Es ist die Szene, die das Spiel entscheidet. Kingsley Coman schnappt sich den Ball in der eigenen Hälfte und zieht einen Sprint an, um den Konter für den FC Bayern anzuschieben. Mit dem Leder am Fuß ist der Franzose schneller als sein Verfolger Gideon Jung. Der Hamburger setzt zur Grätsche von schräg hinten an und senst Coman aus vollem Lauf um. Schiedsrichter Marco Fritz zieht die Rote Karte.
Der Knackpunkt in einer Partie, in der sich die Münchner bis dahin schwer taten.
Eine Szene, die beim HSV für Frust sorgt: "Wir finden Rot zu hart. Da kann man auch Gelb geben. Jung war bemüht, den Ball zu treffen", zieht Sportdirektor Jens Todt nach der Partie die Entscheidung in Zweifel.
Inhaltlich geht die Analyse zwar an der Realität der Szene vorbei. Der Frust ist jedoch verständlich, hatten die Hausherren doch in der zweiten Halbzeit in Unterzahl nicht mehr viel entgegenzusetzen.
Comans Explosivität macht den Unterschied
Es ist die Explosivität Comans, die am Samstagabend den Unterschied ausmachte. Nicht nur wegen der Szene, die zum Platzverweis führte, war der Franzose der auffälligste Offensivspieler der Bayern.
Immer wieder ging er im Eins-gegen-eins an seinen Gegenspielern vorbei und hatte bei beinahe allen Offensivaktionen seine Füße im Spiel. Mit 11,22 Kilometern legte er die zweitlängste Laufstrecke bei den Münchnern zurück (Tolisso 11,23), zog darüber hinaus mit 24 die meisten Sprints an und kam mit 34,01 km/h auf die deutlich höchste Endgeschwindigkeit.
Zudem führte er die meisten Zweikämpfe (18), legte drei Torchancen direkt sowie mehrere indirekt auf und gab selbst drei Schüsse ab.
Coman unter Heynckes bislang stark
Für den Franzosen war es der dritte vielversprechende Auftritt im dritten Spiel unter Jupp Heynckes. In drei Partien war Coman an drei Toren direkt beteiligt, unter Carlo Ancelotti hatte er in 34 Pflichtspielen saisonübergreifend nur an sechs Treffern mitgewirkt.
Endlich, so die verbreitete Meinung, bekommt der Youngster das Vertrauen und die Einsatzzeiten, um sein Potenzial abzurufen und den nächsten Schritt in seiner Entwicklung zu machen. Schließlich hatte der Außenstürmer schwierige anderthalb Jahre hinter sich.
Nach einer schwachen Heim-EM in Frankreich, bei der er zwar in sechs Spielen auf dem Platz stand, jedoch an keinem einzigen Tor direkt beteiligt war, folgte eine bittere zweite Saison in München.
Zwei schwere Verletzungen warfen ihn zurück: Zunächst verpasste er weite Teile des Starts unter Ancelotti aufgrund einer Kapselverletzung, später fehlte er monatelang wegen eines Kapselrisses im Sprunggelenk und eines Außenbandrisses im Knie. Infolgedessen fand er nie zu der Form, die er in seiner ersten Spielzeit unter Pep Guardiola andeutete.
Coman litt unter Ancelottis Anti-Jugendstil
Darüber hinaus litt Coman darunter, dass Ancelotti speziell in der Rückrunde kaum noch auf junge Spieler setzte. Ein Schicksal, das er unter anderem mit Joshua Kimmich und Renato Sanches teilte. Insgesamt stand er in der vergangenen Spielzeit nur zehn Mal in der Bundesliga-Startelf, in der Champions League sogar kein einziges Mal. Zum Vergleich: Unter Guardiola hatte Coman in seiner ersten Bayern-Saison noch 20 Bundesliga- und vier Champions-League-Spiele begonnen.
Dass die Bayern dennoch die Kaufoption zogen und Coman für 20 Millionen Euro fest von Juventus verpflichteten, war aufgrund seiner Anlagen zwar verständlich, angesichts der Entwicklungen und der Perspektive eines langfristigen Ancelotti-Engagements jedoch zu dem Zeitpunkt nicht mehr selbstverständlich.
Auch in die neue Saison startete der Franzose nicht mit dem größten Kredit. Neben sportlich durchwachsenen Eindrücken wurde Coman wegen häuslicher Gewalt zu einer Geldstrafe verurteilt.
