Relegation gegen Werder Bremen: Heidenheims Stefan Schimmer, der Underdog im Underdog-Klub

Stefan Schimmer, hier li. im Spiel gegen Nürnbergs Georg Margreitter, ist Heidenheims Joker Nummer 1.
© imago images/Zink

Vor vier Jahren spielte Stefan Schimmer noch für den FC Gundelfingen in der bayerischen Landesliga Südwest, nun steht Heidenheims Stürmer mit 26 Jahren an der Schwelle zur Bundesliga. Vor den Relegationsduellen gegen Werder Bremen spricht sein Entdecker über Heidenheims Bomber der letzten Viertelstunde.

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Die Erfolgsgeschichte des 1. FC Heidenheim, das in der Relegation zur Bundesliga diesen Donnerstag (20.15 Uhr im Liveticker und live auf DAZN) und kommenden Montag auf Werder Bremen trifft, lässt sich natürlich über Heidenheims magisches Dreieck erzählen.

Holger Sanwald, Frank Schmidt und Marc Schnatterer verkörperten den Underdog-Klub aus dem östlichsten Ostwürttemberg schon, als er nicht mal in Ostwürttemberg die Nummer 1 war.

Sanwald, der ewige Vorstandsvorsitzende, der die Hälfte seiner 52 Lebensjahre hauptsächlich als oberster Chef den Fußballern von der Brenz gewidmet hat.

Schmidt (46), der ewige Trainer. Einen Steinwurf von der Heidenheimer Voith-Arena geboren, seit 2003 ununterbrochen im Verein, seit 2007 ununterbrochen Trainer.

Schnatterer (34), der ewige Kapitän, seit 2008 im Klub und wohl der beste Fußballer Deutschlands, der (noch) nie in der Bundesliga gespielt hat.

Stefan Schimmer: 24 Einwechslungen, sechs Tore

Die Erfolgsgeschichte des 1. FC Heidenheim kann man aber auch über Stefan Schimmer erzählen, den wohl größten Underdog im Underdog-Klub.

2016 studierte Schimmer in Kempten Ingenieurswesen, wog ein paar Kilo mehr und stürmte nebenher für den FC Gundelfingen in der bayerischen Landesliga Südwest. Sechste Liga. 30 Kilometer liegen zwischen Gundelfingen und Heidenheim, einmal nur kurz über die bayerisch-württembergische Grenze, doch fußballerisch eine andere Welt.

Nun steht der Stürmer, der nie ein Nachwuchsleistungszentrum von innen gesehen hat, an der Schwelle zur Bundesliga. Sechs Tore erzielte der 26-Jährige in seiner ersten Zweitligasaison in 24 Spielen für Heidenheim. Alle als Einwechselspieler, drei davon nach der Coronapause. Ein typischer Schimmer-Einsatz sieht so aus: 74. Minute eingewechselt, 84. Minute der Treffer zum 2:2 gegen Nürnberg (5. Spieltag). Oder auch so: In der 53. Minute beim Stand von 0:1 gegen den HSV am vorletzten Spieltag eingewechselt, in der fünften Minute der Nachspielzeit quergelegt zu Konstantin Kerschbaumers Siegtreffer. Es war der Türöffner zur Relegation.

"Symptomatisch war für mich heute Stefan Schimmer, der kurz davor eine Hundertprozentige vergibt und 40 Sekunden später wieder voll da ist, die Übersicht behält und den Ball quer legt. Es war einfach unfassbar, dass wir nicht aufgegeben haben", lobte Trainer Frank Schmidt.

Schimmer erinnert an einen Stürmer aus den 1980ern

Schimmer ist bei Heidenheim der Bomber für die letzten 15 Minuten. Einer, der sofort da ist, der seine technischen Schwächen mit Leidenschaft und Durchsetzungsvermögen kompensiert und mit seiner Energie in der Lage ist, die anderen mitzureißen.

"Der Schimme hat eine Gabe, die man nicht lernen kann: Er steht vor dem Tor unbewusst immer richtig, hat dazu einen richtigen Abschluss, die richtige Schnelligkeit im 16er, ist sehr robust. Er erinnert mich an einen Stürmer aus den 1980ern, hat alles, was einen richtigen Torjäger ausmacht. Und richtige Torjäger sind auch in der Bundesliga rar", sagt Stefan Anderl zu SPOX und Goal und kommt zu dem Schluss: "Die Bundesliga traue ich ihm schon lange zu."

Das würden angesichts des Karrierewegs von Stefan Schimmer sicher nicht allzu viele behaupten. Jedoch dürfte das auch kaum einer so gut beurteilen können wie Stefan Anderl. Der 54-Jährige, im Hauptberuf Berufsschullehrer für Sport und Mathematik, ist Schimmers Entdecker.

Schimmer kam zu Heidenheim nach dem Rekordtransfer von Robert Glatzel

Bei den B-Junioren des FC Gundelfingen fiel dem damaligen Trainer der Landesligamannschaft ein recht lauffauler, aber umso passstärkerer offensiver Mittelfeldspieler mit ganz ordentlichem Spielverständnis auf. Er ließ den 16-Jährigen bei der ersten Mannschaft mittrainieren, brachte ihm das Laufen mit und gegen den Ball bei und stellte ihn bald in den Sturm.

