Unter den Fittichen der größten Lehrmeister

Joshua Kimmich geht seinen Weg seit Sommer 2015 für Bayern München
© Nike Sportswear / El-Tounsy

Der VfB Stuttgart traute ihm einst den Sprung zu den Amateuren nicht zu, drei Jahre später ist er Shootingstar im DFB-Team und Hoffnungsträger beim FC Bayern: Joshua Kimmich ist einer der heißesten Spieler des Jahres. Sein Weg bislang verlief alles andere als stringent, vom Spielsystem und der Position. Er lernt jedoch von den größten Lehrmeistern. Bei all dem Hype ist die Zukunft Kimmichs dennoch ungewiss.

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"Wenn Philipp in zwei Jahren auch beim FC Bayern aufhören sollte, müssen wir uns keine Sorgen auf seiner Position machen. Dann wird Joshua der neue Rechtsverteidiger." Eine Aussage über einen 21-Jährigen, die sitzt. Vor allem wenn sie nicht irgendwer tätigt, sondern Hermann Gerland, Co-Trainer beim FC Bayern.

Joshua Kimmich hat in seinem ersten Jahr in der bayrischen Landeshauptstadt alle überrascht. Spätestens seit diesem Sommer ist um den Youngster deshalb endgültig ein Hype ausgebrochen. Im Laufe der EM ist er zur festen Größe im DFB-Team gereift - und das hinten rechts, auf einer der größten Problempositionen im deutschen Fußball.

Zurück im Verein, in dem die öffentliche Aufmerksamkeit begann, ebbte der Hype zuletzt auch nicht ab - im Gegenteil: Mit vier Pflichtspieltoren innerhalb einer Woche spielte sich Kimmich mehr denn je ins Rampenlicht.

Von Null auf Hundert in Rekordzeit - noch vor wenigen Jahren hatten nur Experten Kimmich auf dem Schirm, derzeit ist er einer der interessantesten Spieler in Deutschland.

Skeptischer VfB

Eine Entwicklung, die ihm zumindest der VfB Stuttgart einst nicht zutraute. Im Alter von zwölf Jahren war Kimmich zu den Schwaben gewechselt, hatte dort alle Jugendabteilungen durchlaufen. 2013 fehlte ihm dann jedoch die Perspektive.

Nach einem Jahr bei den A-Junioren hatte er die Ambition, mit der Zweitvertretung des VfB im Erwachsenenbereich zumindest zu trainieren. "Das wollten sie aber nicht. Sie waren der Meinung, dass ich damals körperlich noch nicht reif genug war", erinnert sich Kimmich gegenüber SPOX. Stattdessen sollte er ein weiteres Jahr gegen einen jüngeren Jahrgang in der A-Jugend spielen.

Also entschied sich der damals 18-Jährige zu einem Wechsel in die 3. Liga: "Als Fußballer war für mich wichtig, einen Verein zu haben, der auf mich setzt und in den nächsten ein, zwei Jahren mit mir plant. RB Leipzig hat mir diese Möglichkeit aufgezeigt."

Stammplatz, Aufstieg, Wechsel

Dass Leipzig kein normaler Drittligist war, war klar. Die Möglichkeit, mit den Bullen einerseits zu Spielpraxis zu kommen, andererseits wohl nicht allzu lange in den Niederungen des Fußballs zu kicken, überzeugte den Youngster.

Beide Prophezeiungen erfüllten sich: Schon in der ersten Saison stieg er in die 2. Liga auf, in zwei Jahren kam er auf 50 Startelfeinsätze.

Zwar verlief die Entwicklung sehr zufriedenstellend. Die Nachricht am 2. Januar 2015 kam dennoch überraschend: Der FC Bayern München verpflichtet Joshua Kimmich im Sommer für 8,5 Millionen Euro.

Wie bitte? Der FC Bayern? Die Verwunderung über diese Meldung war groß. Kimmich wusste das einzuordnen: "Klar bekommt man mit, was das Umfeld von so einem Wechsel hält, was geschrieben wird, was die Fans dazu sagen. Da gab es nicht viele, die auf mich gezählt haben."

