NBA

Scottie Barnes: Das Symbol für den Zwiespalt der Toronto Raptors

Von Julius Ostendorf
barnes
© getty

Scottie Barnes hat in seiner ersten Saison bei den Toronto Raptors schnell für Aufsehen gesorgt. Doch seitdem sucht der junge Forward seinen Platz im offensiven System der Kanadier. Schuld daran ist das fragwürdige Kaderkonzept.

Anzeige
Cookie-Einstellungen

Die großen Lichter gehen aus, es wird dunkel in der Scotiabank Arena in Toronto. Nur vereinzelt leuchten weiße Handy-Taschenlampen auf den Rängen. Doch mit jeder Sekunde kommen weitere kleine Lichter hinzu, bis man irgendwann glaubt, in den Nachthimmel zu blicken.

Ein lauter Knall und eine basslastige Version von Travis Scotts "Modern Jam" featuring Teezo Touchdown beenden die romantische Atmosphäre. Es geht los. Die Starting Five der Toronto Raptors stürmt aufs Parkett und ein Spieler nach dem anderen erntet tosenden Applaus.

Ein Mann wird von den Zuschauern besonders warm empfangen. "Ya Boy, Scottie Barnes", brüllt der Hallensprecher. Ihren Jungen - den lieben sie hier.

In seinen knapp zwei Jahren in "the Six", wie Toronto auch genannt wird, hat er die Herzen eigentlich aller Menschen um sich herum erobert. Mitspieler, Fans, Verantwortliche, ja sogar die Sicherheitsleute der Arena schwärmen von Barnes' einfühlsamer Art.

scottie-barnes-1200
© getty

Scottie Barnes: Hustle wie ein Rollenspieler, Körper wie ein Star

"Er ist einfach ein geselliger Typ", sagte Patrick Engelbrecht, Direktor der globalen Scoutingabteilung der Raptors einmal. Er war maßgeblich an der Entscheidung beteiligt, Barnes im Draft 2021 an vierter Stelle zu wählen. "Er gibt den Leuten Energie und bekommt sie von ihnen."

Eine Eigenschaft, die sich auch auf seine sportlichen Auftritte übertragen lässt. "Er hat die Energie eines Rollenspielers und den Körper eines Stars", sagt Raptors-Beatwriter Eric Koreen von The Athletic.

Wenn er sich wohl fühlt, liefert er ab. So geschehen in seiner Rookie-Saison 2021/22, in der der in Florida geborene Barnes 15,3 Punkte und 7,5 Rebounds pro Spiel erzielte. Seine effektive Wurfquote von 52,4 Prozent wurde von allen Raptors-Spielern mit mindestens fünf Versuchen pro Spiel nur knapp von den Starspielern O.G. Anunoby (52,6 Prozent) und Pascal Siakam (52,5 Prozent) übertroffen.

"Viele junge Spieler in der Liga haben diesen unbedingten Siegeswillen. Aber [Scottie Barnes] hat das gewisse Etwas", attestiert ihm Kevin Durant. Am Ende seines ersten Jahres in der NBA erntete der Youngstar der Raptors die ersten Lorbeeren für seine Leistungen. Knapp vor Clevelands Evan Mobley gewann Barnes den Titel "Rookie of the Year 2021".

barnes-nurse
© getty

Scottie Barnes: Das zweite Jahr war enttäuschend

Die Stimmen, die den Draft von Barnes anfangs noch kritisiert hatten und lieber den späteren Magic Guard Jalen Suggs im Norden gesehen hätten, sie waren plötzlich verstummt. Von allen Seiten gab es nun Lob für die Entscheidung von Team-Präsident Masai Ujiri. Doch schon im folgenden Jahr zeigte sich, dass diese auch ihre Probleme bereithielt.

Die anfängliche Euphorie, die Barnes in seiner ersten Saison ausgelöst hatte, wich der harten Liga-Realität. Eine gute Leistung im Vorjahr steigert automatisch die Erwartungen im nächsten Jahr. Und wie wir heute wissen, trug auch der damalige Raptors-Coach Nick Nurse nicht gerade zu der für Barnes so wichtigen Wohlfühlatmosphäre bei.

Als Barnes Ende Oktober auf das Wiedersehen mit seinem Ex-Coach angesprochen wurde, der nach seinem Abschied aus Toronto mittlerweile Trainer der Philadelphia 76ers ist, reagierte Barnes zurückhaltend. "Ich habe nicht wirklich zu ihm hinübergeschaut, ich habe mich nur auf das Spiel konzentriert. Gut, ihn zu sehen ... schätze ich."

Die Antwort spiegelt die Leistungen von Barnes in seinem zweiten Jahr wider. Weniger Emotionen, weniger Energie und vor allem sportliche Stagnation. In keinem Bereich konnte er sich im Vergleich zu seiner Debütsaison signifikant verbessern. Die Wurfquoten aus dem Halbfeld und von der Dreierlinie sackten sogar auf 45,6 Prozent (vorher 49,2) respektive 28,1 Prozent (vorher 30,1) ab.

barnes-siakam
© getty

Scottie Barnes: Funktioniert es mit Siakam?

