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Dohas Gastarbeiter-Fanzone bei der WM 2022: Ronaldo in der Industrial Area

Die "Industrial Area Fan Zone": Hier im Südwesten Dohas zwischen Arbeitersiedlungen verfolgen tausende Gastarbeiter die WM-Spiele.
© Nino Duit

Im Fernsehen wird stets die glitzernde Fanzone vor Dohas imposanten Wolkenkratzern gezeigt, aber es gibt in Katars Hauptstadt auch noch eine andere: Bei jedem WM-Spiel versammeln sich tausende Gastarbeiter in einem Cricket-Stadion im äußersten Südwesten der Stadt. Eine Reportage.

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"Industrial Area Fan Zone": So heißt der Ort, an dem die Menschen WM schauen, die dieses Turnier möglich gemacht haben, sich Match-Tickets aber eher nicht leisten können. Abertausende Gastarbeiter, größtenteils aus Indien, Pakistan, Bangladesch und diversen afrikanischen Ländern. Sie kamen nach Katar, um Stadien, Straßen und U-Bahnen zu bauen, um Busse zu lenken oder als Sicherheitsmänner Gebäude zu bewachen.

Untergebracht sind sie in eigens errichteten Arbeitersiedlungen wie denen der sogenannten "Industrial Area". Ein riesiger Stadtteil ist das mit trostlosem Namen und noch trostloserem Flair. Im Schachbrettmuster reiht sich eine dreistöckige Wohnanlage an die nächste. Die "Industrial Area" liegt im äußersten Südwesten von Doha. Noch einmal über die Autobahn drüber, dann fängt die endlose Sandwüste an.

Zwischen den Wohnanlagen steht ein großes Einkaufszentrum und daneben das Asia Town Cricket Stadium mit seinen 13.000 nicht überdachten Plätzen. Der Standort für das einzige Cricket-Stadion Dohas ist durchaus passend gewählt. Wo die meisten Gastarbeiter herkommen, ist Cricket neben Fußball schließlich die beliebteste Sportart.

Während der WM wird hier aber nicht das Spiel mit den breiten Schlägern gespielt, sondern auf einem riesigen Bildschirm Fußball geschaut. Tagtäglich pilgern tausende Arbeiter von ihren spärlichen Unterkünften über einen staubigen Parkplatz in die extra eingerichtete Fanzone.

Die Gastarbeiter bejubeln große Fußball-Nationen

Heute trifft Portugal auf Ghana, für viele bedeutet das eine schwierige Entscheidung. Eigentlich müsste man sich ja mit den afrikanischen Außenseitern solidarisieren, das schon. Aber: Cristiano Ronaldo! "Ich bin Halb-Afrika und Halb-Ronaldo", sagt einer. Sein Herz spiegelt das Sympathie-Verhältnis in der Fanzone recht gut wider, es dürfte ungefähr bei 50:50 liegen.

Der portugiesische Superstar wird unter den Gastarbeitern verehrt. Zumindest von denen, deren Idol nicht sein ewiger Widersacher Lionel Messi ist. Obwohl Argentinien gar nicht spielt, sind auch blau-weiße Trikots omnipräsent. Ihre im Weltfußball größtenteils unbedeutenden eigenen Nationalmannschaften sind den meisten ziemlich egal. Jeder hat ein Lieblingsland unter den großen Fußball-Nationen, vereinzelt handelt es sich dabei auch um Deutschland.

So erscheinen sogar die legendär-absurd anmutenden Fanmarsch-Videos etwas glaubhafter, die im Vorfeld der WM aus Katar viral gingen. Größtenteils indisch aussehende Menschen bejubelten da in entsprechender Fankleidung wahlweise Brasilien, Argentinien, Deutschland oder andere große Fußball-Nationen frenetisch. Der Verdacht lag nahe, dass es sich um gekaufte Fans handeln muss - aber die Gastarbeiter hier in der "Industrial Area Fan Zone" verhalten sich genauso.

