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Kinderarbeit, Flucht nach Europa, obdachlos: Francis Ngannous irrer Weg in die UFC

Von Max Schrader
Francis Ngannou will sich gegen Stipe Miocic zum Champion küren.
© getty

Francis Ngannou wird bei UFC 260 in der Nacht von Samstag auf Sonntag (4 Uhr live auf DAZN und im SPOX-Liveticker) gegen Schwergewichtschampion Stipe Miocic antreten. Lange Zeit hätte Ngannous Traum vom Ruhm nicht weiter entfernt sein können, denn der Kameruner war obdachlos und hasste sein Leben.

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1996 in Batie, einem kleinen Dorf in Kamerun. Ein zehnjähriger Junge namens Francis Ngannou erlebt seinen ersten Tag auf der Arbeit. In einer Sandmine wird er gebraucht. Vier Jahre zuvor hatten sich seine Eltern getrennt und ihn zu seiner Oma geschickt. Dort konnte er jedoch nicht mehr Kind sein, sondern musste helfen, wo es nur ging.

"Wir mussten arbeiten, um zu Hause etwas beizutragen. Wir mussten Öl und Essen kaufen, auch meine Schule musste finanziert werden. Wir hatten keine andere Wahl", blickte Ngannou im Podcast mit Joe Rogan zurück. "Ab diesem Tag ist die Kindheit vorbei."

Ngannou war mit seinem Schicksal nicht alleine. Viele Kinder mussten früh arbeiten gehen, um die Schule finanzieren zu können. Das harte Arbeiten in so jungen Jahren ging nicht spurlos an ihm vorbei: "Ich mochte mein Leben nicht und wollte nicht mehr. Ich hatte das Gefühl, meine Kindheit zu verpassen."

Für sein Schuften gab es nur selten das mickrige Gehalt, das ihm eigentlich zugestanden hätte. Es wurde aber noch schlimmer, wie er erzählte: "Manche bekamen ihr Geld auch erst nach Monaten. Für diejenigen war es dann aber zu spät, da sie bereits aus der Schule geflogen waren. Sie konnten ja die Gebühren nicht bezahlen."

Für ihn hatte das zur Folge, dass in bestimmen Bereichen noch größere Einsparungen getroffen werden mussten. Und das auf seine Kosten. "Wenn die Schule anfing, ging ich zwar in die Schule, hatte aber meistens gar keinen Stift, um Notizen zu machen und sogar nicht mal einen Block, um darauf schreiben zu können. Manchmal hatte ich sogar keine Schuhe oder Kleidung, weil meine Uniform zerrissen war. Ich war so frustriert, vor allem, wenn ich die Kinder gesehen habe, denen es besser ging", erinnerte er sich. Diese Zeit habe ihn einiges gelehrt.

Francis Ngannou als Jugendlicher in Kamerun.
© Instagram
Francis Ngannou als Jugendlicher in Kamerun.

Francis Ngannou bereits früh eine Maschine: "Er machte die Arbeit für zwei oder drei Arbeiter"

Durch seine Arbeit hatte Ngannou bereits früh einen massiven Körperbau. "Er machte die Arbeit für zwei oder drei Arbeiter", sagte ein ehemaliger Arbeitskollege dem MMA-Blog Jokermag. Ngannou war gefragt in seinem Dorf, mehrere Gangs wollten ihn für sich gewinnen. Anders als viele konnte er widerstehen. Die Zweifel in ihm kamen aber hoch. "Ich war umgeben von nichts als Steinen, Lastwagen und hungernden Menschen", schrieb Ngannou im Players Tribune.

Da er merkte, dass sich in seinem Dorf nichts ändern würde, zog er nach Douala, der größten Stadt des Landes. Dort bekam er erstmals die Möglichkeit zu boxen. Finanzieren konnte er sich das Training durch eine Arbeit in der Bekleidungsindustrie, bei der er schwere Säcke hievte. Mit der verbesserten Situation war er soweit zu frieden, nur mit dem Boxen wollte es nicht so recht klappen, denn er konnte seine Gegner einfach nicht treffen. Da er immer nur eins auf die Mütze bekam, bemerkte er, dass sich etwas grundlegend ändern musste. Also ging er in die Offensive. Sogar so aggressiv, dass Ringrichter die Kämpfe abbrechen mussten. Ein Kampfstil, der ihn noch heute prägt.

