Viel mehr als nur die Größte aller Zeiten

Von Maximilian Schmeckel
Natalja Moltschanowa galt als beste Apnoetaucherin der Welt
© getty

Natalja Moltschanowa galt als die größte Freitaucherin der Geschichte. Sie hat 41 Weltrekorde gebrochen und war 23-fache Weltmeisterin. Mit 53 Jahren ist sie tödlich verunglückt. Am 02. August 2015 tauchte sie vor der spanischen Mittelmeerinsel Formentera in ihrer Freizeit mit Freunden ab. Sie, die noch im Mai einen neuen Weltrekord aufgestellt hatte und in Ägypten 71 Meter tief getaucht war, kehrte aus ungeklärter Ursache nie an die Oberfläche zurück. Es bleibt eine besondere Frau, die am Ende vom Meer besiegt wurde, dem sie jahrelang immer neue Irrealitäten abgerungen hatte. Ein Nachruf.

Anzeige
Cookie-Einstellungen

In einem Kommentar unter einem Artikel in der New York Times zu Moltschanowas Tod schreibt User Cal T.: "Es tut mir leid, aber Freitauchen ist der dümmste 'Sport', den man machen kann. Der menschliche Körper ist nicht gemacht für solche Belastungen". Der User mag Recht haben mit seiner zweiten Behauptung, er hat die mit 53 Jahren verunglückte Russin aber auch in keinster Weise verstanden.

Wenn sie abtauchte, dann versank sie in einem kaum mit Worten zu beschreibenden meditativen Zustand des Glücks. "Freitauchen ist nicht nur Sport, es ist ein Weg, um zu verstehen, wer wir sind", sagte sie einmal treffend, "wenn ich abtauche, dann verstehe ich: Wir sind eins mit der Welt. An der Oberfläche gibt es so viele Gedanken und Informationen in einem. Manchmal muss man sich selbst resetten. Freitauchen hilft, das zu tun."

Österreichs Wunderteam der 30er: Demontiert von Hitlers Schergen

Die rasend schnelle Welt, in der es nur um Rekorde zu gehen scheint, darum, immer höher, weiter und schneller zu kommen, hat eine große Frau verloren. Und das ganz ohne nach dem Tod übliche Überhöhung. Paradoxerweise ging es Moltschanowa nie um Rekorde. Die brach sie nur für sich selbst.

Nur, um einen noch verwegeneren Tanz mit der kraftvollen Natur zu wagen. Während andere Taucher Atemtechniken in Pools trainieren, gab es für die 1962 in Ufa geborene Russin immer nur das Meer. "In Pools zu schwimmen, ist wie auf dem Laufband zu trainieren, anstatt in den Wäldern", sagte sie einmal.

Sieben von acht möglichen Weltrekorden

Das Apnoetauchen war für Moltschanowa immer die einzige Art des Tauchens, die für sie in Frage kam. Ein einziger Atemzug muss reichen, keine Geräte, keine Sauerstoffflaschen. Nur der Mensch, das Meer und der Sauerstoff, den er vor dem Abtauchen eingeatmet hat. Das, was unmöglich erscheint, ist das Ziel der professionellen Apnoetaucher. 71 Meter tief zu tauchen zum Beispiel. Oder 237 Meter weit. Oder fast zehn Minuten unter Wasser zu sein, ohne einmal aufzutauchen.

Moltschanowa hält sieben von acht möglichen Weltrekorden der Frauen. Sie ist eine Ikone, ein Phänomen, denn mit 51 über 70 Meter tief zu tauchen, ist eine Leistung, die das menschliche Vorstellungsvermögen übersteigt - eine Leistung, die viele mit Doping erklären. Betrug beim Apnoetauchen ist kaum erforscht, schwer nachweisbar. Bis zum heutigen Tage gibt es keinen Verdacht, dass Moltschanowa verbotene Substanzen genommen hat.

Es ist ein absolutes Faszinosum, Menschen unter Wasser verschwinden zu sehen und erst nach neun Minuten wieder auftauchen zu sehen, während man selbst in der Badewanne nach 40 Sekunden prustend nach Sauerstoff schnappt. Ein Faszinosum, das lebensgefährlich ist. Denn während die Herren Usain Bolt und Co. bei ihrer Weltrekordjagd ein natürliches Limit haben, verschwimmt dieses beim Tauchen.

Unter Wasser können die Meter oder Sekunden, die man sich zu viel zumutet, trotz der ärztlichen Betreuung Leben kosten. Der US-Amerikaner Nicolas Mevoli starb 2013, weil er trotz Problemen bei 68 Metern Tiefe weiter getaucht war - um einen Rekord zu jagen, der ihm kaum Ruhm, wenig Geld, sondern nur eine Randmeldung in den Sportteilen der Zeitungen dieser Welt eingebracht hätte.

