Um seinen Schlaf zu optimieren, hat sich Toni Kroos beim Familientag der Nationalmannschaft von Ehefrau Jessica sein angestammtes Kopfkissen aus Madrid vorbeibringen lassen - ein Unikat, wie er erklärte: "Das kann man gar nicht nachkaufen, das ist so verknäult und kaputt." Außerdem bekam Kroos eine neue Zahnbürste und seine "besondere Zahnpasta" geliefert.
Der 34-Jährige ist also tadellos vorbereitet für einen längeren Verbleib im Team-Camp in Herzogenaurach. Doch ab Beginn der K.o.-Runde führt bekanntlich eine einzige Niederlage zur sofortigen Abreise. Für Kroos wäre sie gleichbedeutend mit dem Karriereende. Ab jetzt könnte jedes Spiel sein letztes als Profi sein.
Mit seinem fünften Champions-League-Sieg im Trikot von Real Madrid (und dem sechsten insgesamt) feierte er bereits einen würdigen Abschied vom Klub-Fußball. Die Heim-EM ist nun Kroos' allerletzte Mission. Im Achtelfinale ist das DFB-Team klarer Favorit gegen Dänemark, ehe im Viertelfinale ein Duell mit Turnier-Favorit Spanien droht.
Nicht Kroos: Bei der EM glänzten bisher andere Deutsche
Nach drei Jahren Abstinenz hatte Kroos im März überraschend sein DFB-Comeback gefeiert. Als Stratege im defensiven Mittelfeld verlieh er der Nationalmannschaft sofort neue Stabilität, das Zusammenspiel mit Abräumer Robert Andrich funktionierte tadellos, die drei Testspiele mit seiner Beteiligung wurden allesamt gewonnen. Als Leidtragender des Comebacks erschien zunächst Ilkay Gündogan. Er musste auf die Zehn ausweichen und fremdelte mit der offensiveren Rolle.
Pünktlich zur EM drehte Gündogan aber auf, dazu glänzten im bisherigen Turnierverlauf auch die Zauberer Florian Wirtz und vor allem Jamal Musiala, Niclas Füllkrug avancierte zum Super-Joker und Keeper Manuel Neuer konterte seine Kritiker mit tollen Paraden. Der nach seinem Comeback entstandene Hype um Kroos ist unterdessen etwas abgeklungen. Wie ist sein bisheriges Turnier zu bewerten?
In allen drei Spielen positionierte sich Kroos im Spielaufbau extrem tief, meist links neben den beiden Innenverteidigern. Wie eine Passmaschine verteilt er von dort die Bälle. Beim EM-Auftakt gegen Schottland (5:1) gelang ihm das ganz wunderbar. Obwohl er unter Schmerzen im Nackenbereich litt, wie er später verriet. Mit dem gewohnten Kissen sollte das nicht mehr passieren. Gegen Ungarn (2:0) und dann gegen die Schweiz (1:1) ließen Genauigkeit und Qualität seiner Zuspiele aber etwas nach. Auf generell hohem Niveau baute Kroos bei dieser EM bisher von Spiel zu Spiel ab - und mit ihm die deutsche Auswahl.
Toni Kroos: Statistiken belegen Leistungsaball
Kroos' Leistungsabfall beweisen auch die Statistiken: Gegen Schottland kamen noch sagenhafte 99 Prozent seiner Pässe an. Darunter sein wohl wichtigster des bisherigen Turniers, die Vorvorlage zu Wirtz' frühem 1:0. Gegen Ungarn verringerte sich Kroos' Passquote bei 131 Pässen auf 95 Prozent, gegen die Schweiz dann bei 107 Pässen auf 93 Prozent. Insgesamt kamen bei diesem Turnier 95,29 Prozent seiner Zuspiele an. Von allen Spielern mit mindestens 100 Pässen ist das immer noch der viertbeste Wert. Angeführt wird das Ranking vom französischen Innenverteidiger William Saliba.
Noch offensichtlicher als der Rückgang der Passquote beweist eine andere Statistik seinen Leistungsabfall: Und zwar die Anzahl an Ballverlusten. Gegen Schottland leistete sich Kroos lediglich drei, gegen Ungarn waren es 17 und gegen die Schweiz 15. Zweimal sogar der schwächste Wert auf Seiten Deutschlands.
Während Schottland das DFB-Team relativ widerstandslos aufbauen ließ, attackierten Ungarn und die Schweiz deutlich energischer, was Kroos offensichtlich Probleme bereitete. Insofern dürfte ihm der Achtelfinal-Gegner entgegenkommen. Bei den drei Vorrunden-Remis präsentierte sich Dänemark trotz unbestrittener individuellen Klasse überraschend schwerfällig und träge, der Mannschaft fehlt es an Tempo und Energie.
Toni Kroos: Statistik-Vergleich zwischen den Gruppenspielen
Kategorie | Schottland | Ungarn | Schweiz |
Pässe | 102 | 131 | 107 |
Passquote (in Prozent) | 99 | 95 | 93 |
Ballverluste | 3 | 17 | 15 |
Ballgewinne | 7 | 8 | 8 |
Niclas Füllkrug enthüllt Kabinen-Ansprache von Toni Kroos
Dänemarks Trainer Kasper Hjulmand erhob das DFB-Team vor dem Duell unterdessen in den "absoluten Favoritenkreis" und lobte vor allem Kroos: "Er hat die Balance zurückgebracht." Kroos' Wichtigkeit für die Mannschaft darf ohnehin nicht nur an Pässen und Statistiken festgemacht werden, es geht auch um seine ganz besondere Aura.
Unabhängig von seinem Leistungsabfall bei den drei EM-Spielen präsentiert sich der 34-Jährige durchweg wie ein waschechter Führungsspieler. Etwas, was ihm in früheren Zeiten gerne mal abgesprochen worden war. Kroos strahlt eine immense Siegesgewissheit aus. Er passt nicht nur, er kämpft auch und grätscht und ergreift in der Kabine in entscheidenden Momenten das Wort.
Etwa zur Halbzeit des dritten Gruppenspiels gegen die Schweiz, wie Füllkrug anschließend verriet: "Wenn Toni sagt: 'Hey Jungs, alles gut. Bleibt ruhig, das kommt jetzt', dann gibt es keinen, der auf einmal negativ rumschreit. Dann ist Entspannung angesagt." Trotz 0:1-Rückstand startete Deutschland also entspannt in die zweite Halbzeit und belohnte sich kurz vor Schluss mit dem vielumjubelten Ausgleich.