Ngannou plante, Kamerun in Richtung Frankreich zu verlassen, weil er glaubte, nur dort könne er als Kämpfer groß herauskommen. Die Leute um ihn herum lachten ihn für seine Vision nur aus. Europa sei kein Himmel, hieß es immer. "Ich sagte ihnen: 'Na und, mache ich halt meinen eigenen Himmel'", entgegnete ihnen Ngannou.

Seinen Plan zog er in der Folge durch. 6.591 Kilometer ging es für ihn von Douala nach Paris. Würde man die Strecke mit dem Auto zurücklegen, würde man 94 Stunden und 31 Minuten benötigen. Über seine Flucht reden will er nicht. Überliefert ist nur, dass er zwei Monate in einem spanischen Gefängnis verbrachte, da er die Grenze illegal überquert hatte. Außerdem weiß man, dass er fast ein Jahr lang versuchte, aus Marokko nach Europa zu gelangen.

Francis Ngannous Anfänge in Paris: arm und obdachlos

Schließlich angekommen in Paris hatte er kein Geld, keine Freunde und keinen Platz zum Schlafen: "Ich hatte keine 100 Euro, also musste ich auf der Straße schlafen." An seinem ersten Tag in der Stadt der Liebe machte er drei Dinge: Er lernte, wo es essen gab, wo er schlafen konnte und wo er trainieren konnte. Ngannou ging von Fitnessstudio zu Fitnessstudio und fragte, ob er dort trainieren könne - kostenlos versteht sich. Schnell wurde er dafür ausgelacht. Einzig seine Statur war von Vorteil. Sobald er eine Kampfsporthalle betrat, zog er automatisch die Blicke auf sich. Nach unzähligen Versuchen fand sich auch ein Trainer, der ihn betreuen wollte.

Er bekam von ihm 50 Euro, wovon er sich ein Shirt, eine Hose, ein Handtuch und einen Rucksack kaufen sollte. "Ich hatte keine Boxhandschuhe, keinen Mundschutz, nichts, aber das war mir egal", sagte er einst dem Bleacher Report. In den kommenden Wochen stellte sich heraus, dass er zwar kein schlechter Boxer war, es für die große Karriere aber wohl nicht reichen würde. So wurde er zum MMA gebracht.

"Sie haben es mir erklärt, und ich habe nur gelacht. Was ist das? Ich werde nicht zum Wrestling gehen und all diesen Mist. Es war sehr seltsam für mich und sehr merkwürdig. Ich sagte: 'Ich werde das nicht tun'", erinnerte sich er an diese Zeit zurück. Letztendlich gab er doch nach und fing an, die für ihn neue Sportart zu lernen.

Das größte Problem für Ngannou war allerdings, dass das Gym nicht sieben Tage die Woche offen, sondern an den Wochenenden und Feiertagen geschlossen hatte. An diesen Tagen konnte Ngannou nirgendwo anders hingehen als in die verschiedenen Obdachlosenunterkünfte von Paris. Nach langem Rumfragen fand er schließlich ein Gym, dass immer geöffnet hatte und wo er mit Fernand Lopez zusammentraf. Der Trainer war ebenfalls in Kamerun aufgewachsen. Nachdem er sich Ngannous faszinierende Geschichte angehört hatte, gab Lopez ihm eine Tasche voller Ausrüstung und bot ihm an, ihn im Fitnessstudio schlafen zu lassen.

Das Duo arbeitete fast Tag und Nacht an Ngannous MMA-Techniken. Nach vielen Kämpfen in Pariser MMA-Ligen schaffte Ngannou schließlich 2015 den Sprung in die UFC und startete dort voll durch. Nach fünf Siegen in fünf Kämpfen erhielt er seinen ersten Titelkampf - gegen einen gewissen Stipe Miocic. Da er diesen Kampf und in der Folge noch gegen Derrick Lewis verlor, dachten viele Experten, dass die Karriere von Ngannou bald vorbei sein würde.