Das Rätsel ihres Verschwindens

Genau in diesem Punkt unterschied sich Moltschanowa von vielen Rekordjägern. Sie kannte ihren Körper ganz genau, sie wusste, wann sie an ihr Limit stieß. Umso rätselhafter ist ihr Verschwinden. Beim Training mit Amateuren war sie in der Pause ihrer Mitstreiter selbstständig von 20 Metern Tiefe in Regionen um die 35 Meter abgetaucht - eine Distanz, die für sie eigentlich kein Problem darstellt, schließlich liegt ihre Bestleistung beim Doppelten.

Wurde sie ohnmächtig? Erlitt sie eine Kopfverletzung? Wurde sie Opfer einer Hai-Attacke? Obwohl die Besatzung der Jacht Pumpkin des russischen Unternehmers Pavel Tyo umgehend einen Notruf absetzte, Moltschanowa mit Unterwasserrobotern und Helikoptern gesucht wurde, blieb sie spurlos verschwunden. Am 04. August erklärte ihr Sohn Alexei, dass die Erwartung, seine Mutter noch lebend zu finden, gleich null sei. Am 09. August wurde die Suche vollständig eingestellt.

Das Echo auf ihren Tod war zwar in der Branche gewaltig, verhallte in der Welt aber nahezu ungehört. Mehr als eine Meldung bei ihrem Verschwinden und eine beim Einstellen der Suche gewährte man ihr nicht. Und das ist die wahre Tragödie, dass in einer Zeit von Social Media und einer nie dagewesenen Informationsflut der Tod einer besonderen Frau wie Natalja Moltschanowa ungehört bleibt und sie dann in Vergessenheit gerät.

Getriebene Weltenbummlerin

Ursprünglich Schwimmerin, gab sie ihre Karriere nach der Geburt ihres ersten Kindes auf. "Was bedeutet das Becken, wenn in meinem Haus ein kleines, zauberhaftes Wesen ist, das die ganze Welt verstehen will", begründete sie ihren Rücktritt. Erst im Alter von 40 Jahren begann sie ihr Hobby Apnoetauchen zum Beruf zu machen. 2003 stellte sie bei ihrer ersten russischen Meisterschaft auf Anhieb einen neuen nationalen und seitdem unfassbare 41 Weltrekorde auf.

Sie lehrte als Dozentin für Apnoetauchen, hielt Vorträge, schrieb Bücher, erforschte zusammen mit ihrem geliebten Sohn Alexei neue Wege der Anzugentwicklung. Sie veröffentliche einen Gedichtband, las die großen Philosophen. Sie bereiste durch ihren Beruf Tauchen die ganze Welt. Sie war eine Frau, die immer über den Horizont hinaus sehen wollte.

Sie war aber auch eine Getriebene, süchtig nach der Tiefe, nach der Stille, nach dem Eins-werden-mit-der-Welt. Und sie war einsam. Auf Fotos posiert sie mit breitem Lächeln und strahlenden Augen, abseits der Kamera hatte sie aber auch melancholische Momente. Für Männer in ihrem Leben war es schwer, dass das Tauchen ihr immer wichtiger war als die Beziehung. "Das Tauchen ist ein einsamer Sport, einer den du alleine machst und der dich von den Menschen isoliert", sagte sie 2007.

Es bleibt mehr als nur die Rekorde

"Die Welt hat ihren größten Freitaucher verloren", sagte Will Trubridge, selbst 15-maliger Weltrekordhalter. Der Tod von Natalja Moltschanowa macht klar, dass Rekorde nur kurze Illusionen sind. Illusionen, dass der Mensch die Natur kontrollieren kann. Er kann es nicht, er wird es nie können.

"Sie war ein Superstar und wir alle dachten, nichts könne sie verletzen", sage AIDA-Präsident Kimmo Lahtinen der New York Times. "Wir spielen mit dem Meer, und wir wissen immer, wer im Zweifel der Stärkere ist."

Als Alexei Moltschanowa mit 28 die Gewissheit hatte, seine Mutter überlebt zu haben, blieb ein winziger Trost. "Es sieht so aus, als würde sie im Meer bleiben. Ich glaube, das hätte ihr gefallen", sagte er der NYT. Denn nur darum ging es ihr immer, um die Verbindung zu etwas so Unerklärlichem und Bedrohlichem wie dem Meer.

Und das ist es, was von Natalja Moltschanowa bleiben sollte, und nicht ihre Rekordzeiten, die bloße Zahlen auf Papier sind und sie zur Größten aller Zeiten gemacht haben - die Erinnerung an eine Frau, die vorgelebt hat, was wir alle viel öfter tun sollten: inne halten und einfach dankbar sein für den Moment, der das Leben lebenswert macht.