FC Bayern München, Julian Nagelsmann und die Fußball-Philosophien: Bullen in Ballbesitz

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Seit der Ankunft von Trainer Julian Nagelsmann hat der FC Bayern München fast nur Spieler verpflichtet, die entweder eindeutig mit dominantem Ballbesitz- oder rasantem Umschalt-Fußball sozialisiert wurden. Wie passt das zusammen? Ein paar Daten und Beobachtungen.

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Julian Nagelsmann war im Kindergarten, als Johan Cruyffs Dreamteam-Barcelona um den Mittelfeldstrategen Pep Guardiola 1992 den Europapokal der Landesmeister gewann. Drei Jahre später triumphierte Louis van Gaals Ajax Amsterdam, ein Haufen selbst ausgebildeter Spieler mit einer ähnlichen taktischen Marschroute wie Barca.

Die beiden großen niederländischen Trainer mochten sich persönlich zwar gar nicht, gelten aber beide als Pioniere des dominanten Ballbesitz-Fußballs, den Guardiola später als Trainer perfektionieren sollte. Erst beim FC Barcelona, anschließend von 2013 bis 2016 beim FC Bayern, wo van Gaal bereits herausragende Vorarbeit geleistet hatte. Dazwischen holte Jupp Heynckes das Triple nach München.

"Heynckes meinte später zu mir, dass er Louis' Ansatz einfach weitergeführt hat", berichtete van Gaals damaliger Co-Trainer Andries Jonker später im Interview mit SPOX und GOAL. "Und alle darauffolgenden Trainer haben das auch gemacht. Das ist schön zu sehen. Wir haben ein anderes, ein schöneres Bayern geschaffen."

Seit van Gaals Amtszeit steht der FC Bayern für Dominanz durch Ballbesitz. Diesem Ansatz entgegen stellten sich bald Herausforderer wie Jürgen Klopp, der bei Borussia Dortmund und dem FC Liverpool mit seinem Gegenpressing für Furore sorgte. Oder die Firmenmannschaften von Red Bull, denen Mastermind Ralf Rangnick einen rasanten Umschalt-Fußball verschrieben hat. Heißt: aggressives Anlaufen und Ausnutzen der gegnerischen Unsortiertheit bei Ballbesitzwechseln.

Die Verwässerung der Fußball-Schulen

Mittlerweile ist die einst klare Trennung nicht mehr so einfach, Vertreter der eigentlich konträren Strategien borgen sich Ideen und Spieler der anderen. "Die unterschiedlichen Schulen haben sich in den vergangenen Jahren verwässert. Die Klassifizierung war früher auffälliger als heute", sagt Frank Wormuth im Gespräch mit SPOX und GOAL. Als langjähriger Trainer-Ausbilder des DFB verfolgte er die Entwicklungen des internationalen Fußballs genau, mittlerweile arbeitet er in der niederländischen Eredivisie.

Tatsächlich: Gegenpressing-Liebhaber Klopp vertraut in seinem Liverpool-Mittelfeld beispielsweise auf Pass-Maschine Thiago, den Guardiola einst nach München geholt hatte. Guardiola selbst wurde vor allem seit dem Wechsel zu Manchester City pragmatischer in seiner Herangehensweise. Die beiden wohl bekanntesten Vertreter der konträren Schulen näherten sich an, viele jüngere Trainer ließen sich unterdessen von beiden inspirieren.

Julian Nagelsmann etwa, der beim FC Bayern ein spielphilosophisches Mischmasch kreiert. Ganz plakativ zeigt das die Transferpolitik: Seit Nagelsmanns Ankunft in München kamen (bis auf Omar Richards) nur Spieler, die fußballerisch eindeutig in einer der beiden gegensätzlichen Schulen sozialisiert wurden.

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FC Bayern: Neuzugänge von Ajax und dem RB-Kosmos

Vergangenen Sommer Dayot Upamecano und Marcel Sabitzer aus Leipzig. Zwei klassische RB-Zöglinge, die davor in Salzburg gespielt hatten. Dort schaffte auch der prominenteste Neuzugang dieses Sommers seinen Durchbruch, ehe er in Liverpool unter Klopp zum Weltstar avancierte: Sadio Mane.

Dem gegenüber stehen Noussair Mazraoui und Ryan Gravenberch: Beide wurden seit frühen Kindheitstagen in der Ajax-Akademie ausgebildet, neben Barcelona der zweiten traditionellen Ballbesitz-Brutstätte. Sie dürften den Fußball ähnlich denken wie viele alteingesessene Bayern-Spieler, die weiterhin auf Guardiolas Gedankengut von Dominanz schwören.

