Tottenham Hotspurs Erfolgslauf unter Jose Mourinho: Nahbar ins Machtvakuum

Trainer Jose Mourinho hat Tottenham an die Tabellenspitze der Premier League geführt.
© imago images / Sportimage

Erstmals seit über sechs Jahren steht Tottenham Hotspur an der Tabellenspitze der Premier League. Auf dem Weg dorthin profitierte Jose Mourinhos Mannschaft von einigen Faktoren - unter anderem einem aktuellen Machtvakuum in der Liga. Am Sonntag geht es in der Premier League auswärts gegen den FC Chelsea, bereits am Donnerstag in der Europa League gegen Ludogorez Rasgrad (21 Uhr live auf DAZN).

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Man mag es kaum glauben, aber im Februar 2020 ist es tatsächlich passiert: Jose Mourinho hat sich einem neuen Trend hingegeben. Jahrelang schien es ja so, dass Jose Mourinho nur einem einzigen Trend folgen würde und zwar: Alles so zu machen, wie es Jose Mourinho immer gemacht hat.

Auf dem Platz: Mit dem immer gleichen Defensiv-Fußball Titel erzwingen. Abseits des Platzes: Alles und jeden provozieren und kritisieren - mit der kleinen Anpassung, dass es zunehmend und vor allem bei seiner vorangegangenen Station Manchester United die eigenen Spieler waren. Als der einst bewunderte Mourinho vor ziemlich genau einem Jahr bei Tottenham Hotspur unterschrieb, galt er als nicht zukunftsfähig. Als Relikt der Vergangenheit.

Im Februar gab er sich dann - zugegeben mit etwas Verspätung - aber tatsächlich mal einem Trend hin und erstellte ein Instagram-Profil. Dort präsentiert er sich seitdem anders, als man ihn jahrelang wahrgenommen hat: Humorvoll statt griesgrämig, nahbar statt abgehoben. Mal sieht man ihn beim Schuheputzen und mal wegen einer verlorenen Wette mit Sergio Reguilon beim Jamon-Essen. Gespielt oder echt? Unklar. Klar ist aber, dass dieser Schritt seinem öffentlichen Image zuträglich war.

Zum einjährigen Jubiläum als Tottenham-Trainer postete Mourinho bei Instagram Fotos von seiner vielbesuchten Vorstellung sowie einer virtuellen Pressekonferenz und schrieb dazu: "Von einem vollen Raum in einen leeren, durch viel Arbeit und Emotionen." In der Premier League lautet die Zwischenbilanz: Von Platz 14 zur Tabellenführung, der ersten für Tottenham seit über sechs Jahren.

Tottenham unter Jose Mourinho: Wenige Gegentore, viele Tore

Errungen wurde sie am vergangenen Samstag dank eines 2:0-Sieges (Tore von Heung-Min Son und Giovani Lo Celso) gegen Pep Guardiolas Manchester City und zwar mit einer klassischen Mourinho-Spielweise: 35 Prozent Ballbesitz, 2:17-Torschüsse, 2:0-Tore.

Tottenhams Erfolgslauf aber auf destruktiven Fußball zu reduzieren, wird Mourinho keineswegs gerecht. Seine Mannschaft kassierte in der bisherigen Saison zwar die wenigsten Tore aller Klubs (neun), schoss aber vor allem dank ausgeklügelter Konterangriffe auch die zweitmeisten nach dem FC Chelsea (21) und zeigte spektakuläre Spiele. Beispielsweise ein 6:1 gegen Manchester United oder ein 5:2 gegen Überraschungsklub FC Southampton.

Was macht Tottenham derzeit so erfolgreich?

Tottenham: Sommerpause und sinnvolle Transfers

Bei seiner Ankunft schlug Mourinho viel Skepsis entgegen, die sich nach ersten Achtungserfolgen auch bald bestätigen sollte. Er tauschte Systeme und Personal (teils verletzungsbedingt) wild durch, begann eigene Spieler zu kritisieren (Tanguy Ndombele, Dele Alli), rutschte mit seiner Mannschaft kurz vor der Corona-Zwangspause in der Premier League ab und scheiterte im FA Cup und in der Champions League. Nach dem Restart zeigte sich die Mannschaft verbessert, ehe sie zur neuen Saison durchstartete.