Verwunderlich erscheint aus westlicher Sicht aber nicht nur die hemmungslose Unterstützung einer fremden Nation. Sondern auch, dass hier fast jeder tatsächlich Katar als Zweitlieblingsteam im Wettbewerb nennt. Ihre Wahlheimat, die ihnen zwar Arbeit, aber sonst kaum etwas bietet und bei der WM bisher nicht einmal Grund zum Jubeln.

Die "Industrial Area Fan Zone": Hier im Südwesten Dohas zwischen Arbeitersiedlungen verfolgen tausende Gastarbeiter die WM-Spiele.
© Nino Duit
Die "Industrial Area Fan Zone": Hier im Südwesten Dohas zwischen Arbeitersiedlungen verfolgen tausende Gastarbeiter die WM-Spiele.

Zur Halbzeit verwandelt sich das Spielfeld in eine Tanzfläche

Mit Anpfiff füllt sich das zuvor noch eher spärlich besuchte Stadion blitzartig. Die Arbeiter nehmen entweder auf den Tribünen Platz oder setzen sich einfach auf die Rasenfläche vor dem Bildschirm. In der Spitze dürften rund 10.000 Menschen das weite Rund bevölkern, aber die Zahl schwankt permanent. Unabhängig von Spielminute und Zwischenstand strömen immer wieder auf einen Schlag hunderte Menschen rein oder raus, vielleicht ist gerade irgendwo Schichtwechsel.

Als der Schiedsrichter beim Stand von 0:0 zur Pause pfeift, verwandelt sich das Spielfeld urplötzlich in eine Disco-artige Tanzfläche. Statt der Kommentatoren-Stimme dröhnt aus den Boxen jetzt Chart-Musik. Vor allem die anwesenden Afrikaner tanzen und singen ausgelassen, unter allseitigem Jubel schlägt einer sogar Salti. Manche Fans reißen sich in Ekstase ihre Leibchen vom Körper, aber das ist dann doch zu viel des Guten. "Bitte ziehen Sie sich Ihr T-Shirt nicht aus. Wir können die Leidenschaft für den Sport verstehen, aber bitte hören Sie damit auf", mahnt eine strenge Stimme auf Englisch durch die Lautsprecheranlage.

Es ist eine kleine Erinnerung daran, dass man sich immer noch im muslimischen Emirat Katar befindet. Dieser Fakt kann hier aber tatsächlich schnell mal untergehen. Kataris sind keine zu sehen, aber um ehrlich zu sein: Kataris muss man in Katar eigentlich überall suchen. Von den rund drei Millionen Einwohnern besitzen nur etwa zehn Prozent die Staatsbürgerschaft.

Ein Gastarbeiter erzählt von seinem Leben in Katar

Keinen katarischen Pass hat ein Kenianer im Brasilien-Trikot vor dem Cricket-Stadion, um die 30 dürfte er sein. Emotional fiebert er vor allem dem anschließenden Spiel zwischen Brasilien und Serbien entgegen. Bis dahin saugt er einfach die ausgelassene Atmosphäre auf, es ist ein Kontrastprogramm zu seinem ansonsten eher eintönigen Leben. "Normalerweise gibt es nur mich und die Arbeit", sagt er. Drei Monate vor der WM kam er auf der Suche nach einem Job aus Kenia nach Katar, jetzt arbeitet er als Sicherheitsmann vor den Stadien Al Janoub und Al Thumama.

Was er von seiner Heimat vermisst? "Ich würde gerne wieder Mädels treffen und Alkohol trinken, aber das geht hier nicht", sagt er ein bisschen wehmütig. In den riesigen Arbeitersiedlungen leben ausschließlich Männer und auch in der Fanzone halten sich nur ganz, ganz wenige Frauen auf. Er vermisst zwar die unbeschwerte Freiheit des Lebens, aber beklagen will er sich deshalb auf keinen Fall: "Ich fühle mich wohl und sicher."