"Er war zu Beginn ein Individualist, hat aber peu a peu gelernt, nach hinten zu spielen und wie man gegen den Ball spielt", sagt Anderl. Offenbar recht erfolgreich. Als Schimmer letzten August in Heidenheim vorgestellt wurde, sagte Trainer Schmidt: "Er ist kein Egoist, sieht auch mal den besser postierten Mitspieler, das gefällt mir."

Heidenheim hatte da gerade für sechs Millionen Euro Stürmer Robert Glatzel an Cardiff City verkauft. Nie war ein Heidenheimer Spieler mehr wert als Glatzel. Schon länger war kein Heidenheimer Profi aus solchen fußballerischen Niederungen aufgestiegen wie Stefan Schimmer.

Stefan Schimmer bei seinem Treffer zum 4:1 des 1. FC Heidenheim gegen Jahn Regensburg.
© imago images/Eibner
Stefan Schimmer bei seinem Treffer zum 4:1 des 1. FC Heidenheim gegen Jahn Regensburg.

Stefan Schimmer spielte nie in einem Nachwuchsleistungszentrum

Schimmer habe irgendwie "immer schon dieses Profi-Gen gehabt", sagt Anderl, "ich kann mich in all den Jahren an keine zwei Trainingseinheiten erinnern, die er verpasst hat. Man kann sich total auf ihn verlassen. Und er ist auch mal anstrengend, unglaublich konsequent, hat seinen eigenen Kopf." Wie ihn gute Stürmer oft haben.

Doch wie konnte Schimmers Talent vor dem Tor, wie konnte sein Profigen so lange unentdeckt bleiben? Wieso landete der leidenschaftliche Stürmer nie in den Notizzetteln der Bundesligascouts? "Für die Landesliga interessiert sich keiner, auch Regionalligisten scouten in der Regel nicht in der Landesliga", sagt Anderl. "Wenn ich ihn damals nicht nach Memmingen mitgenommen hätte, würde er heute noch in der Bayernliga spielen." Beim FC Gundelfingen flog Schimmer schlicht unter dem Radar.

Dass Anderl seinen Lieblingsstürmer 2016 mit nach Memmingen in die Regionalliga Bayern mitnehmen konnte, lag auch an Schimmers 18 Toren in seiner letzten Saison für Gundelfingen. Die verhalfen dem Heimatklub mit zum Aufstieg in die Bayernliga - und dem Coach zur neuen Aufgabe in der obersten Amateurliga.

Schimmer: Hachings Präsident Manfred Schwabl schenkte ihm eine Lederhose

Dort wurde aus "Schimme" der "Bomber": In 34 Regionalligaspielen traf er 26-mal. Bald meldeten sich Präsident Manfred Schwabl und Trainer Claus Schromm von der SpVgg Unterhaching, die ähnliche Werte vertreten wie die Protagonisten des 1. FC Heidenheim. Anderl brachte Schimmer mit einem Spielerberater zusammen, im Sommer 2017 war der Ingenieursstudent plötzlich Profi.

Zum ersten Mal stieß Schimmer an seine Grenzen, plötzlich schien der unbedingte Wille, durch die Wand gehen zu wollen, nicht mehr auszureichen. Es machte sich bemerkbar, dass die meisten seiner Mannschaftskollegen schon in der Jugend sechs, sieben Mal pro Woche trainiert hatten, ganz anders geschult waren, ganz andere körperliche Voraussetzungen mitbrachten. "In technischen Nuancen merkt man einfach, dass er nie in einem Nachwunchsleistungszentrum war. Ein gutes NLZ bringt den Spielern zum Beispiel Drehkopfbälle bei, da hat er Defizite", erklärt Anderl. Andererseits: "Vielleicht hätten sie ihm im NLZ auch dieses Durchsetzungsvermögen abtrainiert."

Stefan Schimmers Karrierestationen:

SaisonVereinLigaEinsätzeTore
2015/2016FC GundelfingenLandesliga Bayern Südwest3118
2016/2017FC MemmingenRegionalliga Bayern3426
2017/2018SpVgg UnterhachingDritte Liga294
2018/2019SpVgg UnterhachingDritte Liga3413
2019/20201. FC Heidenheim2. Bundesliga226

Drei, vier Monate brauchte Schimmerl in Unterhaching, um sich umzugewöhnen, um seinen Körper zu dem eines Profis zu machen. "Irgendwann haben mich Schwabl und Trainer Claus Schromm sogar angerufen, weil sie mit ihrem Latein am Ende waren. Doch dann ist der Groschen bei ihm gefallen. Plötzlich hat er einen Sixpack gehabt, war stabiler", sagt Anderl.

Vier Tore in 29 Spielen wurden es am Ende in seiner ersten Drittligasaison. In 23 Spielen wurde er eingewechselt. Zur nächsten Saisonvorbereitung präsentierte er sich drei Kilo leichter, Schimmer wurde Stammspieler, vor dem Oktoberfest 2018 schenkte ihm Schwabl eine neue Lederhose, weil die aus dem Vojahr schlackerte. Auf dem Platz waren seine 13 Tore und vier Vorlagen in 34 Spielen eine Ausbeute, die Heidenheim auf den Plan riefen.

Nun stehen die Kicker von der Ostalb an der Schwelle zur Bundesliga. Spätestens, wenn es in den Relegationsspielen gegen Bremen am Ende noch eng zugehen sollte, könnte noch einmal die Zeit kommen für Stefan Schimmer, Heidenheims Bomber für die letzte Viertelstunde.

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