"Ich aber habe nicht eine Sekunde lang gedacht, dass Ngannous UFC-Karriere kurz vor dem Ende steht", erklärt Chad Dundas gegenüber SPOX. Der Bestsellerautor begleitete 2017 für den Bleacher Report den Kameruner vor dem Kampf gegen Miocic. "Ngannou war nach der Niederlage immer noch extrem jung für ein UFC-Schwergewicht. Er ist so talentiert, dass ich wusste, dass die Promoter ihn weiterhin in hochkarätige Duelle bringen würden. Die Tatsache, dass er nach den beiden Niederlagen vier Siege in Folge eingefahren hat, überrascht mich daher nicht im Geringsten."

Francis Ngannou: So viel Kraft wie ein kleiner Familienwagen

Die Siege gelangen ihm gegen Curtis Blaydes, Cain Velasquez, Junior dos Santos und im Mai 2020 gegen Jairzinho Rozenstruik. In all den vier Kämpfen stand Ngannou lediglich 142 Sekunden im Octagon und siegte immer durch einen K.o. Doch nicht nur das war außerordentlich. Ngannou hält seit 2017 den Weltrekord für den härtesten Schlag. "Sein Schlag ist stärker als ein 12 Pfund schwerer Vorschlaghammer, der mit voller Wucht von oben geschwungen wird", verriet UFC-Präsident Dana White. Umgerechnet sind das somit fast 93 PS, also so viel wie ein kleiner Familienwagen.

Da ja so etwas nicht genug ist, setzte Ngannou im letzten Jahr einen kleinen Internet-Trend. Er lud sich immer wieder Boxer ein, die 30 Sekunden lang mit voller Wucht auf sein Sixpack hämmerten. "Komm schon. Ist das alles, was Du hast? Komm schon", hieß es oft. Unter anderem nahmen UFC-Legende Henry Cejudo und Box-Star Ryan Garcia an der Challenge teil und wunderten sich, weshalb er überhaupt noch stehen konnte. Somit blieb es eine Internet-Challenge für sich.

Vor allem für UFC 260 könnte dies für Ngannou den entscheidenden Vorteil bringen. Miocic hatte Cormier bei UFC 241 immer wieder mit Körpertreffern in Bedrängnis gebracht. Auf diese Taktik wird er dieses Mal nicht setzen können. "Im ersten Kampf gegen Stipe verlor er auf eine Art und Weise, die sicherlich einige der Schwachpunkte in Ngannous MMA-Stil aufzeigte, nämlich sein defensives Ringen und seine Kardio", sagt Dundas. Damals war Ngannou in den späten Runden ausgepowert und verlor somit nach Entscheidung. Im Vorfeld zu UFC 260 gab er sich kämpferisch: "Ich habe daran hart gearbeitet. Ich werde nicht nach 25 Minuten müde werden."

Nun erhält Ngannou seine zweite Chance auf einen Titel und somit auf die Erfüllung seines Lebenstraums, wie er im Vorfeld noch einmal verdeutlichte: "UFC-Champion zu werden, wäre mein eigener Weg, um nicht mehr meiner Kindheit hinterhertrauern zu müssen."

UFC 260: Die Fight Card

GewichtsklasseDuell
Main CardSchwergewichtStipe Miocic (C) - Francis Ngannou
WeltergewichtTyron Woodley - Vicente Luque
BantamgewichtSean O'Malley - Thomas Almeida
Fliegengewicht (F)Gillian Robertson - Miranda Maverick
LeichtgewichtJamie Mullarkey - Khama Worthy
PrelimsHalbschwergewichtAlonzo Menifield - Fabio Cherant
WeltergewichtJared Gordon - Abubakar Nurmagomedov
HalbschwergewichtModestas Bukauskas - Michal Olekiejczuk
FedergewichtShane Young - Omar Morales
Early PrelimsMittelgewichtMarc-Andre Barriault - Abu Azaitar
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