespiel für Lothar Matthäus bei den Metro Stars nicht beiwohnen...

Jancker: Ich suchte meinen Reisepass vergeblich.

SPOX: Ob der Party-Strapazen?

Jancker: Kann man sagen. An dem Morgen war es schwierig für mich, ihn zu finden. Die Leute unterstellten mir zwar, ich wollte nicht mit nach New York, da wir später zum DFB-Team mussten. Es standen die WM-Qualifikation gegen Finnland und Albanien auf dem Programm. Aber es war wirklich so. Der Termin wurde vereinbart, die Nationalspieler mussten sich damit begnügen. Trotzdem muss ich gestehen: Ich war froh, als ich wieder im Bett lag.

Seite 2: Jancker über schlaflose Nächte und den Vergleich Mandzukic/Lewandowski