Andries Jonker hat ein gutes Erinnerungsvermögen. Besonders, wenn schöne Erinnerungen geweckt werden, erzählt der Niederländer mit seiner launischen Stimme wie aus dem Guss.
"Es gibt eine lustige Geschichte mit Ibrahim Affelay, der jetzt beim FC Barcelona spielt", fängt Jonker an zu erzählen. "Er kam zu mir, zur holländischen U 15. Er war 1,30 Meter groß und wir hatten kein Trikot für ihn. Einige sagten, er sei zu klein."
Was also tun? Jonker wollte den Bambino-Techniker aus Eindhoven unbedingt spielen sehen: "Ich habe gesagt: Wir machen für ihn ein Trikot und ich gebe ihm die Nummer 10. Wir haben ihm mit Schuhbändern die Hose zugebunden, dann haben wir ihn spielen lassen." Und? "Er hat großartig gespielt."
Es ist die pure Glückseligkeit für einen Trainer wie Jonker, der seinen Job über die Ausbildung definiert, wenn er die Affelays dieser Welt entdeckt und ihnen den ersten Schubser für die große Karriere gibt. Wobei Jonker im Fall Affelay etwas klarstellt: "Ich habe ihn nicht entdeckt, ein Blinder konnte sehen, dass er ein guter Spieler wird."
Jonker weiß mit Talenten umzugehen, arbeitete jahrelang für den niederländischen Fußballverband KNVB, wo Top-Talente in Massen geformt und schließlich exportiert werden. Als langjähriger Begleiter Louis van Gaals war er ohnehin darauf getrimmt, junge Spieler zu entdecken und sie zu fördern.
Selbstredend, dass sich Jonker als ideale Lösung herauskristallisierte, als beim FC Bayern München zu Saisonbeginn ein Mann für die zweite Mannschaft gesucht wurde.
"Nicht unser Anspruch"
Abgestiegen in die Regionalliga, wurde die "Zweite", zusammengesetzt aus A-Jugendspielern und einigen Neuzugängen, Jonker anvertraut, doch der Erfolg - das steht nach der Hälfte aller Spiele fest - ist ausgeblieben. Der angestrebte Wiederaufstieg ist kein Thema mehr.
"Es kann nicht der Anspruch von Bayern München sein, mit einem zwölften Platz zufrieden zu sein", sagt Jonker. Doch die Bayern haben nicht nur ein tabellarisches Problem - und es ist längst auch nicht nur das Problem der 2. Mannschaft. "Es kann nicht sein, dass wir so dastehen, wie wir dastehen: 2. Mannschaft, A-Jugend, B-Jugend, C-Jugend - das ist nicht so, wie wir uns das vorstellen", sagt Bayern-Präsident Uli Hoeneß im Gespräch mit SPOX.
Der FC Bayern war jahrelang nicht nur der Krösus des Profibereichs, sondern auch im Nachwuchsressort zumindest im Elitebereich. "Wenn du die besten Trainer, das beste Scouting und die beste Infrastruktur hast, dann sollte der FC Bayern auch die besten Talente akquirieren können - und letztlich sollten auch Titel herausspringen", sagt Sportdirektor Christian Nerlinger.
Doch die Stagnation ist zur Gewohnheit geworden. Nerlinger: "Bei der U 19 sind wir in 43 Jahren drei Mal Meister geworden, bei der U 17 in 34 Jahren vier Mal. Die Ausbildung war immer hervorragend, aber wir sollten unsere Mia-san-Mia-Mentalität auch in die Jugendteams wieder besser reinkriegen."
Emre Can die große Ausnahme
Die A-Jugend wartet schon seit 2004 auf die Meisterschaft, die B-Jugend seit 2007. Das größte Übel ist aber, dass keine Spieler nachkommen, die mittelfristig für die Profi-Mannschaft eine Rolle spielen könnten. Ins Traininglager nach Doha nahm Profi-Trainer Jupp Heynckes mit Emre Can lediglich einen Nachwuchsmann mit.
"Emre ist der kompletteste Spieler, den ich je in meiner Karriere gesehen habe. Und ich habe einige gesehen", sagt Cans Nationalmannschaftstrainer Steffen Freund. Doch der Kapitän der U 17 des DFB ist die große Ausnahme beim FC Bayern. Andere drängen sich derzeit nicht auf. Hoeneß formuliert die Situation etwas drastisch: "Aus dem aktuellen Nachwuchs ist nur der Can gut, ansonsten fehlt etwas."
Auch Herrmann Gerland, jahrelang der Taktgeber des Bayern-Unterbaus macht keinen Hehl aus der Problematik: "Wenn die A-Jugend im letzten Jahr Achter wird, dann ist damit nicht viel Staat zu machen. Wir haben aus dem Jugendbereich nicht die starken Leute bekommen, die wir zuvor immer bekommen haben."
Es ist gar nicht so lange her, dass die Bayern-Profis erhebliche Verstärkung "von unten" bekamen. Thomas Müller und Holger Badstuber sind längst Stammspieler, David Alaba auf dem Weg zum Liebling des Trainers. Can könnte der nächste sein, doch mehr springt nicht heraus "Wir hatten immer in der Breite jedes Jahr zwei, drei gute Spieler", sagt Hoeneß. "Jetzt haben wir eine Lücke."