Dennoch wollte er sich das nicht entgehen lassen: "Selbst wenn es schiefgegangen wäre, hätte ich mir da nie einen Vorwurf machen können", sagt Kimmich.

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Rangnick vs. Guardiola

Der Wechsel zu den Bayern bedeutete nicht nur, einen Zweitligisten für einen Champions-League-Favoriten einzutauschen. Auch die Spielphilosophien hätten unterschiedlicher kaum sein können: Der Stil, den Rangnick als sportlicher Leiter in Leipzig implementierte, hat mit dem Ballbesitz-Fußball a la Guardiola nichts zu tun. Auf der einen Seite Pressing, Ballgewinne, schnelles Umschalten. Auf der anderen Seite Ballkontakte, Passspiel, Ideensuche gegen tief stehende Gegner.

So früh in seiner Karriere schon diese zwei Extreme mitgemacht zu haben, veränderte Kimmichs Blick auf das Spiel. Es helfe ihm ungemein, auch eine andere Spielphilosophie zu kennen, um die Gegner einschätzen zu können, sagt er.

Zumal Pep Guardiola ihn an die Hand nahm, förderte und forderte: "Speziell am Anfang hat er mich nach dem Training oder währenddessen häufig zur Seite genommen, wenn ihm Kleinigkeiten aufgefallen sind. Er war nie einer, der sagt: 'Das machst du richtig gut, da hast du dich stark bewegt.' Er war immer der, der gesagt hat: 'Das geht noch besser, da hast du noch Potential.'"

"Das war Pep"

Worte, bei denen Fußballfans vor allem an eine Szene zurückdenken: Nach dem 0:0 gegen Borussia Dortmund in der vergangenen Rückrunde stürmte Guardiola direkt nach Abpfiff auf Kimmich zu und erklärte ihm wild gestikulierend, was er kurz zuvor falsch gemacht hatte. "Das war einfach Pep Guardiola", erinnert sich Kimmich: "Ihm ist etwas aufgefallen, dann musste er das auch direkt rüberbringen. Er konnte da nicht einen Tag warten. Es ist ja auch am besten, wenn du diese Situation hast und er dich sofort verbessert."

Dass man Aussagen wie "Kimmich ist wie mein Sohn" bei Guardiola kritisch einordnen muss, ist bekannt. Ein Blick auf die Zahlen unterstreicht jedoch Peps Status als Kimmich-Förderer: Insgesamt machte der Youngster im FCB-Starensemble in seiner ersten Saison 36 Pflichtspiele, 25 davon von Anfang an.

Ungewohnte Position

Verwunderlich war dabei vor allem, dass der Katalane Kimmich auf einer ungewohnten Position einsetzte: "Hätte mir jemand gesagt, alle Innenverteidiger verletzen sich, hätte ich nicht unbedingt gedacht, dass das meine Chance ist. Aber er hat sich getraut, mich da hinten reinzustellen."

Sonderlich viel Erfahrung hatte Kimmich auf dieser Position nicht: "Ich habe mal früher Innenverteidiger gespielt, aber es war danach kein Thema mehr. Einfach wegen meines Körperbaus, weil ich kein Riese bin und auch nicht der Breiteste."

Gänzlich frei von Fehlern war Kimmich in der Abwehrzentrale nicht. Vor allem nach der Partie gegen Juventus, als er an der Entstehung von zwei Gegentoren beteiligt war, häufte sich Kritik. Guardiola blieb standhaft und baute weiter auf Kimmich. Dieser stabilisierte sich, gewöhnte sich an seine neue Rolle und brachte konstante Leistungen - die ihn im Sommer sogar in den EM-Kader spülten.

Wie es in Frankreich lief, ist bekannt. Im Laufe des Turniers spielte er sich im DFB-Team fest. Wieder auf einer anderen Position. Diesmal als Rechtsverteidiger.

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Naheliegende Vergleiche

Qualitäten im zentralen Mittelfeld, aber auch das Potential, die rechte Außenbahn zu beackern, ins Eins-zu-eins zu gehen und Flanken zu schlagen - zugegebenermaßen lagen die Vergleiche zu Philipp Lahm auf der Hand. Gerland war nur einer von vielen, die ihn öffentlich aussprachen.

