Desillusioniert zurück zum FC Bayern München? Nicht nur Harry Kane bereitet Sorgen

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Harry Kane steht massiv in der Kritik, Kylian Mbappé behindert nicht nur seine Maske und auch Memphis Depay sowie Alvaro Morata treffen kaum: Alle vier EM-Halbfinalisten beklagen Tor-Krisen bei ihren Mittelstürmern. Das passt zum Turnier ganz generell.

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Kylian Mbappé? Bei Frankreichs Viertelfinal-Sieg gegen Portugal in der Verlängerung ausgewechselt. "Ich habe mich nicht mehr gut gefühlt, ich war zu müde", begründete der Superstar die ungewöhnliche Entscheidung. Ein Tor hatte er bis dahin nicht geschossen, beim letztlich siegreichen Elfmeterschießen stand er nicht mehr zur Verfügung.

Harry Kane? Auch er ließ sich bei Englands Weiterkommen gegen die Schweiz schon vor dem Elfmeterschießen freiwillig auswechseln. "Ich war einfach müde", erklärte Kane. "Ich hatte ein bisschen Krämpfe, nachdem ich über ein paar Wasserflaschen gestolpert bin." Trainer Gareth Southgate reagierte zwar schnell, konnte den Sturz seines Stürmers an der Seitenlinie aber nicht mehr verhindern.

Memphis Depay? Wie sein französischer und englischer Kollege blieb auch der niederländische Mittelstürmer im Viertelfinale torlos, gegen die Türkei gelang ihm aber immerhin der Assist zum zwischenzeitlichen Ausgleich. Einverstanden mit seiner Auswechslung für Joshua Zirkzee war Depay offensichtlich nicht. Fragend gestikulierte er in Richtung Ronald Koeman, auch Kapitän Virgil van Dijk schien unzufrieden mit der Entscheidung des Bondscoachs.

Alvaro Morata? Kein Tor und eine unauffällige Vorstellung beim spanischen Weiterkommen gegen Deutschland. Morata saß längst schon auf der Bank, als sich das Spiel dramatisch zuspitzte. Angeblich sah er dort eine Gelbe Karte, die ihn für das Halbfinale gesperrt hätte. Letztlich annullierte die UEFA diese Entscheidung aber.

Alle vier EM-Halbfinalisten eint, dass sich ihre Mittelstürmer in Tor-Krisen befinden. Nicht nur in den Viertelfinals hatten sie Probleme, sondern schon seit Turnierbeginn. Mbappé netzte erst einmal und zwar per Elfmeter, Depay und Morata halten bis dato ebenfalls bei lediglich einem Torerfolg. Mit zwei Treffern - darunter dem Siegtor im Achtelfinale gegen die Slowakei - ist Kane noch der gefährlichste ungefährliche Stürmer des Quartetts.

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Harry Kane und Kylian Mbappé: Ausgebremst von der Spielweise

Dennoch steht Kane in seiner Heimat massiv in der Kritik. Nach dem enttäuschenden Auftritt gegen die Schweiz zerrissen ihn Englands Medien und Experten und forderten bisweilen sogar eine Degradierung auf die Bank. Der 30-Jährige ist nicht wiederzuerkennen im Vergleich zu seiner starken Premieren-Saison beim FC Bayern samt Gewinn des goldenen Schuhs für Europas besten Torschützen. Bekommen die Münchner ihren Stürmer demnächst formlos und desillusioniert zurück?

Bei der EM gilt Kane als Gesicht einer erschreckend uninspirierten englischen Mannschaft. Aber auch die anderen so prominenten Offensivspieler Jude Bellingham, Phil Foden und Bukayo Saka kamen aufgrund von Southgates risikoscheuer Ausrichtung noch nicht zur Entfaltung. Alle Hoffnungen ruhen auf individuellen Geistesblitzen der Stars, Aktionen wie Bellinghams Fallrückzieher zum späten Ausgleich gegen die Slowakei.

Mit dieser Helden-Taktik schoss England in fünf Spielen immerhin fünf Tore, im Vergleich zu Frankreich ist das eine fast schon üppige Ausbeute. Die nominell beste Mannschaft des Turniers hält bisher erst bei drei Treffern: zwei Eigentoren sowie Mbappés verwandeltem Elfmeter.

Der 25-Jährige, kürzlich unter großem Trubel von Paris Saint-Germain zu Real Madrid gewechselt, erlitt beim Auftaktspiel gegen Österreich nach mehreren vergebenen Chancen einen Nasenbeinbruch. Im zweiten Gruppenspiel gegen die Niederlande musste er pausieren. Seitdem behindert Mbappé nicht nur Didier Deschamps abwartende Spielweise, sondern auch eine unpraktische Gesichtsmaske, zudem leidet er unter Rückenproblemen. "Er weiß, dass er nicht in Bestform ist", erklärte Deschamps. Im Zusammenspiel mit Marcus Thuram oder Randal Kolo Muani weicht Mbappé oft auf den linken Flügel aus.

