NBA

Legenden-Serie: Allen Iverson - Einer gegen alle

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© getty

Auch wenn Allen Iverson der große Traum einer Championship verwehrt blieb, war er doch eine der prägendsten Figuren der letzten 20 Jahre. Der kleinste Mann mit dem größten Herzen. Fan-Liebling und Albtraum des Establishments. Wohltäter mit Verbrecher-Image. Zum 43. Geburtstag blicken wir zurück auf einen der komplexesten Sportler unserer Zeit. Alle weiteren Artikel zu den größten Spielern aller Zeiten gibt es in unserem Archiv.

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2001. Finals. Game 1. Staples Center. Overtime. Die ShaKobe-Lakers haben seit dem ersten April kein Spiel mehr verloren, jetzt führen sie mit drei Punkten. Weniger als zwei Minuten sind noch zu spielen, als Allen Iverson, der seine letzten fünf Würfe vergeben hat, an die Freiwurflinie geht.

Beide drin. Fehlwurf Lakers, Sixers im Ballbesitz. Iverson nimmt und trifft den Dreier. Die Lakers vergeben wieder. Iverson schickt seinen Verteidiger Tyronn Lue mit einem erbarmungslosen Crossover auf die Bretter und trifft den Jumper, danach steigt er über den am Boden liegenden Lue und rennt zurück in die Defense. Die Sixers bringen das Spiel nach Hause, Iverson verbucht 48 Punkte.

Der MVP der regulären Saison schafft damit, was ihm niemand zugetraut hatte. Zu mächtig schienen die Lakers um ihren Hünen Shaq und seinen Sidekick Kobe Bryant. Die Prognosen sollten sich in den nächsten vier Spielen (alles Lakers-Siege) auch bestätigen, trotzdem hatte sich der nur 1,83 m "große" Iverson als Superstar in der Liga etabliert.

Der Weg dahin war gelinde gesagt kein einfacher, er glich stattdessen immer wieder einem Kampf - gegen das Establishment, gegen das Gesetz, gegen Coaches, gegen viel größere Spieler, gegen Double- und Triple-Teams, gegen Kritiker und nicht zuletzt gegen sich selbst. Nur seine Mutter Ann stand immer an der Seite von dem Mann, den sie "The Answer" nannten.

Wunderkind aus dem Ghetto

Iverson wächst in einer miesen Gegend namens Hampton, Virginia auf. Seine Mutter ist zum Zeitpunkt seiner Geburt erst 15 Jahre alt und arm wie eine Kirchenmaus. Für ihn macht sie jedoch immer wieder Abstriche. So bezahlt Ann Iverson vor einem AAU-Turnier ihre Stromrechnung nicht, weil sie das Geld stattdessen in neue Basketballschuhe für ihren Filius investieren will.

Denn der junge AI zeigt schon früh seine Ausnahmebegabung - allerdings beim Football. Basketball sei ihm "zu weich", sagt er seiner Mutter. Die möchte davon jedoch nichts wissen und zwingt ihn förmlich, sich auch mal am orangenen Leder zu versuchen.

Ein voller Erfolg. Der damals Zehnjährige zeichnet sich sofort durch sein Löwenherz aus und sprintet schneller als der Duracell-Hase, das Spiel fliegt ihm zu und wird zusehends zu seinem Refugium aus dem harten Alltag.

Von da an geht der Aufstieg rasant voran, sowohl beim Football als auch beim Basketball wird er Staatsmeister von Virginia und Spieler des Jahres. Auch sein Selbstbewusstsein sowie seine große Klappe steigern sich in diesen Jahren bis ins Unermessliche. Seinem Trainer an der High School sagt er etwa, dass er "MJ fertig machen" könne.

Wunderknabe hinter Gittern

Das macht die Person und den Spieler Iverson aus - der Mann ist entwaffnend ehrlich und sagt immer, was er denkt. Auf dem Platz hält er sich in jeder Partie für den besten Spieler, also sieht er es auch als selbstverständlich an, dass er die wichtigen Würfe nimmt und den Ball den Großteil des Spiels in den Händen hält.