Dembele und Mbappe überstrahlen Coman
Während andere französische Talente wie Ousmane Dembele oder Kylian Mbappe aufgrund ihrer millionenschweren Wechsel die Schlagzeilen dominierten und auf der Hype-Welle ritten, drohte Coman unterzugehen. Zumal er klubintern unter Ancelotti im Ranking der Offensivspieler nicht nur hinter Franck Ribery und Arjen Robben, sondern auch hinter James Rodriguez und Thomas Müller rangierte.
Vier Wochen nach der Entlassung des Italieners sieht die Welt anders aus. Plötzlich wirkt sein Trainer erleichtert, als er auf der Abschluss-PK vor der Pokal-Partie bei RB Leipzig (20.45 Uhr im LIVETICKER) verkündet, dass er davon ausgehe, "dass Coman von Anfang an spielen wird." Die Qualitäten des 21-Jährigen sind beim FC Bayern gefragt wie nie zuvor, er ist erstmals gesetzter Stammspieler. Aus verschiedenen Gründen.
Einerseits fehlen die Alternativen, da Ribery wegen eines Außenbandrisses bis Jahresende fehlt und nun auch Müller (Muskelfaserriss) und James (Rückenprobleme) ausfallen.
Heynckes protegiert Coman
Andererseits gibt ihm Heynckes das Vertrauen. Als Trainer, der eher auf einen festen Stamm als auf wilde, häufige Rotation setzt, protegiert er Coman. "Mir hat es immer Spaß gemacht, mit jungen Spielern zu arbeiten", erklärte der 72-Jährige zuletzt - ein offensichtlicher Unterschied zu Ancelotti. "Er ist so ein junger Spieler, der von mir besonders gefördert wird. Er ist wie viele noch nicht ausgereift, er muss in den Verbund und die Taktik eingegliedert werden."
Durch die steigenden Einsatzzeiten zeigten sich zuletzt hinsichtlich jener Eingliederung in den Verbund deutliche Fortschritte. Vor allem das Zusammenspiel mit David Alaba auf der linken Seite funktionierte immer besser.
Coman selbst sieht die körperliche Fitness als Grundlage für seine ansteigende Form: "Wichtig war, dass ich die komplette Sommer-Vorbereitung mitmachen konnte. Meine Spielweise verlangt eine optimale körperliche Verfassung und seit einigen Wochen fühle ich mich bei 100 Prozent", erklärte er gegenüber bundesliga.de.
All dem Hype zum Trotz ist es noch zu früh, Coman bereits zum legitimen Nachfolger von Robbery zu stilisieren. Der Franzose muss erstens sein hohes Niveau stabilisieren und zweitens an seiner Effizienz arbeiten.
Stark im Eins-gegen-eins, wenig Ertrag
Zu präsent sind Eindrücke wie aus dem Spiel gegen Hoffenheim, als er sich ebenfalls häufig auf Außen durchtankte, jedoch nur zwei von 14 Flanken (!) an den Mann brachte. Es war in der Vergangenheit ein wiederkehrendes Muster, dass Coman zwar seine Eins-gegen-eins-Duelle gewann, daraus jedoch wenig bis nichts Zählbares kreierte.
Ein Punkt, an dem Heynckes ansetzen will: "Ich habe ihm gesagt, dass er ein bisschen Tempo rausnehmen und schauen soll, wo der Mitspieler ist, bevor er flankt."
Zudem hat Coman im Verständnis dafür, wann er ins Dribbling gehen und wann er den Pass spielen sollte, Luft nach oben. In den beiden Spielen gegen Freiburg (15) und Hamburg (19) hatte er die meisten Ballverluste seines Teams, gegen Celtic die zweitmeisten (16). Und um zum Publikumsliebling aufzusteigen, täte dem 21-Jährigen ein leidenschaftlicheres Engagement im Spiel gegen den Ball gut. Selbst Robben und Ribery erhalten den größten Szenenapplaus für aufopferungsvolle Grätschen - siehe Robben gegen Celtic.
Coman hat das Zeug, sich beim FC Bayern langfristig zu einem Leistungsträger zu entwickeln, keine Frage. Das Urteil von Kollege Alaba, er sei "auf einem sehr guten Weg, ein Weltklassespieler zu werden", kommt jedoch zu früh. Dafür hat Coman bislang zu inkonstant performt. Zumindest hat er nun jedoch die Gelegenheit, sich anzubieten. Als ernsthafter Konkurrent für Ribery, wenn dieser wieder zur Verfügung steht. Und als 1a-Lösung für die Nachfolge der Altstars.
Noch ist er nicht der legitime Nachfolger von Robbery. Es ist bestenfalls die Genesis. Die Ausschöpfungsgeschichte seines Potenzials.