EM 2024: Kane, Mbappé, Depay und Morata im Vergleich

KaneMbappéDepayMorata
Minuten464374426310
Tore2111
Erwartete Tore (xG)22,741,931,2
Schüsse15201711
Schüsse aufs Tor4834
Assists-11-
Ballkontakte pro 90 Minuten25,856,7948,1735,42
EM 2024, Niederlande, Depay
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Alvaro Morata und Memphis Depay: Immerhin treffen die anderen

England und Frankreich kamen letztlich dank stabilen Defensiv-Abteilungen, glücklichen Spielverläufen und sicheren Elfmeterschützen weiter. Bei den anderen beiden Halbfinalisten kompensierten die Tor-Krisen der Mittelstürmer immerhin noch andere Angreifer.

Die Niederlande stehen nach fünf Spielen bei neun Treffern, gefährlichste Schützen sind Linksaußen Cody Gakpo mit drei und Rotationsspieler Donyell Malen mit zwei Toren. Depay ist mit vielen Ballkontakten zwar ordentlich ins niederländische Spiel eingebunden, wird in der Heimat aber dennoch massiv hinterfragt. "Ich kann gut mit Kritik umgehen, ich bin daran gewöhnt", erwiderte der 30-Jährige lapidar. Seit seinem Vertragsende bei Atlético Madrid Ende Juni ist Depay übrigens vereinslos. Als Alternative stünde Brecher Wout Weghorst bereit.

Eine Degradierung Depays im anstehenden Halbfinale erscheint aber genauso unrealistisch wie bei Kane, Mbappé oder Morata, der bis dato lediglich beim irrelevanten dritten Gruppenspiel gegen Albanien auf der Bank gesessen hatte. Spanien zeigte bisher den ansehnlichsten und unberechenbarsten Fußball des Turniers, die zehn Treffer erzielten acht verschiedene Akteure. Der 31-jährige Kapitän Morata bindet als Wandspieler an vorderster Front Gegenspieler und schafft so Räume für die quirligen Außenstürmer Lamine Yamal und Nico Williams.

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EM 2024: Kein Turnier der Mittelstürmer

Generell ist diese EM kein Turnier der Mittelstürmer. Mit nur drei Treffern führt Gakpo die Torschützenliste gleichauf mit Jamal Musiala, dem Slowaken Ivan Schranz und dem Georgier Georges Mikautadze an.

Deutschlands falsche Neun Kai Havertz war zwar gut ins Spiel eingebunden und verwandelte zwei Elfmeter, erwies sich ansonsten aber als Chancentod. Polens Robert Lewandowski traf nur vom Punkt, Belgiens Romelu Lukaku nur irregulär und Portugals Cristiano Ronaldo gar nicht. Auch Dänemarks Rasmus Höjlund, Italiens Gianluca Scamacca und die Serben Dusan Vlahovic und Aleksandar Mitrovic blieben torlos.

Zum Vergleich: Bei den beiden vergangenen Europameisterschaften schossen die jeweiligen Torschützenkönige fünf (2021, Patrik Schick und Cristiano Ronaldo) respektive sechs (2016, Antoine Griezmann) Treffer, bei den beiden vergangenen Weltmeisterschaften sogar acht (2022, Lionel Messi) respektive sechs (2018, Harry Kane).

Die Krise der Mittelstürmer resultiert übrigens auch in einer generellen Tor-Krise. Bisher fielen bei dieser EM im Schnitt nur 2,25 Treffer pro Spiel. Unterboten wurde dieser Wert bei allen großen Turnieren dieses Jahrtausends lediglich bei der EM 2016 (2,12).

Auffällig: Bei keinem der vergangenen vier Turniere kam der Torschützenkönig von der Sieger-Nation. Als sich Italien 2021 zum Europameister krönte, schoss kein Italiener mehr als zwei Tore - diese Anzahl erreichten aber immerhin fünf. Die besten Schützen bei Portugals EM-Triumph 2016 waren Ronaldo und Nani mit je drei Treffern.

Den Rekord für die meisten Tore bei einer EM hält Michel Platini, der Regisseur schoss Frankreich 1984 in fünf Spielen mit neun Treffern zum Titel. Dass man auch ganz ohne treffsicheren Mittelstürmer einen Titel gewinnen kann, bewies Frankreich bei der WM 2018: Damals beendete der gesetzte Olivier Giroud das Turnier mit exakt null Toren.