Luft ist nicht gleich Luft

Guter Reifen, böser Druck? Lewis Hamilton tätschelte den kurzzeitig irregulären Pirelli
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Formel-1-Weltmeister Lewis Hamilton hat seinen Sieg beim Großen Preis von Italien trotz zu niedrigem Reifendruck vor dem Start behalten dürfen. Die Aufregung um den Mercedes-Piloten war nicht die einzigen Schlagzeilen im Zusammenhang mit Pirelli am Monza-Wochenende. Viel wichtiger: Die Entscheidungen der Stewards waren inkonsequent.

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Mittwoch, 2. September: Pirelli verschärft vor dem Start des Wochenendes die Vorgaben an die Teams. Den maximalen Radsturz reduziert der Reifenhersteller um ein halbes Grad, der minimale Druck der Reifen soll vorne um fünf PSI und hinten um vier PSI angehoben werden. So sollen die Flanke und die Schultern der Reifen entlastet werden, während die Lauffläche stärker strapaziert wird.

Die Vorgaben sind eine Kombination aus den Anpassungen an die besonderen Anforderungen der Highspeed-Strecke von Monza und den Schäden beim Belgien-GP in Spa. Den Reifenplatzer von Sebastian Vettel erklären die Italiener mit einer Beschädigung durch Teile auf dem Asphalt. Insgesamt habe es 63 Schnitte gegeben, während bei den bisherigen Events durchschnittlich nur 1,2 auftraten.

Donnerstag, 3. September: Lewis Hamilton kritisiert die neuen Vorgaben. "Höhere Drücke sind der falsche Weg. Meinetwegen zwei PSI, aber nicht so viel. Der Verschleiß wird steigen, der Grip sinken. Die Reifen sind für diese Art Drücke nicht gebaut. Das könnte sich zu einem Desaster entwickeln", sagt der Weltmeister am Tag vor der ersten Ausfahrt in Monza.

Jenson Button ist gespalten: "Pirelli war immer stark bemüht, Sicherheit zu gewährleisten. Es ist ihr Recht, extreme Vorschriften zu machen. Auf der anderen Seite sind sie ziemlich furchterregend, denn wir sind so noch nie gefahren. Als Rennfahrer mag niemand von uns Limits. Wir wollen machen, was wir wollen, um so schnell wie möglich zu sein." Nico Hülkenberg erwartet keine Probleme: "Wir haben Vertrauen in Pirelli. Ich denke, dass die eingeführten Maßnahmen für Monza für mehr Sicherheit sorgen."

Freitag, 4. September: Pirelli ändert nach Beschwerden der Teams die Vorgaben. Vorne wird ein PSI weniger als am Vortag vorgeschrieben, hinten eineinhalb. Bernie Ecclestone lobt derweil den Reifenlieferanten und fordert die Fahrer auf, die öffentliche Kritik einzustellen. Unterdessen geht der Streit im Hintergrund weiter.

Nach Informationen von Auto Motor und Sport wiederholt Vettel in einem über einstündigen Krisentreffen mit Pirelli die Vorwürfe und bekommt Unterstützung von Fernando Alonso. Auch Lewis Hamilton und Nico Rosberg sind wie die Teamverantwortlichen von Mercedes, Ferrari sowie Red Bull bei Ecclestone erschienen.

Lauda kritisiert, dass die Informationen über den Grund der Reifenplatzer erst zwei Wochen nach dem Rennen in Spa bekanntgegeben wurden, Pirelli verspricht daraufhin die Erkenntnisse schneller an Teams und Fahrer zu übermitteln. Die Gegenforderung beinhaltet mehr Daten über die stetig schneller werdenden Autos und Reifentests während der Saison. "Wenn die Teams es diesmal nicht verstanden haben, müssen sie sich ab 2017 einen anderen Ausrüster suchen", sagt Motorsportdirektor Paul Hembery.