Arbeitsbedingungen, Unterbringung und Verpflegung seien seiner Meinung nach in Ordnung. Aussagen wie diese bekommt man von fast jedem zu hören, den man nach seinem Leben fragt. Es herrscht Pragmatismus in Reinform, oft heißt es: Immerhin ist es hier besser als in der Heimat. Harte Arbeit ist besser als keine Arbeit, schlechte Bezahlung besser als gar keine. So können die Liebsten daheim finanziell zumindest ein bisschen unterstützt werden.

Kritik an den Missständen in Katar

Den Gastarbeitern in der "Industrial Area" scheint gar nicht bewusst zu sein, was für ein großes Thema ausgerechnet sie in der westlichen Welt sind. Seit der WM-Vergabe an Katar 2010 hagelte es dort bekanntlich permanent Kritik an den Missständen in Katar. Neben Rechten für Homosexuelle und Frauen geht es dabei vor allem um die Lebensbedingungen von ihnen, den abertausenden Gastarbeitern.

Der englische Guardian berichtete im Februar 2021, dass bis zu diesem Zeitpunkt bereits 6500 Arbeiter aus Indien, Pakistan, Nepal, Bangladesch und Sri Lanka auf Baustellen von WM-Stadien verstorben seien. Zuletzt forderten Menschenrechtsorganisationen einen Entschädigungsfonds in Höhe von 440 Millionen Dollar für Familien der verletzten oder toten Arbeiter. Katar lehnt das bisher ab.

Seit der WM-Vergabe gab es immerhin kleine Verbesserungen. 2020 trat etwa ein monatlicher Mindestlohn in Höhe von 1000 Riyal in Kraft, umgerechnet ungefähr 265 Euro. Auch das umstrittene Kafala-System, das die Gastarbeiter quasi zu Leibeigenen ihrer Arbeitgeber machte, wurde mittlerweile zumindest offiziell abgeschafft.

Kulinarische Heimatgefühle in der "Industrial Area"

Zurück ins Cricket-Stadion, wo der Wechsel zwischen Disco und Fußball auch in die andere Richtung in Sekundenschnelle klappt. Die zweite Halbzeit geht los, es sollte eine spektakuläre werden. Für den ersten emotionalen Ausbruch sorgt ausgerechnet Ronaldo, indem er einen umstrittenen Elfmeter selbst verwandelt. Die einen beklagen sich hemmungslos über den Schiedsrichter, die anderen eifern ihrem Idol nach: Sprung, Drehung, breitbeinige Landung. Siuuuuuu!

Nach Ghanas überraschendem Ausgleich ist der Jubel ähnlich laut. Nun lassen die gerade noch niedergeschlagenen Afrikaner in ihren bunten Kleidungen die Hüften kreisen. Einer springt vor Freude von den Rängen über die Tribünen-Balustrade etwa zwei Meter auf den Rasen, rennt vor Richtung Bildschirm und taucht dort in das jubelnde Menschenmeer ein. Wieder gibt es Siuuuuuu-Sprünge zu sehen, diesmal als hämische Provokationen. Doch am Ende jubeln Ronaldos Jünger, Portugal gewinnt mit 3:2.

Die etwa einstündige Pause bis zum Spiel zwischen Brasilien und Serbien nutzen viele Fans für eine kleine Stärkung. Essen und Getränke kosten bei den hiesigen Ständen nur einen Bruchteil von dem, was beim großen, sterilen Fan Festival an der Strandpromenade Corniche vor den imposanten Wolkenkratzern Dohas verlangt wird.

Aber nicht nur die Preise sind an das Publikum angepasst, sondern auch die Auswahlmöglichkeiten: Es gibt eigene Stände für indisches, pakistanisches und nepalesisches Essen. Etwas Heimatgefühl für all die Südasiaten, ehe Brasilien mit einem 2:0-Sieg gegen Serbien einen Kenianer in Katar glücklich macht.

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