Bei Borussia Dortmund versucht man, das Thema des Wochenendes zu beenden. Nachvollziehbar, schließlich steht bereits am Dienstag mit dem Champions-League-Spiel gegen den FC Sevilla ein wegweisendes Duell an. "Unsere Verantwortlichen haben allesamt gesagt, dass es aus unserer Sicht ein klares Foulspiel war, Edin übrigens auch, und damit ist das Thema für uns dann auch durch", ließ der Pressesprecher des BVB am Montag ausrichten.
So leicht ist es freilich nicht getan, denn der von Kapitän Marco Reus vorgebrachte Vorwurf, Schiedsrichter Marco Fritz hätte am Samstagabend bei der Begegnung zwischen dem FC Bayern und der Borussia unter verkehrten Vorzeichen die Szene zwischen Leroy Sane und Emre Can anders bewertet, bleibt ja im Raum stehen.
"Das einzige Problem in dieser Szene ist die Emotionalität, die sie aufgrund des wenig später entstandenen Tores mit sich brachte. Hätte Dortmund 3:0 geführt und nach diesem Zweikampf wäre das 3:1 gefallen, niemand hätte sich beschwert", sagt der Schweizer Urs Meier, der zehn Jahre lang FIFA-Schiedsrichter war und zu den Besten seines Fachs gehörte, im Gespräch mit SPOX und Goal.
Für den 62-Jährigen gibt es gerade bei Foulspielentscheidungen kein Schwarz oder Weiß: "Es geht oft um den Graubereich - und dann kann es in beide Richtungen gehen. Das muss man einfach akzeptieren, das gehört zum Fußball. Wenn man das nicht akzeptieren kann, muss man die Sportart wechseln. Schiedsrichter sind keine Betrüger."
Bayern-Bonus? Ex-FIFA-Schiri Meier bezieht Stellung
Betrug haben die Dortmunder Schiri Fritz selbstverständlich nicht unterstellt, doch eine Wortschöpfung wie der "Bayern-Dusel" hat sich über die Jahre mindestens genauso etabliert wie ein vermeintlicher "Bayern-Bonus" bei den Schiedsrichtern. Dabei belegen Erhebungen des Datenanbieters Deltatre jedenfalls für die laufende Saison, dass der FCB in Sachen Toren, Elfmetern und Platzverweisen bei strittigen Entscheidungen öfter benachteiligt als bevorzugt wurde.
"Wenn man als Schiedsrichter nicht die notwendige Neutralität aufbringt oder in einem Spitzenspiel nicht mit dem Druck umgehen kann, dann merkt dies das Umfeld sofort", sagt Meier. Der Leiter des CL-Finals von 2002 ist sich zudem sicher, dass das Thema Bonus-Behandlung durch Schiedsrichter in so gut wie jedem Land rund um die erfolgreichen und polarisierenden Klubs diskutiert wird. "Es kann immer einmal einen Schiedsrichter geben, der nicht die Stärke hat, dagegen anzukommen. Das sind jedoch Einzelfälle, die zudem nicht lange an der Spitze des Schiedsrichterwesens stehen."
Dass Reus am Wochenende seine deutlichen Worte im Zustand höchster emotionaler Erregung gesprochen hat, ist nachvollziehbar. Daher sollte man in dieser Debatte gewiss auch die Empfindungen der Spielerseite hören, die ständigen Umgang mit den Männern an der Pfeife pflegen.
Kirchhoff: "Als Bayern-Spieler war es angenehmer als in Mainz"
Jan Kirchhoff, der von 2013 bis 2016 beim FC Bayern unter Vertrag stand und kürzlich seine aktive Karriere beendete, sieht es als richtig von Reus an, sich derart geäußert zu haben: "Denn wenn man das einfach so über sich ergehen lässt, widerspricht das sozusagen ein bisschen dem Leistungsgedanken. Ich finde es gut, dass er dazu einmal öffentlich Stellung bezogen und versucht hat, die kleinen Kniffs zu nutzen, um sich dadurch in Zukunft vielleicht doch einen Vorteil zu verschaffen", sagt der 30-Jährige zu SPOX und Goal.
Gibt es diesen Vorteil häufiger, wenn man beim deutschen Rekordmeister spielt? Für Kirchhoff jedenfalls schon: "Ich glaube, dass es ein Vorteil ist, da die Spieler des FC Bayern einfach bekannter sind und sie im besten Fall mehr Sympathie entgegengebracht bekommen als ein No-Name. Den Bayern und einem deutschen Nationalspieler fliegen normalerweise mehr Sympathien zu, sodass man im zwischenmenschlichen Bereich ein anderes Standing beim Schiedsrichter besitzt als ein normaler Bundesligaspieler."
Die veränderte Wahrnehmung als Spieler in München bekam Kirchhoff am eigenen Leibe zu spüren. Von 2008 bis 2013 spielte er noch für den 1. FSV Mainz 05. "Für mich persönlich war das als Bayern-Spieler natürlich deutlich angenehmer als zuvor in Mainz. Damals hat mich der Schiedsrichter oft weggeschickt oder ich bekam schnell eine Gelbe Karte, wenn ich mich mit ihm angelegt habe", sagt der Defensivspieler.
"Im Umgang ist es einfacher, für Bayern München zu spielen"
Kirchhoffs Erfahrung nach habe man eine leichtere Handhabung mit dem Schiedsrichter, sobald er "deinen Namen kennt und dich wahrnimmt, man agiert auf einmal auf Augenhöhe". Dies sei als Spieler eines kleineren Vereins etwas schwieriger: "Dann reden die Schiedsrichter teilweise von oben herab und nehmen dich nicht so wahr. Das Standing spielt gewiss eine Rolle. Im Umgang untereinander ist es auf jeden Fall einfacher, für Bayern München zu spielen."
Man erinnere sich in diesem Zusammenhang beispielsweise an den Vorfall zwischen Bayerns Franck Ribery und Schiedsrichterin Bibiana Steinhaus aus dem August 2017. Der Franzose öffnete im Pokalspiel gegen den Chemnitzer FC kurz vor der Ausführung eines Freistoßes den Schnürsenkel der Unparteiischen. Steinhaus reagierte abgeklärt und Ribery verwandelte zum 4:0.
"Ob das genauso passiert wäre, wenn es ein unbekannter Spieler eines kleineren Klubs getan hätte?" fragt Kirchhoff und liefert seine Antwort gleich mit: "Der hätte sich vermutlich nicht getraut."