Scholl kehrt zurück
Die Zeit des Handelns hat längst begonnen, zumal die Bayern den Anschluss beim Thema Nachwuchsförderung nicht verlieren wollen: "Wir müssen den nächsten Schritt machen und in die Tiefe gehen. Für uns ist es elementar wichtig, weiterhin Eigengewächse wie Müller, Lahm, Schweinsteiger, Badstuber, Kroos, Alaba, Contento zu integrieren. Unsere Jugendarbeit muss wieder führend in Deutschland werden", sagt Nerlinger.
Der Sportdirektor arbeitet seit einiger Zeit an einem neuen Nachwuchskonzept für den Rekordmeister. Erste Schritte wurden bereits in die Wege geleitet. So kehrt Mehmet Scholl in der neuen Saison zurück an die Säbener Straße und übernimmt wieder die U 23.
Die Münchener Macher setzen dabei vor allem auf den guten Draht Scholls zu seinen Spielern. Mit einem Mehmet Ekici, der unter Scholl eine große Entwicklung nahm und die letzten Feinschliffe bekam, bevor er in Nürnberg zum Bundesliga-Profi wurde, hat Scholl heute noch Kontakt und gibt per SMS Tipps oder sendet Glückwünsche, wie nach Ekicis Wechsel zu Werder Bremen.
Scholl ist nur ein Baustein in Nerlingers Konzept, das dem Aufsichtsrat und dem Vorstand des FC Bayern bereits in Grundrissen vorgestellt wurde und großen Gefallen fand. Ein Hauptaugenmerk gilt dem Scouting junger Spieler. Die Bayern suchen welt- und europaweit nach Talenten, insbesondere in den letzten Jahren ging die Tendenz Richtung Österreich, wo Perspektivspieler wie Christian Derflinger, Yili Sallahi oder Kevin Friesenbichler für den FC Bayern gewonnen werden konnten.
Künftig soll das Scouting aber noch lokaler gestaltet werden. "Der Weg ist angedeutet, mehr auf europäische, mehr auf deutsche und ganz speziell auf bayerische Spieler zu setzen. Warum nicht einen aus Vilshofen? Warum nicht einen aus Deggendorf? Das wird der Schwerpunkt sein, ohne das andere aus dem Auge zu verlieren", sagt Präsident Hoeneß.
Keine 18 Jahre alten Brasilianer mehr
Das Scouting in Brasilien hat der FC Bayern dagegen längst eingestellt. Giovane Elber, der diesen Job nach dem Ende seiner aktiven Laufbahn übernahm, hat seit der Zeit von Louis van Gaal nicht mehr aktiv nach Spielern gesucht. "Ab und zu ruft Wolfgang Dremmler an und fragt nach dem einen oder anderen Spieler, aber gezielt schaue ich nicht mehr nach Spielern", so Elber zu SPOX.
Ausschließen will Hoeneß dennoch nichts: "Karl-Heinz Rummenigge hat zwar gesagt, dass er eher keinen 18 Jahren alten Brasilianer holen will, aber wenn es da mal das Wahnsinnstalent gibt und wir bekommen die soziale Bindung besser geregelt als wir es zum Beispiel bei Breno geschafft haben, dann wird es eine Ausnahme geben."
Das Motiv, künftig lieber im Vorort Spieler zu sichten und idealer Weise zu verpflichten, als beispielsweise in Südamerika zu scouten, ist in diesen Worten Hoeneß' versteckt. Es sind nicht nur spielerische Komponenten, die eine Rolle spielen. Auch menschlich muss es passen.
Deswegen will Hoeneß auch das europäische Paradebeispiel der Jugendarbeit, La Masia in Barcelona, als Vorbild nicht gelten lassen.
"Barcelona hat einen Riesenvorteil, dass sie als spanische Enklave den direkten Draht zu Südamerika haben", so Hoeneß. "Ein Junge aus Buenos Aires, Rio oder Porto Alegre wird dort schneller integriert. Wenn er bei diesen Temperaturen hier in München ankommt, bekommt er den Schock seines Lebens. Da kommt die Sprache hinzu."
Ex-Profis an die Macht
Zurück zu den Wurzeln, heißt die Devise beim FC Bayern. Die Talente aus der Umgebung sollen wieder die Zukunft des FC Bayern verkörpern. Die aktuelle Profimannschaft hat mit Lahm, Schweinsteiger und Müller gleich drei Säulen, die in München und Umgebung geboren wurden. Doch nicht nur die Talente sollen bajuwarisch angehaucht sein, auch die Entscheidungsträger sind ganz nach dem bayerischen Muster aufgestellt.
Ex-Profi Christian Nerlinger ist Sportdirektor, Ex-Profi Mehmet Scholl wird U-23-Chef, Ex-Profi Michael Tarnat ist ohnehin sportlicher Leiter der Jugendabteilung, Noch-Profi Jörg Butt rückt ab Sommer nach, wenn er Werner Kerns Job als Nachwuchskoordinator übernimmt.
Bayern-Präsident Hoeneß geht ein Herz auf: "Das ist genau in meinem Sinne. Ehemalige Leute holen und einbauen, die prädestiniert für diese Aufgabe sind, ist Bayern-like! Die Identifikation der Fans mit diesen Leuten ist höher, als wenn du einen aus Wanne-Eickel holst."
Der Vergleich zur Vergangenheit ist nicht abwegig: Heute Nerlinger, Scholl, Tarnat und Co., früher oder immer noch Hoeneß, Rummenigge, Müller und Co. Zurück zu den Wurzeln eben.
Erfolge, Zahlen, Fakten: Der FC Bayern im Profil