Die Himmelsstürmerin von Paris

Jelena Ostapenko
© GEPA

Wild, aufrührerisch, kokett: French-Open-Finalistin Jelena Ostapenko hat viele Gesichter und greift nun nach dem größten Karriereerfolg.

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Es gibt nicht viele Menschen, die einen neuen Tennisstar wie Jelena Ostapenko besser als sie einschätzen können, besser als die große Chris Evert (62). Eine der besten Tennisspielerinnen aller Zeiten ist die elegante US-Amerikanerin gewesen, und seit vielen Jahren sie ist auch eine hellsichtige, scharfzüngige, unbestechlich urteilende TV-Kommentatorin. Als sie nun diese Jelena Ostapenko in Paris zum ersten Mal "so richtig gesehen und erlebt" habe, sagte Evert, sei das ein sehr spezielles Gefühl" gewesen: "Ich dachte mir, da passiert etwas Besonderes. Da ist eine Spielerin, die das gewisse Etwas hat." Evert sagte auch, sie habe sich an jene Momente erinnert, da Steffi Graf und Martina Hingis die Tennisbühnen betreten hätten, zwei Spielerinnen also, die zu beherrschenden Kräften der Branche wurden, Nummer-1-Spielerinnen, Grand-Slam-Siegerinnen.

Kann Ostapenko das auch schaffen? In der frappierenden Unberechenbarkeit, die das internationale Frauentennis gerade kennzeichnet, in dieser Welt ohne klare Hackordnung und Hierarchie, ist vieles, fast alles möglich, auch für Ostapenko, diese wilde, aufrührerische, oftmals provozierende, auch undisziplinierte Newcomerin. Sie ist jedenfalls eine äußerst verblüffende Spielerin, und dies keineswegs nur, weil sie jetzt mit gerade einmal 20 Jahren als ungesetzte Außenseiterin und Weltranglisten-Nummer 47 das French-Open-Finale erreicht hat und am Samstag gegen die favorisierte Rumänin Simona Halep nach dem Titel greift.

Nicht besonders beliebt bei Kolleginnen

Leicht zu fassen ist sie nun wirklich nicht. Wenn man es gut mir ihr meint, dann kann man sie als aufregend, als spannend und durchaus auch faszinierend beschreiben, auf keinen Fall ist sie eine dieser austauschbaren Nomadinnen im Wanderzirkus mit ihrem austauschbaren Spiel und austauschbaren Antworten. Betrachtet man ihr Wirken und ihre Erscheinung etwas kritischer, und das tun auch sehr viele ihrer Kolleginnen, dann fallen gerne Charakterisierungen wie streitsüchtig, verzogen, hitzköpfig. Beliebtheitswettbewerbe würde sie kaum gewinnen bei der lieben Konkurrenz, aber zu vermuten ist, dass das auch so ziemlich das Letzte ist, was diese Himmelsstürmerin aus dem Baltikum will.

Ostapenko will Matches gewinnen, immer, andauernd, gegen jede, auch gegen jede der Großen und Starken der Welt. Sie bringt alles dafür mit, die Technik, das taktische Gefühl. Was sie nicht hat, ist Angst. Sie spielt furchtlos, konsequent und aggressiv, auch wenn sie eine der wichtigen Bühnen betritt, so wie jetzt Roland Garros in Paris. Im Spiel, im Zweikampf wirkt sie wie eine Naturerscheinung, dabei auch unverwechselbar. Sie ist, schon jetzt, eine Marke, ein eigener, sehr besonderer Charakter. Bei den Ausscheidungsspielen unterm Eiffelturm trommelte sie bis zum Finaleinzug bereits 245 Gewinnschläge ins gegnerische Feld, pro Match im Schnitt also 41 Volltreffer. Ihre Vorhand peitscht sie, das haben Messungen ergeben, sogar schneller als Andy Murray herüber zu den Gegnerinnen - und nur einen Hauch weniger schnell als etwa Matador Rafael Nadal. "Das ist mein Spiel: Schnörkellos, direkt", sagt Ostapenko.

Man weiß nie, was kommt

Als potenzieller Star der Zukunft hatte sie sich schon vor drei Jahren angekündigt, damals gewann sie das Juniorinnen-Turnier in Wimbledon. Kein Wunder, dass sich einer der gewieftesten Geschäftemacher im Welttennis, der ehemalige Murray-Geschäftsbesorger Ugo Colombini, schon seiner Dienste bei Ostapenko versichert hat. Langweilig dürfte es Colombini nicht werden mit der Lettin, genau so wenig wie den Fans, die ein bisschen hin- und hergerissen werden bei dieser ungestümen, wilden, koketten, krassen Hauptdarstellerin. Was als nächstes bei ihr kommt, und was nicht, ist stets ungewiss - auch das ist Teil ihrer Anziehungskraft. Als sie gegen die Schweizerin Timea Bacsinszky ins Finale einzog, ballerte sie zwar 50 Gewinnschläge in die Matchstatistik, addierte aber auch 45 Fehler auf. Dreimal lag sie in den letzten beiden Wochen schon hinten gegen ihre Gegnerinnen, auch gegen Caroline Wozniacki und Samantha Stosur, machte ein 0:1-Satzdefizit aber ruckzuck wett.

"Sie ist eine große Fighterin. Und sie kann schnell reagieren, wenn etwas falsch läuft. Sie ist sowieso schnell in allem, was sie tut", sagt ihre Trainerin Anabel Medina Garrigues, "sie redet schnell, sie spielt schnell, sie handelt schnell." Schnell gewinnen gegen Halep, überhaupt gewinnen, das wird so eine Sache. Ostapenko, die geschulte Turniertänzerin, spielt und bewegt sich gut im Sand von Roland Garros, aber keine ist geschmeidiger, flinker als die Rumänin Halep. Vieles deutet darauf hin, dass Haleps Triumphmoment in Paris bevorstehen könnte, dass die Zeit reif ist für sie. Aber nichts ist eben auch unmöglich, wenn auf der anderen Seite des Netzes eine steht wie Ostapenko. Die Unberechenbarkeit in Person.

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