Nach dem Qualifying der Nachwuchsserie GP2 werden Mitch Evans und Sergio Canamasas aus der Wertung ausgeschlossen. Bei der Untersuchung ihrer Fahrzeuge stellten die technischen Delegierten fest, dass die Reifendrücke bei beiden Autos unter dem vorgeschriebenen Minimum lagen.

Samstag, 5. September: Pirelli warnt die Teams nach Informationen von Motorsport.com schriftlich davor zu tricksen. Die Ingenieure des Reifenproduzenten seien bei den Vorgaben davon ausgegangen, dass der Druck nach Ausfahrt aus der Boxengasse steige. Der überprüfte Druck bei der Ausfahrt aus der Boxengasse sei aufgrund dieser Annahme berechnet.

Chefingenieur Mario Isola warnt, es sei ein Sicherheitsrisiko, wenn der Druck auf der Strecke sinke: "Wenn wir während einer Session feststellen, dass der stabilisierte Druck gleich oder niedriger als der Anfangsdruck ist, werden wir von der FIA abgesegnet einen höheren Anfangsdruck für ihr Team vorgeben." Deshalb solle der Druck nicht nur beim Ausfahren aus der Box sondern zu jeder Zeit auf der Strecke überprüft werden.

Eine Variante um den gewollten Druckverlust herbeizuführen: extrem aufgeheizte Reifendecken. Isola kündigt an, dass die FIA die Temperaturen ebenfalls messen werde. "Ich verstehe voll und ganz, dass die Teams Leistung finden müssen, aber wir müssen auch garantieren, dass die Reifen richtig funktionieren", sagt Isola: "Sie versuchen, eine Lücke im Reglement zu finden und etwas zu machen, das erlaubt ist, weil es nicht verboten ist."

Die Reifendecken sind bei Lotus ein Problem: Der Regen hat in der Nacht zahlreiche Exemplare unbrauchbar gemacht. Drei Stück pro Auto blieben übrig. Ferrari sowie die direkten WM-Konkurrenten Sauber und Toro Rosso sprangen kurzerhand ein und liehen ein paar ihrer Decken aus.

Sonntag, 6. September: Hembery nimmt schon vor dem Start bei Sky Sports das Thema der Vorgaben auf. "Es kann Strafen geben. Sie müssen sich daran halten", sagt der Brite: "Wenn sie sich nicht daran halten, dann gewinnen sie Performance." Seine Ingenieure hätten am Wochenende "größtenteils" Verfehlungen festgestellt.

Um 15.04 Uhr geben die technischen Delegierten der FIA bekannt, dass bei Mercedes und Ferrari vor dem Start Druck und Temperatur der Lauffläche der linken Hinterreifen kontrolliert wurden. Bei der Scuderia wurden die Vorgaben eingehalten, die Silberpfeile erfüllten die Vorgaben nicht. Hamilton fehlten 0,3 PSI zum vorgeschriebenen Minimun, bei Rosberg waren es sogar 1,1 PSI. Jo Bauer verweist die Angelegenheit an die für Strafen zuständigen Stewards, die um 15.07 Uhr die Mercedes-Verantwortlichen für 16.15 Uhr zum Rapport einbestellen.

Mercedes reagiert umgehend: Hammer-Time für den Weltmeister. "Stell keine Fragen, setz es um", kommandiert Peter Bonnington: "Wir erklären es später." Als Hamilton sich nach der Zieldurchfahrt über den erzeugten Stress in den finalen Runden beschwert, würgt ihn der Renningenieur ab. Das Ziel des Kommandostands: Möglichst viel Vorsprung auf den zweitplatzierten Ferrari-Piloten Vettel herausfahren. Mercedes befürchtet eine Zeitstrafe für den zu geringen Luftdruck.

"Um ehrlich zu sein, wir verstehen es nicht", sagt Technikchef Paddy Lowe, nachdem Hamilton mit 25,043 Sekunden Vorsprung gewonnen hat: "Wir werden hingehen und es erklären. Ich weiß nur, dass wir unsere Drücke mit dem Pirelli-Ingenieur gesetzt haben. Er war komplett zufrieden damit."