Die Colleges stehen Schlange, um den Wunderknaben zu rekrutieren, bis der auf einmal verhaftet wird. Iverson soll in eine Schlägerei auf einer Bowlingbahn involviert gewesen sein und wird zu fünf Jahren Haft verurteilt, bis ihn der Gouverneur von Virginia nach vier Monaten begnadigt. Der Teenager ist wieder auf freiem Fuß, das Interesse der Colleges jedoch verflogen.

Die Georgetown University erbarmt sich und soll es nicht bereuen. Nach zwei erfolgreichen Jahren für die Hoyas meldet sich Iverson zur Draft an und wird in einem hochkarätigen Jahrgang unter anderem mit Kobe Bryant, Ray Allen, Stephon Marbury und Steve Nash zum Nummer-1-Pick.

Iverson zieht sein Spiel auch in der NBA durch. Jedes Spiel geht er an, als wäre es sein Letztes. "Solange du alles, was du hast, auf dem Court lässt, kannst du in der Umkleide in den Spiegel sehen und dich gut fühlen. Das ist das Wichtigste", beschreibt er seine Einstellung zum Spiel. Er verkörpert diese Maxime wie kein anderer.

Ein Dorn im Auge der Liga

Die Sixers sind zwar auch mit ihm zunächst erfolglos, dafür ist sein Spiel eine Attraktion. Er wird Rookie des Jahres, macht in fünf aufeinanderfolgenden Spielen über 40 Punkte und lässt nicht zuletzt Michael Jordan mit seinem Killer Crossover wie einen Schuljungen dastehen. Jeder will diesen furchtlosen Winzling sehen, wie er immer wieder in die Zone zieht und seine alien-artige Athletik demonstriert.

Die Zuschauer - insbesondere die jüngeren - bewundern Iverson, weil sie sich mit ihm identifizieren können. Der viermalige Scoring-Champion ist kleiner als Brigitte Nielsen und lässt sich trotzdem von niemandem einschüchtern. Es hat schon etwas Schmerzhaftes, ihn immer wieder stürzen zu sehen, aber er steht jedes Mal wieder auf.

Für Iverson ist jedes Spiel ein Kampf bis zum Tod, er lebt nach dem Prinzip, dass nur der Starke überleben wird. Das macht ihn einerseits erfolgreich, andererseits aber auch zum Dorn im Auge der Liga. Denn während Superstars wie allen voran Michael Jordan perfekt zur Vermarktung einer familienfreundlichen NBA geeignet sind, kommt Iverson wie ein Gangster von der Straße daher.

Da sind die Tattoos, die Cornrows, protziger Schmuck, Bandanas und Baggy-Shorts. Da ist ein Rap-Album, dessen Veröffentlichung ihm von der Liga untersagt wird - die "blumige" Sprache Iversons, die er auch auf dem Court immer wieder demonstriert, will man nicht mit der Liga assoziiert wissen. Vor allem wegen ihm wird sogar ein Dresscode eingeführt, an den sich Spieler bei allen offiziellen Veranstaltungen zu halten haben.

Practice?!

Auch mit seinen Trainern gerät er regelmäßig aneinander. Zum einen, weil er den Ball immer haben will und mit keinem Co-Star gut auskommt. Vor allem aber, weil er im Spiel zwar alles gibt, von Training aber keine allzu hohe Meinung hat. Immer wieder kommt er zu spät oder gar nicht, seine Pressekonferenz zu diesem Thema ist längst legendär.

So steht sich Iverson letztendlich immer wieder ein Stück weit selbst im Weg bei dem Versuch, Champion zu werden. Individuell räumt er so ziemlich alles ab, was es abzuräumen gibt. Mit seinen Teams schafft er es jedoch abgesehen von 2001 nie weiter als in die zweite Playoffrunde.

Weder mit Jerry Stackhouse, Keith van Horn oder Larry Hughes kann er in jungen Jahren koexistieren, nach seinem Trade zu den Denver Nuggets trifft er in Carmelo Anthony auf einen ähnlich ball- und wurfverliebten Spieler, sodass das Team bisweilen wie eine unorganisierte Streetball-Mannschaft auftritt. Nachdem Iverson für einen echten Point Guard (Chauncey Billups) getradet wurde, schafften es die Nuggets direkt in die Conference Finals.