Anders als die vermeintlich größten Premier-League-Rivalen (abgesehen vom derzeit verletzungsgeplagten FC Liverpool) nahm Tottenham im August an keinem europäischen Finalturnier teil und hatte somit eine längere Sommerpause. Die Spieler konnten sich einigermaßen erholen; Mourinho blieb Zeit für den Fokus auf den Transfermarkt, wo er sinnvoll zuschlug.

Mit Matt Doherty (17 Millionen Euro von den Wolverhampton Wanderers) und Sergio Reguilon (30 Millionen Euro von Real Madrid) kamen für verhältnismäßig wenig Geld zwei Außenverteidiger, die sich sofort Stammplätze eroberten und überzeugten. Pierre-Emile Höjbjerg (17 Millionen Euro vom FC Southampton) entwickelte sich als Sechser im mittlerweile etablierten 4-2-3-1-System zum zentralen Element in Tottenhams Spiel, laut Mourinho gar zum "Kapitän ohne Kapitänsbinde".

Dauerhafte Torgefahr dank Harry Kane und Heung-Min Son

Der aufsehenserregendste Neuzugang Gareth Bale machte bisher noch den unauffälligsten Eindruck, im Sturm gibt es aber auch den geringsten Bedarf an neuen Impulsen. Dort sorgen die jahrelangen Stammspieler Harry Kane und Heung-Min Son für dauerhafte Torgefahr: Mit 16 (Kane, neun Tore und sieben Assists) sowie elf (Son, neun Tore und zwei Assists) Scorerpunkten nach neun Spielen belegen sie aktuell die beiden Spitzenplätze im Premier-League-Ranking.

Kane ist aber nicht nur wegen seiner unglaublichen Masse an Scorerpunkten unersetzlich, sondern auch wegen seiner leicht modifizierten Spielweise. Anders als früher lässt er sich aktuell oft ins Mittelfeld fallen, bekommt dadurch selbst mehr Spielanteile und schafft Platz für die einlaufenden Flügelstürmer. Größter Profiteur davon ist derzeit Son, aber auch Bale sollte dieser Ansatz irgendwann zugutekommen.

Jose Mourinho: "Wir spielen nicht um den Titel"

Der Erfolgslauf hat viel mit Kanes Effizienz und Spielweise zu tun, mit der Sommerpause, den sinnvollen Transfers - aber auch mit der schwächelnden Konkurrenz.

Tottenhams 20 Punkte hätten nach einem neunten Spieltag nur in einer der vergangenen 18 Spielzeiten zur Tabellenführung gereicht. Die Dominatoren der jüngeren Vergangenheit City und Liverpool haben mit Sattheit und Verletzungen zu kämpfen, die der älteren Vergangenheit United und Arsenal stecken weiter in Identitätskrisen, das kolossal verstärkte Chelsea wirkt noch nicht ideal eingespielt und aufstrebende Mittelklasse-Klubs wie Leicester City oder dem FC Everton fehlt letztlich die individuelle Qualität.

Die Premier League wirkt ausgeglichen und unberechenbar wie lange nicht mehr. Es besteht ein Machtvakuum, das Tottenham aktuell am besten nutzt - obwohl sich Mourinhos Mannschaft mit spät verspielten Siegen gegen West Ham United und Newcastle United auch schon Patzer erlaubte. "Mourinho weiß, dass wir in der Lage sind zu gewinnen. Er ist der richtige Mann, um uns zum Titel zu führen", sagt Lucas Moura. "Die Zeit ist gekommen."

Premier League: Die aktuelle Tabelle

PlatzTeamSp.ToreDiffPkt.
1.Tottenham Hotspur921:91220
2.FC Liverpool921:16520
3.FC Chelsea922:101218
4.Leicester City918:12618
5.FC Southampton917:13417
6.FC Everton919:16316
7.Aston Villa819:11815
8.West Ham United915:10514
9.Wolverhampton Wanderers99:10-114
10.Manchester United813:14-113
11.Crystal Palace912:13-113
12.FC Arsenal99:10-113
13.Manchester City810:11-112
14.Leeds United914:17-311
15.Newcastle United910:15-511
16.Brighton & Hove Albion913:15-29
17.FC Burnley84:12-85
18.FC Fulham99:18-94
19.West Bromwich Albion96:18-123
20.Sheffield United94:15-111
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