Williams forderte Disqualifiaktion

Sein Pendant bei Williams, Rob Smedley, schaltet sich ein. "Das ist ein technischer Verstoß und gefährdet die Sicherheit. Ich vermute, dass es eine ziemlich heftige Strafe geben wird", sagt er: "Wir vermessen die Flügel und bleiben innerhalb eines halben Millimeters der Regularien. Wenn wir sie überschreiten und erwischt würden, dann würden wir disqualifiziert."

Mercedes-Aufsichtsratschef Niki Lauda kritisiert unterdessen bei RTL die unklaren Vorgaben. "Jetzt ist die Frage, wo die 1,1 und 0,3 herkommen. War der Reifen von Nico länger ohne Decke und somit kalt? Die Argumentation wird dahin gehen. Ich sage, der Reifendruck muss stimmen, wenn du fährst und nicht statisch in der Kälte stehst. Und das ist nicht klar definiert in den Regeln", sagt der Österreicher: "Wir haben auf keinste Weise versucht, zu spielen. Das kann ich garantieren. Die Frage wird sein, wie man die Grauzonen interpretiert."

Selbst der Weltmeister meldet sich zu Wort: "Wenn es 0,3 waren, dann waren es 0,3. Das hatte unterm Strich aber keinen Einfluss auf das Auto. Dieser kleine Unterschied macht nichts aus. Um etwas zu bewirken, müsste der Unterschied schon deutlich größer sein, sagen wir mal 0,5 oder 1,0. Ich bin mir sicher, dass auch Pirelli beweisen wird, dass dies keinen Unterschied macht", sagt Hamilton bei Sky Sports.

Hembery widerspricht Hamilton

Hembery widerspricht: "Wenn wir eine Grenze aufstellen, kann man sich nicht darüber hinwegsetzen. Das führt zu Szenarien, in denen es schwierig für den Reifen vorne links wird", sagt er und begründete nochmals die Vorgaben: "Es entsteht für uns ein Aufgabe bezüglich potenzieller Integritätsprobleme und es bringt einen Performance-Vorteil. Es ist ein Gesamtpaket und es gibt einen Grund, dass es da ist."

Unterdessen verteidigt Technikchef Lowe vor den Stewards sein Team anhand der von der FIA ermittelten Daten. Auch der Mercedes zugeteilte Pirelli-Ingenieur wird vorgeladen. Um 17.48 Uhr geben die Stewards ihre Entscheidung bekannt: Freispruch für Hamilton. Die Kommissare stellen zwar nicht infrage, dass der Reifendruck niedriger war als vorgeschrieben, führen dies aber auf die in der Startaufstellung auskühlenden Heizdecken zurück. Bei der Montage sei der Druck korrekt gewesen.

Dass Canamasas und Evans für ein vergleichbares Vergehen mit einem Ausschluss aus der Wertung bestraft wurden, ist offenbar irrelevant. Pirelli steht einmal mehr im Zweilicht, weil die Kommissare von Weltverband und Reifenhersteller genauere Informationen zum Zeitpunkt der Messung des Drucks forderten. Der Zeitpunkt soll festgeschrieben werden.

Mercedes' Motorsportchef Toto Wolff machte am Sonntagabend den Deckel drauf. "Ich kann ausschließen, dass wir diejenigen wären, die versuchen einen Vorteil auf eine absolut unwissenschaftliche und unkontrollierbare Weise zu bekommen", sagte der Österreicher und hielt fest, genau nach Pirellis Angaben gehandelt zu haben: "Die Drücke waren deutlich über dem Minimum, weil Sicherheit für uns wichtig ist. Bei dem Auto war aus irgendeinem Grund - vielleicht weil die Reifen abgekühlt sind - ein unterschiedlicher Druck auf einem Reifen. Es war eine winzige Diskrepanz."

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