Die Leistung von Barnes entwickelte sich ähnlich wie die des übrigen Kaders. Trotz nur marginaler personeller Veränderungen machte das Team einen sichtbaren Rückschritt. Die Ausbeute von 48 Siegen im Vorjahr schrumpfte auf 41, die Playoffs wurden verpasst. Überhaupt gewannen die Kanadier seit dem Titelgewinn 2019 gerade einmal eine Serie. "Ich habe es nicht genossen, uns in diesem Jahr spielen zu sehen. (...) Manchmal müssen wir etwas ändern und nach vorne schauen", meinte auch Ujiri rückblickend.

Die naheliegendste Lösung schien die Trennung von Head Coach Nick Nurse zu sein. Doch dessen scheinbar fehlende Motivation war allenfalls ein Teil der Antwort. Die Konzeption des gesamten Kaders warf Fragen auf.

Wie viele bullige Forwards mit (bestenfalls) mittelmäßigem Wurf verträgt ein Team? Die Antwort der Raptors auf diese Frage schien in den letzten Jahren immer zu lauten: "Mehr!" An der Spitze dieser Problematik stehen mit Pascal Siakam und Scottie Barnes die aktuellen Topscorer des Teams.

barnes-shotchart
© nba.com/stats

Beide profitieren von ihrer Größe und Physis, vom Scoring in Korbnähe. Der Wurf vom Perimeter oder von außen gehört zu ihren Schwächen, weshalb defensive Anpassungen gegnerischer Teams - insbesondere das Absinken im Eins-gegen-Eins - wie Allzweckwaffen wirken.

"Wenn man sieht, wie diese Jungs verteidigt werden, ist es klar, dass sie mehr Würfe nehmen und treffen müssen", weiß auch Raptors-Trainer Darko Rajakovic. "Das würde mehr Platz schaffen und den Weg für Drives zum Korb freimachen." Und auch wenn Scottie Barnes aktuell Bestwerte von der Dreierlinie erzielt, bleibt der Distanzwurf die größte Sorge des Teams.

barnes-wurf
© getty

Scottie Barnes: Die Raptors und die Wurfschwäche

In der laufenden Saison treffen die Toronto Raptors 34,5 Prozent ihrer Würfe von außen - Rang 25 im ligaweiten Vergleich. In den drei Spielen ohne Gary Trent Jr. und O.G. Anunoby brach die Quote sogar auf 25,6 Prozent ein. Sicherlich ist eine Statistik, die auf einer Stichprobe von drei Spielen beruht, nicht die aussagekräftigste. Sie lässt aber erahnen, wo die Probleme der Raptors liegen.

Aber nicht nur deshalb müssen wichtige Fragen zur Zukunft der Mannschaft beantwortet werden. Zum Saisonende laufen acht Verträge aus, darunter von Schlüsselspielern wie Siakam und Trent Jr., Anunoby besitzt außerdem eine spielerseitige Option, die er aller Voraussicht nach nicht ziehen wird.

Die Raptors scheinen am Scheideweg zu stehen, der Saisonstart mit 8-10 verheißt ebenso wenig Gutes. Glauben sie noch daran, auch in Zukunft ganz oben angreifen zu können? Nur dann wäre es wohl möglich, die vakanten Spieler Siakam, Trent Jr. oder Anunoby vom gemeinsamen Weg zu überzeugen.

"Wir in der Kabine finden uns sehr stark und ich glaube, dass wir wirklich viel erreichen können mit dem Team", ist sich Raptors-Point Guard Dennis Schröder sicher. Gleichzeitig gibt er aber zu: "Wir sind noch in der Findungsphase unserer Identität, um zu verstehen, was wir bringen müssen, um in jedem Spiel erfolgreich zu sein." Die Frage ist nur, ob man die Zeit dafür auch besitzt.

Scottie Barnes
© imago images

Scottie Barnes: Steht er für den Rebuild in Toronto?

Andernfalls wäre es wohl eine Option, einen Ausverkauf herbeizuführen - und zwar lieber früher als später. Denn schon im Sommer könnten sonst jene Spieler für einen Tausch nicht mehr zur Verfügung stehen. An dieser Stelle stellt sich erneut die Frage nach der Kompatibilität von Siakam und Barnes und einer möglichen Trennung des Forward-Duos.

Dabei scheint relativ klar zu sein, wen eine solche Maßnahme in erster Linie betreffen würde. Im Umfeld der Toronto Raptors ist es mittlerweile ein offenes Geheimnis, dass es nur einen Spieler im Team gibt, der als "untradeable" gilt und für die Zukunft unverzichtbar ist. Es ist derselbe Spieler, der seit seiner Rookie-Saison zunehmend die dicken Werbeverträge an Land zieht, bei der Vorstellung vor den Spielen den lautesten Applaus einheimst und zum jungen Gesicht der Franchise geworden zu sein scheint. Ya Boy, Scottie Barnes.

Scottie Barnes: Seine Statistiken in der NBA

SaisonSpieleMINPTSFG%3P%REBAST
21/227435,415,349,230,17,53,5
22/237734,815,345,628,16,64,8
23/241834,518,945,238,09,25,6