"Es ist auf jeden Fall nicht schädlich, dass sich Nagelsmann Spieler aus konträren Schulen zusammensucht", findet Wormuth, unter dem Nagelsmann 2016 seinen Trainerschein absolviert hat. "Er holt Spieler, die es gewohnt sind, dem Ballbesitz zu frönen, und solche, die überfallartig den Ball zurückerobern können: Diese Kombination ist hervorragend. In bestimmten Situationen kann Nagelsmann dadurch von verschiedenen Spielern mehr profitieren als von anderen."

Julian Nagelsmanns Vorgehen in Leipzig und München

Aber wofür steht Nagelsmann eigentlich selbst? Obwohl sein Weg in die Trainer-Elite über die Rangnick-Niederlassungen Hoffenheim und Leipzig geführt hat, gilt er eher als Verfechter des Ballbesitz-Fußballs. Nach Leipzig kam Nagelsmann einst, um dem zum Titelkandidaten aufgestiegenen Klub eine dominantere Spielweise beizubringen, wie Rangnick bestätigte: "Wir haben Julian geholt, weil wir überzeugt waren, er hebt uns auf die nächste Stufe."

Und das gelang: In Nagelsmanns erstem Jahr in Leipzig stieg der Ballbesitzanteil der Mannschaft deutlich an, während die Werte bei Indikatoren für Umschalt-Fußball zurückgingen, die Anzahl an Ballgewinnen im Angriffsdrittel etwa oder der prozentuale Anteil an Pässen ins Angriffsdrittel.

Unterstrichen wurden die Entwicklungen mit Verpflichtungen von entsprechend geschulten Spielern wie Dani Olmo (einst in der Jugend von Barcelona) oder Angelino (von Guardiolas Manchester City).

RB Leipzig: Die Entwicklungen nach Nagelsmanns Amtsübernahme

Saison (nur Bundesliga)

Ballbesitz

Ballgewinne im Angriffsdrittel

Anteil Pässe ins Angriffsdrittel

2018/19 (Ralf Rangnick)

49,43 Prozent

167

14,11 Prozent

2019/20 (Julian Nagelsmann)

55,06 Prozent

150

10,80 Prozent

Bei seinem Amtsantritt in München zwei Jahre später betonte Nagelsmann: "Ich werde hier nicht alles auf den Kopf stellen, wir müssen flexibel sein." Er fand zwar ein ganz anderes Fundament als in Leipzig vor, löste aber eine vergleichbare Entwicklung aus. Wenn auch nicht so deutlich, bewegten sich die Zahlen doch ähnlich.

FC Bayern: Die Entwicklungen nach Nagelsmanns Amtsübernahme

Saison (nur Bundesliga)

Ballbesitz

Ballgewinne im Angriffsdrittel

Anteil Pässe ins Angriffsdrittel

2020/21 (Hansi Flick)

60,81 Prozent

296

11,60 Prozent

2021/22 (Julian Nagelsmann)

64,82 Prozent

260

10,77 Prozent

Julian Nagelsmann setzt auf Gegenpressing

Nach Guardiolas Ballbesitz-Hochzeit wurde die Spielweise des FC Bayern unter Carlo Ancelotti, Jupp Heynckes, Niko Kovac und Hansi Flick trotz Beibehaltung der Grundidee etwas pragmatischer. Unter Guardiola lag der Ballbesitzanteil noch konstant über 70 Prozent, während es bei ihm pro Saison nie über 200 Ballgewinne im Angriffsdrittel gab.

Obwohl Nagelsmann generell der Ballbesitz-Schule zuzurechnen ist, bedient er sich auch gerne Elementen des Umschalt-Fußballs. Genau wie sein Vorgänger Flick legt Nagelsmann beispielsweise großen Wert auf hohe Ballgewinne im Gegenpressing. Sparen sie trotz höchster psychischer und physischer Intensität in den ersten Sekunden nach Ballverlust auf lange Sicht doch Kraft, weil Wege nach hinten und wieder zurück nach vorne wegfallen.

Die Umsetzung funktionierte in seiner Premierensaison zwar noch nicht durchgängig, wie auch der leichte Abfall der Zahlen im Vergleich zum Vorjahr zeigt. Als sich der FC Bayern bei einem 4:1-Sieg gegen Hertha BSC im Januar diesbezüglich mal vorbildlich präsentierte, verriet Joshua Kimmich: "Wir wollten unser Augenmerk auf das Gegenpressing legen. Das war gut heute, daher hatten wir viele hohe Ballgewinne."

Für eine weitere Verbesserung in dieser Disziplin soll künftig Konrad Laimer sorgen, Nagelsmanns erklärter Wunschspieler für das zentrale Mittelfeld. Bereits in Leipzig arbeiteten die beiden zusammen, Nagelsmann huldigte ihm damals als "Monster-Balleroberungsmaschine". Sollte Laimer tatsächlich kommen, wäre er die vierte Verpflichtung mit RB-Vergangenheit - und würde sich im Mittelfeld unter anderem mit dem Ajax-Neuzugang Gravenberch um Spielanteile duellieren.

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