In seiner MVP-Saison besteht das Team um ihn herum aus Rollenspielern und harten Arbeitern. Grundlage für den Erfolg ist die Defensive um den amtierenden Defensive Player of the Year Dikembe Mutombo, vorne macht Iverson sein Ding, da Coach Larry Brown ihn gewähren lässt. Er ist der einzige im Kader, der sich seinen eigenen Wurf kreieren kann.

Unrühmlicher Abschied

Dass es mit dieser Truppe überhaupt für die Finals gereicht hat, ist schon eine unglaubliche Leistung. Das hat Iverson anderen Scoring-Maschinen wie George Gervin, Dominique Wilkins oder Alex English voraus.

Einen Sieg gegen die Lakers, das dominante Team dieser Jahre, schafften in diesen Playoffs weder Duncans Spurs, noch Webbers Kings oder die Blazers. Iversons Sixers schon.

Es sollte sein größter Erfolg bleiben. Nach der Zeit in Denver war er noch kurzfristig in Detroit, Memphis sowie abermals Philadelphia aktiv, auf Dauer konnte er sich mit einer reduzierten Rolle jedoch nicht anfreunden. Dabei hätte er ein grandioser Sixth Man für einen Contender werden können. Typisch Iverson: Er wollte gewinnen, aber eben nur auf seine Weise.

Und so kam es zu einem Abschied, der einem Spieler wie ihm in keinster Weise gerecht wurde. Eine Zeit lang spielte er noch in der Türkei, seit 2011 bestritt er keine professionelle Partie mehr.

Die Statistiken von Allen Iverson in der NBA

SaisonTeamPunkteFG%3P%AssistsSteals
1996/97Sixers23,541,834,17,52,1
1997/98Sixers22,046,129,86,22,2
1998/99Sixers26,841,229,14,62,3
1999/00Sixers28,442,134,14,72,1
2000/01Sixers31,142,032,04,62,5
2001/02Sixers31,439,829,15,52,8
2002/03Sixers27,641,427,75,52,7
2003/04Sixers26,438,728,66,82,4
2004/05Sixers30,742,430,87,92,4
2005/06Sixers33,044,732,37,41,9
2006/07Sixers/Nuggets26,344,231,57,21,9
2007/08Nuggets26,445,834,57,12,0
2008/09Nuggets/Pistons17,541,728,35,01,5
2009/10Pistons/Sixers13,843,036,04,00,7

Das Vermächtnis

Wie ist seine Karriere nun zu bewerten? Klar, er hat keine Meisterschaft gewonnen. Seine Wurfquoten waren alles andere als berauschend, er hatte nur Erfolg, wenn alles auf ihn ausgerichtet war. Sein Einfluss auf die Liga, den Basketball und seine Fans lässt sich jedoch nicht in Zahlen messen.

Er war ein Trendsetter, eine der wichtigsten Figuren in der Übergangsphase zwischen Jordan und der heutigen Generation von Stars. Ein Vorbild, obwohl er nie eins sein wollte. Er hatte seine Fehler, trotzdem waren seine Spiele immer etwas Besonderes.

Er hatte eine Körperkontrolle, die ihresgleichen suchte, sowie einen der tödlichsten Crossover der Liga-Geschichte. Nur wenige Scorer konnten sich mit ihm messen, nur sechs Spieler hatten einen höheren Karriereschnitt. In den Playoffs war nur Michael Jordan besser (Iverson machte 29,7 Punkte pro Spiel, Jordan 33,4). Larry Brown nannte ihn einst "vielleicht den großartigsten Athleten, den ich je gesehen habe."

Iverson sagte: "Ich will nicht Michael Jordan sein. Ich will nicht Magic sein. Ich will nicht Bird oder Isiah sein. Keiner von ihnen. Wenn meine Karriere vorbei ist, möchte ich in den Spiegel schauen und sagen können: Ich habe es auf meine Weise gemacht!" Titel hin oder her, das ist ihm gelungen.