Kimmich selbst scheut diesen Vergleich: "Ich habe jetzt sieben Länderspiele, davon fünf als Rechtsverteidiger. Bei Bayern habe ich das dreimal gespielt. Ich habe also nicht mal zehn Spiele dort gemacht und Philipp ist der beste Außenverteidiger der Welt. Das ist nicht zu vergleichen."

Fakt ist jedoch, dass Lahm ein großer Einflussfaktor für Kimmich ist. Als unbeschriebenes Blatt auf dieser Position konnte er sich aus erster Hand beim größten aller Lehrmeister etwas abschauen: "Philipp macht gar keine Fehler. Er findet immer die richtige Anspielstation, hat ein super Auge für seine Mitspieler. Er weiß genau, wann er gehen muss, wann er bleiben muss. Seine Flanken sind sehr, sehr gut", sagt er über den Weltmeister.

In der Lehre

Auf seiner eigentlichen Position im defensiven Mittelfeld hat er ebenfalls von zwei Granden gelernt: Pep Guardiola, einst selbst Weltklasse-Sechser, und Xabi Alonso. "Bei Xabi ist beeindruckend, dass er immer weiß, wo seine Mitspieler und die Gegner stehen. Dazu hat er ein überragendes Passspiel, super Diagonalbälle, seine Standards sind top. Er hat die nötige Erfahrung und Ruhe am Ball."

Den Vorteil dieser hochwertigen Ausbilder hat nicht jeder Lehrling. Wie ein solcher wirkt Kimmich bislang in seiner Karriere: Er wird in die verschiedenen Systeme eingeführt, darf auf jeder Position mal reinschnuppern - und im Idealfall entwickelt er im Laufe dieses Prozesses seine Fähigkeiten weiter.

Dass er von Alonso bereits einiges gelernt hat, zeigte er zuletzt beim Champions-League-Spiel gegen den FK Rostov, als er die meisten Ballaktionen (135) und die meisten Pässe (110) auf dem Konto hatte. Seine zwei Tore waren da nur die Kirsche auf der Sahne.

Joshua Kimmichs Passspiel in der CL gegen Rostov

Neuer Trainer, neues Spiel

Dennoch bleibt Kimmich bescheiden, vom aktuellen Hype will er sich nicht blenden lassen. Speziell, da sein Förderer Guardiola den Verein verlassen hat und es unter Carlo Ancelotti wieder bei Null losgeht: "Wenn ein neuer Trainer kommt, musst du dich neu beweisen. Aber das ist im Fußball Woche für Woche so. Es ist schön, wenn man mal zwei Tore macht, aber in zwei Wochen interessiert das keinen mehr."

Ohnehin bleibt abzuwarten, welche Rolle Kimmich bei Bayern langfristig spielen wird. Mit Renato Sanches wurde das zentrale Mittelfeld im Sommer noch einmal prominent verstärkt. Kimmich sieht die Konkurrenzsituation pragmatisch: "Das ist Bayern München. Es ist doch völlig klar, dass der Verein da nicht kommt und sagt: 'Die Position blocken wir frei für den Kimmich.'"

Vielleicht muss ja gar keine spezifische Position freigeblockt werden. Auch unter Ancelotti geht das Azubi-Muster nämlich weiter: Als sich Mats Hummels für das Ingolstadt-Spiel am Samstag krank meldete, beorderte der Italiener Kimmich wieder in die Innenverteidigung.

Eine Notlösung, schließlich hatte Kimmich zuvor unter Ancelotti ausschließlich im Mittelfeld trainiert. Die Polyvalenz ist eine seiner zentralen Vorzüge. Sie kann jedoch für Kimmichs Entwicklung auf Dauer Fluch und Segen sein: Zwar wird er so immer auf Einsätze kommen, langfristig ist eine feste Position aber sicher das Ziel.

Möglich, dass diese in zwei Jahren gefunden wird. Wenn auch nicht auf Kimmichs Spezialgebiet. Doch er hat ja noch Zeit, um vom größten Lehrmeister zu lernen.

Joshua Kimmich im Steckbrief

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